Einleitung
Das Opfer der Gewaltherrschaft - so lautet der Titel des 1983 eingeweihten Denkmals der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen in Österreich. Errichtet wurde es auf Initiative des SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Liedtke, dem bei einer Besichtigung der Gedenkstätte ein prekäres Defizit aufgefallen war: Unter den dort zum Gedenken an die jeweiligen Opfer aufgestellten nationalen Denkmälern befand sich eines der DDR, ein bundesdeutsches aber fehlte.
Dieses Beispiel verweist auf einen für den öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Ost- und Westdeutschland wesentlichen Aspekt: Auch dieser Bereich war von der Konkurrenzsituation der beiden deutschen Staaten geprägt und damit von gegenseitigen Reaktionen und Bezogenheiten. Geradezu versinnbildlicht wurde dieser Zusammenhang durch die Wahl des Standorts. So wurde das Denkmal der Bundesrepublik links des 1975 errichteten jüdischen aufgestellt, gewissermaßen in spiegelbildlicher Korrespondenz zum rechts davon stehenden Monument der DDR.
Deutlich wird damit, wie wichtig eine integrative Betrachtung beider Staaten ist, auch und gerade im Blick auf den Umgang mit dem gemeinsamen Erbe der NS-Vergangenheit. Untersuchungen zu dieser Thematik, die eine gesamtdeutsche Perspektive einnehmen, akzentuieren häufig die Unterschiede von "zweierlei Bewältigung" der "geteilten Vergangenheit".
Gemeinsamkeiten ergeben sich zunächst hinsichtlich der Funktionen der Geschichtsbilder, die generell der "sozialen Binnenintegration, der kulturellen Identitätsbildung und der politisch-symbolischen Herrschaftslegitimierung"
Antifaschistische Helden und dämonischer (Ver-)Führer
Durch eine als Erlösungs- und Siegergeschichte formulierte Widerstandserzählung verwahrte sich die DDR gegen jegliche Schuld am Nationalsozialismus. Im parteioffiziellen Geschichtsbild wurde die Kriegsniederlage in einen Sieg umgedeutet, den der antifaschistische Widerstand an der Seite der "ruhmreichen Roten Armee" über das faschistische Regime errungen habe. Gleichsam die Krönung des opfervoll und heroisch geführten Befreiungskampfes und damit eine Art Erlösung bildete die ostdeutsche Staatsgründung. Mit dem Gründungsmythos des Antifaschismus konnte sich die DDR als neuer Staat ohne Kontinuität zum "Dritten Reich" und damit - in Abgrenzung zur Bundesrepublik - als "das bessere Deutschland" definieren.
Derart selektiv konnte die Bundesrepublik das nationalsozialistische Erbe nicht antreten.
Auch das Geschichtsbild der DDR reduzierte und externalisierte die Verantwortung, wenn auch ideologisch bedingt mit anderer Akzentuierung. Der von Alexander Abusch 1946 konstatierte "Irrweg einer Nation" wandelte sich bald in einen "Irrweg der herrschenden Klassen"
Die Frage nach der Verstrickung der breiten Bevölkerung in das NS-System wurde ausgeklammert, zumal deren Mitwirkung beim "sozialistischen Aufbau" im Osten bzw. bei Demokratie und "Wirtschaftswunder" im Westen notwendig war. So äußerte Walter Ulbricht 1948: "Wir müssen an die ganze Masse der Werktätigen appellieren, auch an die nominellen Nazis, an die Masse der technischen Intelligenz, die Nazis waren. Wir werden ihnen offen sagen: Wir wissen, dass Ihr Nazis ward [sic!], wir werden aber nicht weiter darüber sprechen; es kommt auf Euch an, ehrlich mit uns mitzuarbeiten."
Zugespitzt formuliert maßen Ost und West der Loyalität gegenüber der neuen politischen Ordnung höhere Bedeutung zu als der deutlichen Absage an den Nationalsozialismus und machten die Bevölkerung quasi zu neuen "Mitläufern". Besonders explizit wird das für die DDR in einer geradezu erpresserischen Äußerung Wilhelm Zaissers, des damaligen sächsischen Innenministers und späteren ersten Ministers für Staatssicherheit, von 1949: "Wir verlangen nicht den negativen Nachweis des Nichtbelastetseins, des Neutralseins, sondern den positiven Nachweis des Mitmachens (im neuen System)."
Opferkonkurrenz
Die Tabuisierung individueller Verantwortung begünstigte die Ausprägung von Opfermentalitäten, die eine moralische Entlastung von der Vergangenheit ermöglichten. Statt aus der historisch gebotenen Täterperspektive erfolgte die Einordnung des Nationalsozialismus in die Geschichtsbilder in beiden Staaten in einer Art Selbstviktimisierung, um die Erfahrungen und Befindlichkeiten weiter Teile der Bevölkerung in die entschiedene Abkehr vom Nationalsozialismus integrieren zu können und so ein Identifikationsangebot zu schaffen.
Anstelle der Opfer der Deutschen rückten die Deutschen als Opfer in den Mittelpunkt der Wahrnehmung im Westen. Damit wurde "(e)iner der machtvollsten integrativen Mythen der fünfziger Jahre"
Gewissermaßen wurden die "Märtyrer des 20. Juli" das westdeutsche Pendant zu den antifaschistischen Helden der DDR. Wenn diese auch für das Geschichtsbild der Bundesrepublik vergleichsweise geringere Bedeutung hatten als der kommunistische Widerstand für das ostdeutsche, wurde von staatlicher Seite dennoch ein "politische(r) Kult um den 20.Juli"
Aufgrund der Narration des Befreiungskampfes gegen den Nationalsozialismus hat die Viktimisierung der Bevölkerung in der DDR eine weniger passive Qualität als die westdeutsche. Dennoch lässt sich auch hier eine Hierarchisierung der "Opfer des Faschismus" feststellen, in der die idealisierten antifaschistischen Widerstandskämpfer - pars pro toto Ernst Thälmann als heldenhafte Ikone - an erster Stelle standen. Wesentliche Elemente der nationalsozialistischen Realität wie die rassistische und antisemitische Dimension blieben weitgehend unberücksichtigt.
Die Selbstviktimisierung ließ die Grenzen zwischen Tätern und Opfern in beiden deutschen Staaten verschwimmen, was eine Relativierung bzw. Ausblendung des verbrecherischen Charakters des Nationalsozialismus, des Massenkonsenses mit ihm sowie ganzer Opfergruppen zur Folge hatte. Im Blick auf die selektive Wahrnehmung der NS-Opfer gibt es wiederum wechselseitige Entsprechungen: Während die jüdischen und andere nicht-kommunistische Verfolgte in Ostdeutschland zu "Opfern zweiter Klasse" degradiert wurden, wurden in Westdeutschland die sozialistischen und kommunistischen Verfolgten lange marginalisiert. Der Holocaust, heute essentieller Bestandteil der nationalen Erinnerung an die NS-Zeit und auch eines sich entwickelnden europäischen oder globalen Gedächtnisses, bildete zunächst eine Leerstelle in den Geschichtsbildern vom Nationalsozialismus; ebenso gilt dies für andere Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle, "Euthanasie"-Opfer, Zeugen Jehovas, "Asoziale", Kriminelle oder Zwangsarbeiter. Bestimmte Opfergruppen wurden somit nicht nur Opfer der NS-Verfolgung, sondern in gewisser Weise auch der Geschichtskonstruktionen nach 1945.
Angesichts der in jüngster Zeit verstärkten Thematisierung der Deutschen als Opfer kann der Eindruck kreisförmiger Bewegungen von Geschichtsperzeptionen entstehen.
Ideologien
Die Formulierung der Geschichtsbilder in Ost- und Westdeutschland erfolgte von dem identischen Ausgangspunkt als Nachfolgestaaten des "Dritten Reiches". Die Rahmenbedingungen wiesen allerdings deutliche Unterschiede auf, vor allem im Blick auf die politischen Vorzeichen. So wurden verschiedene Wege eingeschlagen, wobei dem ideologischen Faktor und damit der spezifischen Wahrnehmung der Gegenwart zentrale Bedeutung zukam. Während die Deutung des Nationalsozialismus in der DDR im Rahmen des Antifaschismus erfolgte, lag der Interpretation in der Bundesrepublik der Antitotalitarismus zugrunde.
Mit dem "verordneten Antifaschismus" (Ralph Giordano) wurde Hitler "gleichsam zum Westdeutschen"
Der ebenfalls "verordnete" Antitotalitarismus in der Bundesrepublik - die NS-Zeit war in den Schulen z.B. im Rahmen der Totalitarismustheorie zu unterrichten
Der die Formulierung der Geschichtsbilder begleitende Ost-West-Konflikt hatte eine eingeschränkte, der Systemlogik entsprechende Perspektive beiderseits des Eisernen Vorhangs zur Folge. Während Westdeutschland die Verstrickung von Wirtschaftsunternehmen sowie den kommunistischen Widerstand kaum berücksichtigte, führte die Betonung und Überhöhung eben dieser Elemente im Osten auch dort zu einer verzerrten Sichtweise. Beide Staaten vereinnahmten in ihren Interpretationsmustern das "Dritte Reich", um sich voneinander abzugrenzen, indem sie die Fortdauer des Faschismus respektive der totalitären Strukturen im jeweils anderen Staat hervorhoben. Die Teilung Deutschlands schien so eine Analogie in der Teilung in ein "Land der Schuldigen" und eines der "Unschuldigen" aufzuweisen. Die Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit im Systemkonflikt machte diese zum Terrain einer "Stellvertreter-Konfrontation" im Kalten Krieg.
Transformationen
Das westdeutsche Geschichtsbild entwickelte sich weit dynamischer als das ostdeutsche, was seine Ursachen in der pluralistischen Gesellschaft der Bundesrepublik hatte, aber auch in der aufgrund von Legitimationsdefiziten bestehenden Fixierung der DDR auf den Antifaschismus-Mythos und den negativen Referenzpunkt Westdeutschland. Während das Bild in der DDR weitgehend statisch blieb, durchlief es in der Bundesrepublik einen Transformationsprozess von der Externalisierung der Schuldfrage in der frühen Nachkriegszeit zur allmählichen Internalisierung der Erinnerung an den Holocaust, seit den 1980er Jahren als zentraler historischer Bezugspunkt des nationalen Gedächtnisses. Und doch lassen sich Parallelen festhalten. So beachteten beide Staaten seit den 1960er Jahren zunehmend Bereiche der deutschen Geschichte, die sie zuvor dem anderen Staat überlassen hatten,
Besonders in den 1980er Jahren machten sich in der DDR Modifizierungen in der Wahrnehmung der NS-Zeit bemerkbar, vor allem mit Blick auf die jüdischen Opfer. Neben der allgemeinen Öffnung des Geschichtsbildes im Rahmen des "Erbe und Tradition"-Konzepts und taktischen Erwägungen, die auf eine Intensivierung der Beziehungen zu den USA zielten, spielte dabei auch die zunehmende Schwächung der SED-Herrschaft und der damit einhergehende Kontrollverlust über das Geschichtsbild eine Rolle.
Fazit
Bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit und direkten Entgegengesetztheit der ost- und westdeutschen Geschichtsbilder und ihres Entstehungskontextes ist dennoch ihre Zusammengehörigkeit zu konstatieren, und zwar in dreifacher Hinsicht: insofern sie erstens die NS-Vergangenheit in einer Rhetorik der Abgrenzung gegen den anderen Staat instrumentalisierten, dabei zweitens aufeinander reagierten und wechselseitig bzw. spiegelbildlich aufeinander bezogen waren sowie drittens versuchten, das Narrativ des jeweils anderen zu unterminieren.
Diese Tendenzen hielten sich bis in die 1980er Jahre, insbesondere auf Seiten der DDR. In deren Endphase wurde die konfrontative Bezogenheit abgelöst von einer Annäherung der Geschichtsbilder. Es fand eine Angleichung bestimmter Perzeptionen an die - sich im Laufe der Zeit stark verändernde - bundesrepublikanische Perspektive statt, so dass von einem Transfer der Erinnerung gesprochen werden kann.
Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik haben sich in der offiziösen Erinnerungskultur die Grundlinien des westdeutschen Geschichtsbilds vom Nationalsozialismus durchgesetzt. Die Situation bleibt dennoch ambivalent. Denn das Geschichtsbild der DDR ist nicht verschwunden, vielmehr bestehen nicht wenige Elemente in der Gedenkkultur in Ostdeutschland fort. Das wiedervereinigte Deutschland ist Erbe beider Geschichtsbilder - schließlich stehen auch heute noch zwei deutsche Denkmäler in Mauthausen.