Einleitung
Eine deutsche "Erfolgsgeschichte" ohne die DDR? Auf den ersten Blick scheint es ohne Weiteres möglich zu sein, eine Geschichte der alten Bundesrepublik zu schreiben, in der die DDR nicht vorkommt. Zumindest gilt dies für die Zeit vom Ende der 1970er Jahre bis zum Umbruch 1989/90. In der alten Bundesrepublik hatte sich eine Anschauung durchgesetzt, die den eigenen Staat nicht mehrals Provisorium betrachtete, sondern als Dauerlösung. Die Bundesrepublik hatte ihren Ort in der Geschichte gefunden und ihre Identität ausgebildet. Sie begriff sich als souveräner Teilstaat mit eigener Staatsräson, eigenen Traditionen und einer eigenen westdeutschen Geschichte. Letztere, der im Übrigen auch eine sehr eigene Form der "Vergangenheitsbewältigung" entsprach,
Überdies verfügte die alte Bundesrepublik über eine zwar teilstaatlich strukturierte, dafür aber zunehmend griffige "Meistererzählung". Einprägsam von der "Erfolgsgeschichte" des westdeutschen Teilstaates handelnd, stand sie im Mai 1989 im Mittelpunkt des öffentlichen Gedächtnisses und wirkte über die Zäsur 1989/90 fort. Das Narrativ der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte integriert auch gegensätzliche Traditionsbestände und widersprüchliche Potenziale mehr oder minder problemlos. Selbst schwerste historische Konflikte, an denen es der Geschichte der alten Bundesrepublik keineswegs mangelte, verwandeln sich im Rückblick in eine harmonische Gesamtschau.
Auch alltagsgeschichtlich hatte sich der größte Teil der westdeutschen Bevölkerung auf Dauer im Provisorium Bundesrepublik eingerichtet. Ende der 1980er Jahre dominierte der Optimismus, den die Pluralisierung der massenkulturellen Möglichkeiten bewirkt hatte; vor allem in den Entfaltungsbereichen des Individuums, in Freizeit und Alltag, waren "unsere Wünsche und Hoffnungen fast gegen alle Erwartungen übertroffen" worden.
Eine Ausnahme waren die deutsch-deutschen Beziehungen; als wesentliches Element der westdeutschen (Außen-)Politik kam ihnen zumindest phasenweise eine gewisse Bedeutung zu. Insgesamt allerdings blieb auch die Deutschlandpolitik ein Feld für Spezialisten, mit dem überdies wenig politisches Prestige zu gewinnen war. Bedeutsam wurde es immer dann, wenn es mit Sensationen lockte und parteitaktischen Vorteil versprach. Wenn es zum Beispiel zwei ostdeutschen Familien 1979 gelang, mit einem selbst gebastelten Heißluftballon bei Naila über die innerdeutsche Grenze zu flüchten, so war das Interesse nicht nur der westdeutschen, sondern der weltweiten Öffentlichkeit gewiss. Und wenn 1983 ein bundesdeutscher Geschäftsmann am Kontrollpunkt Drewitz an Herzversagen starb, so gab dies einem bayerischen Ministerpräsidenten die Gelegenheit, medienwirksam einen "Mord" zu beklagen - was denselben Ministerpräsidenten freilich nicht daran hinderte, nur wenig später Erich Honecker in der DDR zu besuchen, sich im Glanz des erfolgreichen Deutschlandpolitikers zu sonnen und einen "Milliardenkredit" einzufädeln.
Diese Art der Deutschlandpolitik blieb weitestgehend gouvernemental und durch diskrete Verhandlungen von Regierung zu Regierung bestimmt.
Herausforderungen für die Geschichtswissenschaft
Was bedeutet das für die Geschichtswissenschaft? Sie sollte dreierlei nicht tun. Erstens muss sie der Versuchung widerstehen, der Geschichte der Bundesrepublik (alt) ex post einen wiedervereinigungsgeschichtlichen Subtext einzuschreiben. So sehr das Datum 1989/90 dazu verlockt, der Geschichte einen teleologischen Verlauf zu unterstellen, so wenig hat es einen solchen Subtext gegeben. Die Wiedervereinigung kam überraschend, und sie wurde in vieler Hinsicht quer zur bundesdeutschen "Identität" auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Zweitens muss die Geschichtsschreibung der Versuchung widerstehen, die Meistererzählung von der "Erfolgsgeschichte" fortzuschreiben. Allzu schnell würde die deutsche Geschichte nach 1945 zu einer "Whig interpretation of history" mutieren, welche ihre Kriterien, Problemstellungen und Auswahlmechanismen der Perspektive des Jahres 1990 unterordnete. Eine solche Verkürzung trüge bald mythologischen Charakter. Die DDR würde historiographisch als ein von Beginn an dem Untergang geweihter Staat betrachtet und damit, im Sinne einer negativen Teleologie, aus der gemeinsamen Nachkriegsgeschichte ausgemeindet. Aufgabe der Geschichtswissenschaft sollte es sein, die bundesrepublikanische Meistererzählung ebenso wie die negative Teleologie der DDR zu dekonstruieren, ihre Elemente zu sichten und in den historischen Kontext zu stellen.
Eine dritte Versuchung, der die deutsche Zeitgeschichte widerstehen sollte, liegt in dem Anspruch selbst begründet, eine gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte zu entfalten. Denn eine solche Geschichte ist nicht ohne Weiteres verfügbar. Bei nüchterner historischer Betrachtung stehen ihr zu viele sperrige Elemente sowie widersprüchliche und inkompatible Entwicklungen entgegen. Leicht geriete daher der Anspruch auf Gemeinsamkeit in die Gefahr, ein Übermaß an Einheitlichkeit zu konstruieren und die deutsche Geschichte nach 1945 einer neuen sinnstiftenden Meta- oder "Meistererzählung" unterzuordnen.
In dem Maße aber, in dem die Geschichtswissenschaft den teleologischen Verlockungen des Jahres 1989/90 ebenso wie dem Postulat der Einheitlichkeit widersteht, wird sie offen für neue Gegenstände aus eigenem Recht. Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Geschichte der DDR einer "Verinselung" anheim fällt, und zugleich kann sie von den transnationalen Chancen einer "Europäisierung" der Zeitgeschichte profitieren.
Tragfähig scheint das von Christoph Kleßmann vorgeschlagene Konzept einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" zu sein, zumindest solange, wie die dezidiert trennenden und inkommensurablen Elemente im deutsch-deutschen Verhältnis nicht unter den Tisch fallen.
Strukturwandel, Arbeitsgesellschaft und Sozialpolitik
Weltwirtschaftlich vollzog sich im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre der forcierte Strukturwandel vom Industriezeitalter in das Zeitalter der Neuen Technologien und der Dienstleistungsgesellschaft. Die Wucht dieses Wandels traf beide deutschen Staaten; aber je länger desto mehr zeigte sich, dass die Zentralverwaltungswirtschaften des Ostblocks diesen Wandel nicht zu bewältigen vermochten. Die Sowjetunion und ihr Imperium waren zwar in der Lage, den schwerindustriellen Zyklus mitzumachen und auch im Bereich der Atomenergie den Anschluss an den Westen zu halten. Mit dem weltweiten Krisenzyklus und dem Niedergang der Schwerindustrie verschärften sich die systemimmanenten Schwächen der Planwirtschaft auf dramatische Weise. Industrieproduktion, Arbeitsproduktivität und Einkommen gerieten in eine lähmende Wachstumshemmung. Innovative Impulse fehlten. Gegenüber dem Westen, der den Übergang zur "postindustriellen" Gesellschaft forcierte, verlor der Ostblock definitiv den Anschluss.
Eine Strukturgeschichte der internationalen Beziehungen wird hier wesentliche Antriebskräfte für das Ende des Kalten Krieges erblicken. Zugleich griffe es freilich zu kurz, im Sinne der oben zurückgewiesenen Teleologie einfach die ökonomische Überlegenheit des Westens zu konstatieren. Tatsächlich zog der Strukturwandel auch hier ausgesprochen schmerzhafte Anpassungsprozesse nach sich, die im Falle der deutschen Zeitgeschichte die vergleichende Perspektive erheischen.
Schließlich sollte die auffällige Intensität diskutiert werden, mit der beide Staaten nach Legitimation durch Sozialpolitik strebten. Zu fragen wäre in diesem Kontext nach den gemeinsamen Wurzeln deutscher Sozialstaatlichkeit, aus denen nach 1945 zwar systemspezifisch höchst differente, faktisch aber parallele Politiken und Legitimationsmuster erwuchsen. Das Problem, inwieweit hier in beiden deutschen Staaten ältere "Pfadabhängigkeiten" zur Geltung kamen, verweist auch auf die Geschichte des wiedervereinigten Deutschland, in dem ja die sozialstaatliche Legitimität im Hinblick auf die krisenhafte Integration der neuen Bundesländer eine entscheidende Rolle spielt.
Individualisierung und Wertewandel
Auch der Basisprozess der gesellschaftlichen Individualisierung sollte in eine gesamtdeutsche Perspektive gestellt werden. In einem weiteren Sinne bezieht sich dieser Sammelbegriff auf eine grundlegende Bewegungsrichtung der Moderne, evoziert also sehr allgemeine Fragen der Verfasstheit moderner Massengesellschaften. Im konkreteren Sinne fokussiert der Begriff jenes Bündel von Veränderungen, die seit den 1970er Jahren einen fundamentalen soziokulturellen Wandel der westlichen Gesellschaften bewirkten. Zunehmend losgelöst aus traditionellen Bindungen und Rollen, sah sich der Einzelne herausgefordert, seinen eigenen Lebenslauf zu konstruieren. Lebensentscheidungen mussten außerhalb traditionell normierter Sozialbezüge bewusst "geplant" werden. Wenn diese Situation auch neue Freiheiten versprach, so generierte sie doch zugleich neue Risiken, zumal, wenn Individualisierung auch die Freisetzung aus bekannten Versorgungssicherheiten bedeutete.
Zwar steht für die DDR demoskopisches und sozialwissenschaftliches Datenmaterial nicht in dem Maße zur Verfügung wie für die Bundesrepublik; aber auch wenn die Quellenlage zum Teil unterschiedliche methodische Herangehensweisen erfordert, dürfte eine vergleichende Betrachtungsweise des Erfahrungsraumes Individualisierung und Wertewandel erheblichen Gewinn versprechen. Ins Zentrum gerückt werden insbesondere Probleme der Geschlechtergeschichte, der Familienstrukturen sowie des generativen Verhaltens. So beschränkte sich die so genannte "zweite demographische Transition", das heißt der säkulare Geburtenrückgang seit den 1970er Jahren, keineswegs auf die westlichen Gesellschaften.
Massenkultur und Konsumgesellschaft
Kein Zweifel kann daran bestehen, dass das westliche Freiheitsversprechen, basierend auf Individualisierung, Wertewandel und Massenkultur, tief in die DDR hineinwirkte. So wurde das "Westfernsehen" zu einer Art gesamtdeutschem Fernsehen und trug enorm zur innerdeutschen "Nationsbildung" bei. Mit dem Fernsehen ragte das westliche Konsum- und Freizeitversprechen wie ein Schaufenster und in geradezu paradiesischer Verdichtung in die DDR hinein.
In beiden Staaten wurden Konsum und Freizeit zu Leuchttürmen des Alltags und implizierten eine systemspezifisch jeweils unterschiedliche Antwort auf die Frage nach der kulturellen Verankerung moderner Massengesellschaften.
Beide deutschen Staaten unterlagen auf jeweils spezifische und zugleich auf "asymmetrisch verflochtene" Weise dem Paradigma der modernen Konsumgesellschaft. Nach einer langen, in Deutschland besonders hartnäckig persistierenden Periode der Verbraucherkritik und der Ächtung der Konsumgesellschaft
In der DDR spielte der Konsum eine prekäre Rolle zwischen Herrschaftslegitimation und Partizipationssehnsucht. Konsumpolitischer Anspruch des Regimes und die karge Realität der Praxis lagen weit auseinander.
"Vielen Werktätigen", so ein SED-interner Erfahrungsbericht vom Januar 1989, bereitet es Probleme, "sich offensiv mit Erscheinungen in der BRD auseinanderzusetzen. (...). Von einer nach außen hin scheinbar funktionierenden Konsumgesellschaft zeigen sich viele beeindruckt. Sie äußern sich zum Warenangebot, dem Verkaufsniveau, vorhandenen Dienstleistungen, der angeblichen Sauberkeit der Städte und vielen anderen Erscheinungen mehr, im Vergleich zu unserer sozialistischen Umwelt. Fragen werden gestellt, warum wir, obwohl wir doch auch viel arbeiten, nicht in gleicher Weise z.B. so ein Warenangebot sichern können."
Den gemeinsamen Erfahrungsraum vermessen
Alles dies sind Elemente eines gemeinsamen Erfahrungsraums, der die Deutschen wahrscheinlich weitaus enger zusammenhielt, als sie sich bewusst waren. Auch reichte dieser Erfahrungsraum wesentlich weiter als die bloßen Intentionen der politischen Akteure. Ihn historiographisch zu vermessen heißt, eine gemeinsame Nachkriegsgeschichte jenseits des Studiums von Deutschlandpolitik und politischem Systemvergleich zu betreiben.
Auch braucht ein solcher Ansatz den - didaktisch freilich stets zu markierenden - Systemgegensatz von Demokratie und Diktatur nicht übermäßig zu betonen. Vielmehr gilt es den Raum mittels pragmatischer Problemstellungen und Forschungen auszuleuchten. Eine im engeren Sinne integrierte deutsche Nachkriegs- oder gar Nationalgeschichte wird damit noch keineswegs erreicht, und sie sollte auch nicht unbedingt das wissenschaftliche Leitmotiv sein. Anzustreben ist aber die größtmögliche Vielzahl von Einsichten in eine gemeinsame, wenn auch asymmetrische deutsche Nachkriegsgeschichte.