Einleitung
Ob man Josef W. Stalins bombastischem Diktum folgt, die Gründung der DDR stelle einen "Wendepunkt in der Geschichte Europas" dar,
Obwohl es hierzu bereits seit Jahren eine intensive Debatte gibt, konnten diese Fragen bis heute nicht abschließend beantwortet werden. Es fehlt nicht an umfassenden Darstellungen.
Dass die angemessene Einbeziehung der Geschichte der SBZ/DDR in die jüngste deutsche Geschichte das entscheidende Problem darstellt, wird kaum verwundern. Schon seit längerem wird ihre Historisierung, d.h. ihre stärkere Einbettung in den Gesamtverlauf deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert gefordert. Ihre außerordentlich intensive Erforschung seit 1990 hat nicht selten zu einer historiographischen Vereinzelung geführt, in welcher der historische Kontext manchmal marginalisiert wurde. Doch wenn Geschichte erzählen zugleich immer auch heißt, die Vorgeschichte zu erzählen, dann gilt das vielleicht ganz besonders für die jeweils spezifische Entwicklung beider deutscher Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Zunächst schlägt der extrem diskontinuierliche Verlauf deutscher Geschichte zu Buche - ein Faktor von essentieller (Nach-)Wirkung für die deutsche Geschichte insgesamt. Im Verlauf der vergangenen 130 Jahre ist sie von einer "Kontinuität der Brüche" (Rudolf Vierhaus) gekennzeichnet; das stellt ihr historisches Charakteristikum dar. Genannt seien nur die Daten 1870/71, 1914/18, 1933, 1945/49, 1989/90. Diese Jahreszahlen mögen auf den ersten Blick abstrakt erscheinen, sie sind es aber keineswegs, wenn man sich kollektive und individuelle Biographien während dieses Zeitraums vor Augen hält. Die inzwischen fast ausgestorbene Generation von Deutschen, die noch im Kaiserreich geboren wurde und in der Weimarer Republik aufgewachsen ist, haben als Kinder und Jugendliche die NS-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg erlebt; nach Kriegsende setzten sie ihr Leben in einer der vier Besatzungszonen fort. Mit Gründung der beiden deutschen Staaten im Herbst 1949 haben sie ihr Leben dann entweder in der Bundesrepublik oder in der DDR verbracht- manche z. T. auch in beiden Staaten, um dann nach 40 Jahren der Teilung Deutschlands durch die friedliche, demokratische Revolution in der DDR vom Herbst 1989 seit dem 3. Oktober 1990 wieder in einem deutschen Nationalstaat zu leben. Im Verlauf ihrer Biographie haben einige von ihnen somit in sechs verschiedenen Staaten bzw. Staatswesen (i.e. Besatzungszonen) gelebt, fünf Staatsformen erlebt und dabei zwei Weltkriege überlebt. Für eine kollektive Mehrheit von Deutschen dieser Generation(en) stellt das eine vergleichsweise "normale" Biographie dar; gleichwohl blieben sie trotz der mehrmaligen Staatswechsel hinsichtlich ihrer Staatsangehörigkeit immer Deutsche.
Nicht wenige Angehörige dieser Alterskohorte sahen sich in der gleichen Zeit auch mehrfach gezwungen, ihre Staatsangehörigkeit zu wechseln. Wer z.B. noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs in Westpreußen geboren wurde, wurde Ende 1918 polnischer Staatsangehöriger, um 1939 erneut Deutscher zu werden. Nach 1945 wurde er wieder Pole, wobei in einigen Fällen Deutsche als polnische Staatsangehörige auch in der Volksrepublik Polen blieben.
Das führt zu einem zweiten, eng damit zusammenhängenden Problem: Wo hat deutsche Geschichte eigentlich stattgefunden? Bekanntlich unterlagen auch die Staatsgrenzen im o.g. Zeitraum einem massiven Wandel.
Jedenfalls schieden bis 1921 8,6 Millionen Deutsche aus dem deutschen Staatsverband aus; ab Ende 1944 verließen ca. 14 Millionen Deutsche, von denen etwa zwei Millionen umkamen, die Ostgebiete des Deutschen Reiches.
Drittens ist das 20. Jahrhundert, wie einmal konstatiert worden ist, vor allem vom Kampf zwischen Demokratie und Diktatur bestimmt worden. Diese Feststellung trifft besonders auf die deutsche Geschichte zu. Auf die Weimarer Demokratie folgte die nationalsozialistische Diktatur - der schlimmste Zivilisationsbruch der Weltgeschichte. Mehrheitlich getragen von der deutschen Bevölkerung, wurde die Entfesselung eines Weltkriegs in Kauf genommen, dessen Zielsetzung in der Durchführung eines bis dahin ungekannten Rassen- und Vernichtungskriegs bestand. In welcher Weise auch immer Deutsche am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen direkt oder indirekt beteiligt waren - außer Zweifel steht, dass diese Generation in hohem Maße von den Folgen und Auswirkungen der nationalsozialistischen Diktatur geprägt worden ist. Zudem stellt es eine nahezu beispiellose Besonderheit der deutschen Zeitgeschichte dar, dass in Deutschland sowohl eine faschistische als auch eine kommunistische Diktatur existierten. Erst an dieser historischen Schnittstelle rückt übrigens die SBZ/DDR in den Blickwinkel. Insgesamt waren Nationalsozialismus und Realsozialismus im 20. Jahrhundert 52 Jahre lang an der Macht - die vier Jahre sowjetischer Besatzung nicht einmal eingerechnet. Generationsbedingt haben Millionen Deutsche einen Großteil ihres Lebens unter diktatorischen Verhältnissen verbracht; ältere, ehemalige DDR-Bürger sogar unter beiden Diktaturen. Dass die daraus resultierende politische und gesellschaftliche Sozialisation ihre kollektiven und individuellen Biographien stark geprägt hat, muss kaum hervorgehoben werden.
Eine weitere Besonderheit kommt indes noch hinzu: Die diktaturspezifische Erfahrung der DDR vollzog sich im Kontext der parallelen Existenz von Demokratie und Diktatur während der Teilung Deutschlands in den Jahren 1949 bis 1989. Entwurf und Gegenentwurf einer alternativen politischen Herrschaftsform, einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung standen sich in scharfem Kontrast gegenüber, allerdings in unterschiedlicher Konnotation und Intensität: Während die DDR für die (Alt-)Bundesbürger, von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen abgesehen, kaum einen Bezugspunkt und Vergleichsmaßstab bildete (den Spitzensport ausgenommen
Konrad Jarausch hat einen ersten, anerkennenswerten Versuch unternommen, die schrittweisen Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein der Deutschen in Ost und West seit Kriegsende nachzuzeichnen.
Für die Geschichte Deutschlands nach 1945, in der sich nach einer vierjährigen Übergangsphase zwei im Laufe der Zeit immer stärker divergierende Staaten, Wirtschaftsordnungen und Gesellschaften herausbildeten, hat Christoph Kleßmann bekanntlich die historiographische Formel einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" geprägt. Ihm kommt das Verdienst zu, die bislang elaborierteste historiographische Konzeption einer integralen deutschen Nachkriegsgeschichte entwickelt zu haben.
Möglicherweise wird man nicht mit allen Phaseneinteilungen und ihren geschichtswissenschaftlichen Einschätzungen konform gehen, die Kleßmann in seinem Versuch vorschlägt, "dem Eigengewicht und der Verklammerung west- und ostdeutscher Geschichte besser gerecht zu werden als eine reine Kontrastgeschichte oder eine neue Nationalgeschichte".
Doch selbst das ausgefeilteste historiographische Konzept bietet keine Gewähr dafür, dass eine entsprechend verfasste deutsche Nachkriegsgeschichte auch die adäquate Rezeption erfährt. Zu selbstverständlich geht die wissenschaftliche Zeitgeschichtsforschung davon aus. Das scheint jedoch ein Trugschluss, zumal inzwischen eine Generation von Schülern (und Studenten) heranwächst, denen grundlegende Entwicklungen deutscher Nachkriegsgeschichte fast so fern sind wie die Geschichte der Karolinger oder der Ottonen. So liegt die Besatzungszeit für diese jüngste Generation vierzig Jahre und mehr zurück. Wer wollte ihnen verübeln, dass sie Schwierigkeiten haben, die richtigen Zuordnungen zur Geschichte der beiden deutschen Staaten vorzunehmen? Walter Ulbricht? War der nicht Bundeskanzler? Nur wer im akademischen Elfenbeinturm sitzt, wird darüber lauthals lachen können. Das Problem ist erkannt, wird sich aber nicht durch die Erstellung modifizierter Lehrpläne allein lösen lassen.
Die schwierige deutsche Nachkriegsgeschichte historiographisch umfassend und ausgewogen darzustellen, ist nicht das einzige Problem, das gelöst werden muss. Zusätzlich muss das Spannungsverhältnis deutsch-deutscher Geschichte auch so plastisch "erzählt" werden, dass sie für jüngere Generationen nachvollziehbar wird. Gerade die parallele Existenz der Besatzungsherrschaft(en) und der beiden deutschen Staaten mit diametral entgegengesetzten Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen bietet Beispiele, die durch Quellentexte Authentizität erhalten und daher geschichtsdidaktisch wirksam werden. An Dokumenten fehlt es wahrlich nicht.
Nehmen wir z.B. das immense und heute kaum mehr vorstellbare Problem von Flüchtlingen und Vertriebenen nach Kriegsende 1945, das in allen Besatzungszonen, von der Bundesrepublik wie der DDR gleichermaßen bewältigt werden musste. Obwohl die Behandlung und Lösung dieses enormen Migrationsproblems sehr unterschiedlich erfolgte, führte dies letztlich zur Integration von Millionen von Deutschen in eine der beiden Nachkriegsgesellschaften. Dieser vor allem auch in mentaler Hinsicht Jahrzehnte andauernde Eingliederungsprozess lässt sich in seinen Erfolgen und Misserfolgen sehr gut durch Zeitzeugenaussagen, Ego-Dokumente, aber auch anhand behördlicher Verordnungen und Gesetzestexte in unterschiedlichen Zeitabschnitten verdeutlichen. In historiographischer Hinsicht sollte dieses Problem nicht nur in einem gemeinsamen, beide deutsche Staaten einbeziehenden Kapitel geschildert und dokumentiert, sondern auch in diachronischer Perspektive bis an die Jahrtausendschwelle dargestellt werden. Ein solcher übergreifender Abschnitt bietet zudem die Möglichkeit, die Mikro- (z.B. individuelle und kollektive Zeitzeugendokumente) und Makrohistorie (z.B. der Görlitzer Grenzanerkennungsvertrag der DDR 1950; die in der DDR verbotenen Vertriebenenverbände und ihre Entwicklung in Westdeutschland; die Anerkennung der polnischen Westgrenze durch die Bundesrepublik im Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990) miteinander zu verbinden.
Mittel- und langfristig wird es nicht genügen, "nur" eine geschichtswissenschaftlich und historiographisch adäquate Darstellung einer integralen deutschen Nachkriegsgeschichte vorzulegen, so schwer das im Einzelnen nach wie vor fällt. Das didaktische Element bleibt unverzichtbar. Es darf keine Geschichtsdarstellung werden, die nur von Intellektuellen gelesen wird. Sie muss in ihrer geschichtswissenschaftlich-interpretatorischen Analyse und in ihrem historiographischen Narrativ so überzeugend sein, dass sie auch von breiteren Kreisen verstanden wird. Erst dann wird eine so konzipierte und formulierte deutsche Zeitgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihren Zweck der Information, Aufklärung und politischen Bildung erfüllen. Gerade am Beispiel unserer jüngsten Geschichte sollte der alles überragende Wert des Rechtsstaates und demokratisch legitimierter Macht auf Zeit gegenüber usurpierter, diktatorischer Gewaltherrschaft verdeutlicht werden können, ja müssen.