Demokratiebildung ist keine neuartige Aufgabe der Gegenwart. Bereits im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik beschäftigten sich Pädagoginnen und Pädagogen mit der Frage, wie Kinder und Jugendliche durch politische Bildung ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft entwickeln können. Eine Rekonstruktion dieser historischen Konzepte und Praxen eröffnet die Chance, gegenwärtige Praktiken, Vorstellungen und Paradigmen zu hinterfragen und vergessene Alternativen und Lösungsvarianten zu strukturellen Problemen politischer Bildung zu entdecken.
Vorläufer im Kaiserreich
Eine intensive Diskussion mit internationalem Erfahrungs- und Wissensaustausch über die Ausgestaltung staatsbürgerlicher Bildung erfolgt in Deutschland bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie wird flankiert von öffentlichen Resolutionen zur Einführung eines entsprechenden Unterrichts, Gründungen von Verbänden wie der Vereinigung für staatsbürgerliche Erziehung des deutschen Volkes (1909) und der Etablierung erster Fachzeitschriften. Hierbei sind es insbesondere auch liberale bürgerliche Kräfte, die einen staatsbürgerlichen Unterricht aus "rein praktischen Erwägungen" heraus fordern.
Staatsbürgerliche Belehrung und Erziehung werden dabei in enger Verbindung mit Konzepten einer demokratischen Partizipation von Schülerinnen und Schülern in Unterricht und Schule diskutiert. Die "Schülerselbstregierung" gilt dabei gleichermaßen als Instrument zur Förderung von Disziplin und Sittlichkeit wie als "hervorragendes Mittel zur Bildung des Staatsbürgers" und "Idealform der staatsbürgerlichen Erziehung":
Während die theoretischen Überlegungen für eine staatsbürgerliche Bildung im Kaiserreich nur vereinzelt zur praktischen Umsetzung gelangen und mit Beginn des Ersten Weltkrieges merklich zum Erliegen kommen, zählen die Einführung staatsbürgerlichen Unterrichts und schulischer Selbstregierung nach 1918 zu den prägenden bildungspolitischen Maßnahmen. Schulpolitikerinnen und Schulpolitiker sowie Pädagoginnen und Pädagogen sehen mit der Revolution die Chance gekommen, das Schulwesen zu demokratisieren und staatsbürgerliche Bildung als Voraussetzung für die Republik zu stärken. Die Nationalversammlung gibt in Artikel 148 der Forderung nach einem Lehrfach Staatsbürgerkunde und der Arbeitsschulpädagogik Verfassungsrang. Die konzeptionelle Ausgestaltung und Erprobung einer der Demokratie adäquaten politischen Bildung wird in den folgenden Jahren von den Zeitgenossen als "tastendes Tappen" und Prozess schrittweiser Professionalisierung wahrgenommen.
Getragen wird die Entwicklung der politischen Bildung einerseits von staatlichen Akteuren. Die Kultusministerien der Länder versuchen, die Staatsbürgerkunde mit Fortbildungsreihen, Verordnungen und eigenen Veröffentlichungen zu fördern. Die Reichszentrale für Heimatdienst mit ihren rund 18 Landesabteilungen und einem Netz von mehreren Zehntausend Vertrauensleuten publiziert reichsweit Broschüren, Zeitschriften und Bildungsmaterialien wie Lichtbildserien und Filmvorträge. Zudem richtet sie staatsbürgerkundliche Veranstaltungen aus. Daneben wirkt das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, das als zentrale Stätte für die wissenschaftliche und pädagogische Förderung der Lehrerschaft allein von 1923 bis 1925 knapp 400 Fortbildungen und Staatsbürgerliche Wochen organisiert, in denen Lehrkräfte in Vorträgen, Arbeitsgruppen und Lehrproben gemeinsam Themen und didaktische Fragen staatsbürgerlicher Bildung erschließen.
Anderseits sind es aber vor allem die demokratisch gesinnten Praktikerinnen und Praktiker in Schulen und außerschulischen Bildungsstätten, die die Entwicklung prägen. Sie gründen Arbeitsgemeinschaften und Vereine für staatsbürgerliche Bildung und verhandeln in mehr als 320 pädagogischen Fachzeitschriften und unzähligen Monografien Ziele, Inhalte, Methoden und Praxiserfahrungen politischer Bildung.
Erziehung zur Republik?
Zu einem zentralen Streitpunkt avanciert im pädagogischen Diskurs die Frage, inwieweit schulische Bildung "einseitig" zur Republik erziehen dürfe oder sich "neutral" zu der aus zeitgenössischer Sicht noch offenen Entscheidung über die künftige Staatsform verhalten müsse.
Insbesondere konservative und reaktionäre Kreise sprechen sich dafür aus, zu einer Staatsgesinnung zu erziehen, die nicht auf eine reale Staatsform abzielt, sondern den Lernenden vielmehr ein Staatsideal vermittelt. Sie knüpfen damit an neuidealistische Vorstellungen vom Staat als Ausdruck einer "sittlichen Idee" und "Lösung tiefster sittlicher Probleme" an, wie sie bereits im Kaiserreich und unter anderem prominent von Georg Kerschensteiner vertreten worden waren.
Statt einer "Flucht in die Utopie vom besten Staat"
Innerhalb dieses grundlegenden Spannungsverhältnisses zwischen konservativen und progressiven pädagogischen Kreisen, republikanischen und republikfeindlichen Kräften und einer insgesamt tief gespaltenen Gesellschaft verläuft die Entwicklung der Demokratiebildung kontrovers und vielschichtig. Gerade die Anfangsjahre der Weimarer Republik sind durch eine besondere Reformfreudigkeit und ambitionierte Vorhaben zur Demokratisierung des Schullebens geprägt. Die Radikalität und Geschwindigkeit, mit denen versucht wird, Neuerungen durchzusetzen und schulische Traditionen des Kaiserreichs zu überwinden, stärken allerdings den teils prinzipiellen Widerstand republikskeptischer Akteure in Politik, Lehrer- und Elternschaft und lassen viele Initiativen an den Schulen stagnieren. Eine Neuausrichtung der staatsbürgerlichen Bildung bewirkt das Attentat auf Walther Rathenau im Juni 1922 und die in der Folge formulierten Republikschutzgesetze. In bildungspolitischen Richtlinien und in der Lehrerschaft erhöhen sie die Akzeptanz der Staatsform und der staatsbürgerkundlichen Ausrichtung auf die bestehende Republik.
Methodik der staatsbürgerlichen Erziehung
Anknüpfend an die Debatten der Vorkriegszeit bilden der Ausbau der "Schülerselbstverwaltung" und des "Arbeitsunterrichts" zunächst ein besonderes Merkmal der pädagogischen Reformbestrebungen. Die Schülerselbstregierung, mit deren Hilfe Lernende handlungsorientiert Einsichten in demokratische Funktionsweisen entdecken und durch die "Demokratie selbst zu demokratischer Haltung" erzogen werden sollen,
Auch wenn die Schülerselbstregierung im Diskurs der Weimarer Republik hohe Popularität und allgemeine Zustimmung genießt, versammeln sich unter der geteilten Vorstellung, staatsbürgerliche Erziehung durch eigenständiges Handeln erreichen zu können, durchaus konträre Konzepte. So wird die Schülerselbstregierung teils als "Disziplinarsystem" und "Mittel sittlicher Erziehung" gesehen, teils als "Vorschule für das demokratische Staatsleben" oder gar als "Interessenvertretung" der Schülerschaft konzipiert.
Auch die tatsächliche Praxis der schulischen Beteiligungsformen wird ambivalent beurteilt. Während gerade zu Beginn der 1920er Jahre bildungspolitische Reformversuche von reaktionären Kräften unterlaufen werden, klagen in späteren Jahren Lehrkräfte darüber, dass den Beteiligungsgremien insgesamt relevante Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse fehlten, sodass sie als "überflüssiges Maskenspiel" abgelehnt werden.
Auch auf Ebene des staatsbürgerlichen Unterrichts bildet sich in den 1920er Jahren eine vielfältige Fachkultur heraus. Nachdem zunächst verfassungsrechtliche Belehrungen Lehrpläne und Unterrichtskonzepte prägten, wird Staatsbürgerkunde zunehmend sozialwissenschaftlich konzipiert. Politische, wirtschaftliche und soziale, rechts- und gesellschaftskundliche Unterrichtsgegenstände werden als Themenfelder erschlossen. Es wird vor der "Gefahr des Wortwissens"
Unterricht jenseits aller Parteipolitik?
Als zentrale Herausforderung staatsbürgerlichen Unterrichts kristallisiert sich in der Praxis allerdings die Frage heraus, ob und wie tagespolitische Themen im Unterricht bearbeitet werden können, ohne Schülerinnen und Schüler parteipolitisch zu beeinflussen. Einigkeit herrscht zwar darin, dass Lehrende "jede mittelbare und unmittelbare Beeinflussung ihrer Schüler nach irgendeiner parteipolitischen Richtung hin streng vermeiden" müssen.
Bis zur Mitte der 1920er Jahre setzt sich zunächst die Einschätzung durch, auf tagespolitische Themen im Unterricht vollständig verzichten zu müssen. In einer Zeit schärfster politischer Polarisierung und gesellschaftlicher Verunsicherung nach der Revolution fürchten Lehrkräfte eine Politisierung ihres Unterrichts und ihrer Schülerinnen und Schüler. Angesichts der gesellschaftlichen Unsicherheiten und fehlender didaktischer Konzepte erscheint deshalb ein völliger Verzicht auf politische Themen im Unterricht vielfach der einzig mögliche Weg, Lernende und Lehrende zu schützen. Richard Seyfert, von 1919 bis 1920 sächsischer Kultusminister und langjähriger Direktor des Pädagogischen Instituts der Technischen Hochschule Dresden, fasst das Problem und die didaktische Leerstelle zu seiner Lösung Anfang der 1920er Jahre pointiert zusammen: "Die größte Schwierigkeit liegt offenbar in der parteipolitischen Einstellung des einzelnen. (…) Überblickt man nüchtern den heutigen Sachstand, so muß einem die Forderung, die Schule solle die Jugend politisch erziehen, unerfüllbar erscheinen. Ob sie je erfüllt werden könne, hängt davon ab, ob eine staatsbürgerliche Erziehung jenseits aller Parteipolitik möglich ist oder nicht."
Ab Mitte der 1920er Jahre wird die Forderung, keine tagespolitischen Themen im Unterricht zu behandeln, um die Jugend vor einer Politisierung zu bewahren, mehr und mehr in Frage gestellt. Verbote und unterrichtliche Tabus erscheinen einer zunehmenden Anzahl der Pädagoginnen und Pädagogen wie dem Hamburger Lehrer Nicolaus Henningsen wirkungslos: "Und wenn an einem hochpolitischen Tag Elternhaus und Straße mit Reden, Plakaten, Flugblättern, Abzeichen, Fahnen, Demonstrationszügen das junge Menschenkind und seine Seele eingefangen, mitgerissen haben, dann ist es ein Unding, wenn an der Schwelle der Schule nun die Warnungstafel erfolgreich sein soll mit der Aufschrift: ‚Hierher darfst du die Politik nicht mitbringen!‘ (…) Wir Erzieher verurteilen uns doch nur selbst zur Ohnmacht, ja zur Lächerlichkeit, wenn wir einfach so tun, als brauchten wir alles Unbequeme und Widrige nur nicht zu beachten, damit es nicht mehr vorhanden ist!"
Anders als in der vorangegangenen Phase sehen Lehrkräfte ihre Aufgabe nun zunehmend darin, die Lernenden durch eine schulische staatsbürgerliche Bildung vor den äußeren (Fehl-)Entwicklungen zu schützen. Unterricht wird als Korrektiv gegen politische Verhetzung in Presse und Partei gedacht. Zum zentralen Unterrichtsgegenstand und -medium avancieren wegen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung politische Tageszeitungen. Lehrende sollen Parteipolitik objektiv im Unterricht thematisieren und Schülerinnen und Schüler zur kritischen Lektüre anleiten, um sie vor parteipolitischer Manipulation und sittlicher Schädigung durch die auf Sensation und Dramatisierung ausgerichtete Presse zu schützen.
Das Grundproblem, eine parteipolitische Beeinflussung im Unterricht zu verhindern, kann jedoch auch in dieser zweiten Phase nicht gelöst werden. Einerseits scheitern viele Pädagoginnen und Pädagogen dabei, tagespolitische Ereignisse "objektiv" zu erklären. Andererseits genügt die politische Berichterstattung in der Zeitung meist nicht den Ansprüchen der Lehrenden, sodass diese für die Zeitungskunde auf unpolitische Themen ausweichen.
Kontradiktorik statt Staatspädagogik
Ende der 1920er Jahre kommt es zu einer breit diskutierten Krise der Staatspädagogik. Als Ausgangspunkt wird dabei zunächst eine "Krisis des Staatsbewußtseins" diagnostiziert, die an einer wahrgenommenen politischen Radikalisierung und Ablehnung der Republik durch große Teile der Jugendlichen festgemacht wird.
Auch wenn Berbigs Thesen in der Lehrerschaft umstritten bleiben und vielen zu pessimistisch erscheinen, entwickelt sich Ende der 1920er Jahre aus der Krise heraus schließlich ein neuer Ansatz in der staatsbürgerlichen Bildung, für die nun zunehmend der Begriff der "politischen Bildung" verwendet wird. Die politischen Einflüsse, vor denen Kinder und Jugendliche in vorangegangenen Phasen zunächst bewahrt werden sollten, werden nun positiver bewertet und als Anlass wie Ausgangspunkt schulischer Bildungsprozesse wahrgenommen. Politische Wirklichkeit wird als gegeben anerkannt und der Jugend das Recht zugebilligt, am politischen Leben teilzunehmen: Zur Aufgabe der staatlichen Schule werde es, die Schülerinnen und Schüler in ihrer außerschulischen Politisierung zu begleiten. Politische Erziehung diene nicht der Aufgabe, für den Staat zu erziehen, sondern gehöre "in erster Linie dem Kinde" und seinem "Recht auf (…) eigene Entwicklung".
Anders als zuvor wird allerdings der Versuch eines objektiven politischen Unterrichts in Frage gestellt. So liege "in der Erziehung zur politischen Objektivität die Gefahr der Unterdrückung staatsbürgerlicher Aktivität".
Politische Bildung werde, so der Berliner Studienrat Paul Hartig, dann erreicht, wenn die Schülerinnen und Schüler "vor gegensätzliche oder einander widersprechende Aussagen, Behauptungen, Forderungen und Urteile" gestellt werden.
Das kontradiktorische Verfahren gilt auch aus demokratietheoretischen Erwägungen heraus als adäquater und genuiner Lernweg in der Staatsbürgerkunde. Der Unterrichtsprozess wird in struktureller Übereinstimmung mit der politischen Auseinandersetzung in der Gesellschaft konzipiert, soll Schülerinnen und Schüler in das "Für und Wider parlamentarischer Diskussionen" einführen und ihnen so einen "großen Teil der politischen Wirklichkeit" erschließen.
Die erfolgreiche Etablierung des kontradiktorischen Prinzips lässt sich unter anderem in bildungspolitischen Richtlinien, einer Fachzeitschrift, entsprechenden Fortbildungsangeboten und Schulfunkformaten wie einer "Aktuellen Stunde" beobachten. Das seit Beginn der Weimarer Republik existierende Dilemma, Politik im Unterricht thematisieren zu wollen und zugleich eine parteipolitische Instrumentalisierung des Unterrichts zu verhindern, wird so konstruktiv gelöst. Mit der Kontradiktorik gelingt es, ein immanentes, professionelles Abgrenzungskriterium gegen Funktionalisierung und Politisierung der Staatsbürgerkunde von außen zu gewinnen.
Ausblick
Unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur findet die weitere Entwicklung einer Demokratiebildung ab 1933 ihr jähes Ende. Aber auch nach 1945 wird an die staatsbürgerkundlichen Konzepte und Erfahrungen der Weimarer Republik nur bedingt angeknüpft. Teils fehlt es an personeller Kontinuität, da republikanische Lehrkräfte wie etwa Hans Berbig nach Suspendierung, Emigration oder Verfolgung nicht mehr in den Schuldienst zurückkehren. Teils wird, wie im Fendt-Plan des bayerischen Kultusministers Franz Fendt, auf die idealistische Staatsbürgerkunde des Kaiserreichs rekurriert und erneut ein Ideal einer "Menschenbildung in der Harmonie von Individuum und Gesellschaft" beschworen,
Im Nachkriegsdeutschland entwickelte sich so unter der Chiffre der "Weimarer Erfahrungen", die als Negativfolie den demokratischen Wiederaufbau stabilisieren sollte, auf beiden Seiten des "Eisernen Vorhangs" ein Bild der staatsbürgerlichen Bildung der Weimarer Republik, das selektiv nur jene Traditionen herausstellte, die – unabhängig von ihrer historischen Plausibilität – als undemokratisch und didaktisch fehlkonstruiert gelten durften und von denen eine legitimierende Abgrenzung problemlos erfolgen konnte. Demgegenüber stellte der Erziehungswissenschaftler Herbert Chiout in seiner Studie zur Schulreformbewegung der 1950er Jahre fest, dass die Schülermitverwaltung zwar eines der "wesentlichen Anliegen der Bemühungen um einen neuen Bildungsinhalt" war, bei dem sich die meisten der relativ wenigen Schulversuche an Erfahrungen aus der Weimarer Republik orientierten, insgesamt aber die Reformfreudigkeit der Weimarer Republik unerreicht bleibe: "Die deutsche Lehrerschaft der zwanziger Jahre trug eine pädagogische Bewegung, wie sie in diesem Umfang die deutsche Schule weder vorher noch nachher gekannt hat."