Wie wäre es, gebildet zu sein? Zu dieser Frage hielt der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri 2005 an der Pädagogischen Hochschule Bern eine Festrede.
Bildung als kulturelles Erbe der Menschheit
Für Wilhelm von Humboldt, der im frühen 19. Jahrhundert die entscheidenden Anstöße für einen Neuaufbau des preußischen Schul- und Universitätssystems gab, dessen Grundstrukturen bis heute nachwirken, war klar, dass ein solcher Neuaufbau einer gemeinsamen Vorstellung von allgemeiner Menschenbildung bedurfte, die für das ganze System prägend sein musste. Rund 150 Jahre später formulierte der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki diese unverändert aktuelle Notwendigkeit so: Wenn man verhindern wolle, dass in der pädagogischen Praxis "eine Fülle didaktischer Entscheidungen und Entwürfe in eine Vielzahl divergierender Akte" auseinanderfalle, bedürfe es eines Begriffs, der "jene dynamische Gesamtverfassung bezeichnet, zu der der junge Mensch sich durch Aneignung und personale Verlebendigung bestimmter Motivationen, Erkenntnisse, Erfahrungen, Fertigkeiten stufenweise durcharbeiten und die er dann in einem Prozeß der Integration immer neuer Erfahrungen produktiv ausbauen und bewähren" solle.
In der deutschen Sprache ist "Bildung" der "Inbegriff (…) dieses Gesamtauftrags".
Gegen ein solches, hier nur knapp skizziertes Verständnis von Bildung ist wiederholt eingewandt worden, es sei eine Besonderheit des deutschen Bürgertums und ein überholtes Relikt des 19. Jahrhunderts.
Bieris eingangs aufgegriffene Frage führt auf dieses Erbe zurück, und es ist auffallend, wie stark im deutschsprachigen Raum im vergangenen Jahrzehnt das Interesse an einem gehaltvollen Bildungsbegriff als pädagogischer Leitidee wieder gewachsen ist.
Grenzen der Kompetenzorientierung
Wie wäre es, kompetent zu sein? Offenkundig ist die Frage in dieser Form nicht sinnvoll beantwortbar, weil Kompetenz – im Unterschied zu Bildung – nur in Bezug auf ein "Wofür" bestimmbar ist. Schon daran ließe sich erkennen, dass der Kompetenzbegriff nicht geeignet ist, den der Bildung als Leitidee für Schulen und andere pädagogische Institutionen abzulösen, wie es vielerorts in Bildungspolitik und Wissenschaft infolge des "PISA-Schocks" ab 2001 versucht wurde. Unter dem Signum der "Kompetenzorientierung" sollte idealerweise eine Art Regelkreis etabliert werden, von dem eine neue, effektive Form der Steuerung des Schulsystems erhofft wurde: erstens die durchgängige Formulierung aller schulischen Ziele und Aufgaben in Form von Kompetenzen in staatlichen Vorgaben wie Bildungsstandards, Lehrplänen und Prüfungsanforderungen; zweitens die Modellierung der Vorgaben nach wissenschaftsbasierten Kompetenzmodellen; drittens die Graduierung der darin enthaltenen Kompetenzbereiche zur Festlegung von Graden der Zielerreichung; viertens die Messung der Leistungen von Schülerinnen und Schülern mittels standardisierter, landesweiter Tests; und fünftens die Rückmeldung dieser Ergebnisse an Schulen und Bildungspolitik mit dem Ziel kontinuierlicher Verbesserung.
Kaum etwas davon konnte auf einigermaßen kohärente Weise theoretisch ausgearbeitet und praktisch umgesetzt werden. Schon das Grundlagenpapier für diesen Ansatz, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebene und gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz 2003 veröffentlichte Expertengutachten "Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards"
In der politischen Bildung sind nahezu alle Elemente der auf Kompetenzmessungen basierenden Outputsteuerung des Schulsystems, wie sie die Klieme-Expertise vorsah, inhaltlich umstritten. Um nur einige Fragen aufzuwerfen: Welche Probleme sollen gelöst werden? Welche Lösungen können als erfolgreich und verantwortungsvoll gelten? Welches Wissen ist relevant? Was genau meint "Verstehen"? Ebenso wie im Nachbarfach Geschichte wurden daher auch in der politischen Bildung zahlreiche heterogene und miteinander nicht kompatible Kompetenzmodelle entwickelt.
Man muss der Klieme-Expertise zugutehalten, dass zumindest in allgemeiner Form an "Bildung" als Referenzbegriff für die Schule festgehalten werden sollte, da "ohne Bezug auf allgemeine Bildungsziele (…) Kompetenzanforderungen reine Willkür oder bloße Expertenmeinung" seien.
Solche argumentativen Absicherungen blieben letztlich wohl auch deshalb wirkungslos, weil sie in der Klieme-Expertise zwar postuliert, aber hinsichtlich ihrer Konsequenzen nicht konkretisiert wurden. Stattdessen gab es in den Folgejahren eine übersteigerte, blasenartige Ausweitung der Kompetenzorientierung auf alles, was irgendwie mit Lehren und Lernen zu tun hat. Alle Bereiche der Schule, die Fächer ebenso wie soziales Lernen oder Demokratiepädagogik, und außerschulische Handlungsfelder von der Kindertagesstätte ("Der kompetente Säugling")
Die Transformationen, die die Kompetenzorientierung im Zuge dieser Entwicklungen erfahren hat, und die Widersprüche und Ausweglosigkeiten, in die diese geführt haben, können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.
Abschied von der Evidenzbasierung?
Hat sich damit alles erledigt, was die Kompetenzorientierung hervorgebracht hat? Durchaus nicht. Mit dem Begriff der "Kompetenz" verbindet sich im Kern die Absicht, Wissen und Können zusammenzudenken. Diese Intention wendet sich sowohl gegen eine schulische Stoffvermittlung um ihrer selbst oder allein der Benotung willen als auch gegen eine rein auf beobachtbares Verhalten bezogene Beschreibung von Lernergebnissen, auf die die frühere Lernzielorientierung abzielte. Insofern kann der Kompetenzbegriff für die Planung vieler schulischer Lernangebote durchaus fruchtbar sein. Allerdings taugt er nicht als Universalschlüssel für die Lösung aller Legitimations-, Planungs- und Evaluationsprobleme schulischen Lehrens und Lernens.
Zwei weitere Aspekte, die von der Kompetenzorientierung stark gefördert wurden, haben sich ebenfalls als weiterführend erwiesen. Erstens ist dies die Aufmerksamkeit für das Vorverstehen der Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt von Unterrichtsplanung, die in der Didaktik der politischen Bildung zu einer Reihe von Studien zur Diagnostik dieser Vorstellungen führte.
Der Bildungs- und Erziehungswissenschaftler Ulrich Herrmann hat einen bedenkenswerten Vorschlag gemacht, wie Kompetenzen und Bildung, ergänzt um einfachere Fertigkeiten (Qualifikationen), in Beziehung zueinander zu bringen wären: Ohne Qualifikation gebe es "keine technisch richtige Problembearbeitung", ohne Kompetenz "keine Beurteilung möglicher sinnvoller Problemlösungen". Dieses Verständnis von Kompetenz markiere zugleich bei der Frage, "welche Instanz es denn für die Sinnhaftigkeit einer Handlung/Unterlassung oder für die Wünschbarkeit eines technisch korrekten und fachlich kompetenten Vorhabens" gebe, den Unterschied zu Bildung.
Um Qualifikation ginge es hiernach, wenn beispielsweise zu prüfen ist, welche vorgeschlagenen Lösungen für ein politisches Problem rechtlich, finanziell oder aufgrund von Mehrheitsverhältnissen überhaupt möglich wären; um Kompetenz, wenn mögliche Folgen verschiedener Lösungen abzuschätzen sind; um Bildung schließlich, wenn Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage ihres politischen Weltverstehens die Sinnhaftigkeit und Wünschbarkeit von Lösungen begründet beurteilen. Ein Hinweis auf erfolgreiche Bildungsprozesse wäre es dann, wenn diese Schülerinnen und Schüler durch den Unterricht in Bezug auf ihr politisches Weltverstehen Bestärkung, Ergänzung durch neue Aspekte oder Irritation, eventuell sogar eine Selbstkorrektur erfahren.
Es sollte an diesem Beispiel auch zu erkennen sein, dass in der politischen Bildung eine standardisierte vergleichende Messung von Lernergebnissen umso leichter möglich ist, je trivialer das Anspruchsniveau bleibt. Relativ einfach machbar wäre sie bei Qualifikationen, praktisch unmöglich bei Bildungsprozessen, auf die es aber letztlich ankommen muss. Unmöglich ist eine solche Messung, weil Bildungsprozesse sich auch bei gleichem Leistungsniveau eben nicht in standardisierbaren Arbeitsergebnissen zeigen müssen. Sie können sich durchaus in individuell verschiedenen, nur sehr begrenzt vorhersehbaren Ausdrucksweisen niederschlagen, bei denen unter Umständen die überraschendste Schüleräußerung zugleich die qualitativ beste sein kann.
Bedeutet dies den Abschied von der Idee der Evidenzbasierung in der Schulpolitik? Erwartet man von Evidenzbasierung im Sinne des oben skizzierten Regelkreises eine durch quantitative Daten gestützte Steuerung der Bildungswirkung von Schulen, dann wäre ein solcher Abschied unumgänglich. Gerade wenn schulischer Unterricht im Sinn von Bildung anspruchsvoller werden soll, entzieht er sich der vergleichenden Messung seiner Ergebnisse. Das heißt nicht, dass Bildungseffekte überhaupt nicht erforschbar wären. Die qualitative Forschung bietet ein großes methodisches Repertoire, das für eine Bildungsforschung nutzbar gemacht werden könnte, die diesen Namen tatsächlich verdienen würde, indem sie sich ganz auf die Erforschung von Bedingungen, Formen und Ergebnissen von Bildungsvorgängen fokussiert.
Auf der anderen Seite haben auch quantitative Daten über das Schulsystem und seine Kontexte in der Gesellschaft ihren Sinn für die Schulpolitik. Die Stärke quantitativer Forschung in Bezug auf Schule liegt zwar nicht auf der Mikroebene von Bildungsprozessen bei Schülerinnen und Schülern, wohl aber auf der Makroebene der Systembeobachtung. Es liegt auf der Hand, dass beispielsweise Daten über die demografische Entwicklung, den schulischen Erfolg oder Misserfolg von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen, die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft in verschiedenen Schulformen oder Effekte finanzieller Investitionen für jede verantwortliche Schulpolitik von größtem Interesse sein müssen. So sinnvoll Bestandsaufnahmen wie etwa der alle zwei Jahre veröffentlichte "Nationale Bildungsbericht" in Deutschland daher auch sind – eine sprachliche Präzisierung wäre dringend wünschenswert. Denn nicht jeder Kita-Besuch ist schon eine "Bildungsbeteiligung", nicht jede öffentliche Investition in Kindergärten, Schulen oder Hochschulen ist bereits eine "Bildungsausgabe", und die Verteilung von Schul- und Hochschulabschlüssen in der Bevölkerung ist nicht gleichzusetzen mit deren "Bildungsstand".
Bildung als Leitidee der politischen Bildung
Politische Bildung verknüpft Menschen mit einer bestimmten Dimension der Wirklichkeit, indem sie ihnen "Politik" respektive "das Politische" als ein Feld des Denkens, Verstehens, Urteilens und Handelns erschließt. Politische Bildung nimmt somit den Menschen – in Anlehnung an Aristoteles – als zoon politikon in den Blick, als politisches Wesen. Bildung ermöglicht und fördert politische Bildung, indem sie nicht die erzieherische Adaption eines vorgegebenen Verständnisses vom Menschen als zoon politikon betreibt, also etwa die Übernahme einer vordefinierten Untertanen- oder Bürgerrolle. Vielmehr bietet sie – durchaus im Sinne von Humboldts Verständnis einer Wechselwirkung – Lernenden einen offenen Horizont für die Auseinandersetzung mit politischen Fragen und Problemen an, durch die sie ihr Verständnis von der politischen Dimension des menschlichen Zusammenlebens vertiefen und erweitern können, sei es im Sinne von Ergänzung, Irritation oder Veränderung.
Wie jede Bildung zielt also politische Bildung auf eine Horizonterweiterung im Weltverstehen von Menschen. Im Bereich der Schule ist dabei, wenn in der Sekundarstufe I ein eigenes Unterrichtsfach für politische Bildung beginnt, bei Schülerinnen und Schülern mit bereits ausgeprägten Grundvorstellungen über Politik zu rechnen. Soll politische Bildung bildend wirken, muss sie solche bereits vorhandenen Vorstellungen erreichen, zur Sprache bringen und in Auseinandersetzungen mit neuen Erfahrungen zu Weiterentwicklungen anregen – etwa durch Wissenserweiterung, Denkanstöße, Fragen, Problematisierungen oder Gegenpositionen. Die Entwicklungsrichtung, auf die Bildung in der politischen Bildung hier abzielt, lässt sich in Kurzform als Komplexitätszuwachs charakterisieren.
Dies betrifft auch die emotionale Seite des Politikverstehens, die jüngst in der Didaktik der politischen Bildung verstärkte Aufmerksamkeit gefunden hat.
Politische Bildung begegnet der Vielfalt individueller Entwicklungsmöglichkeiten mit großer, aber nicht unbegrenzter Offenheit. Nicht jede Transformation von Welt- und Selbstverständnissen durch neues Lernen kann sinnvoll als Bildung verstanden werden. Beispielsweise wird man die Entwicklung von Jugendlichen zu islamistischen Extremisten und Gewalttätern beim "Islamischen Staat", die im vergangenen Jahrzehnt auch in Deutschland vorkam, schwerlich als Bildungsweg bezeichnen wollen. Bildung ist nicht normativ neutral. Die Idee der Bildung ist seit jeher mit der Vorstellung von der Bildsamkeit von Menschen verknüpft. Bildsamkeit heißt aber bis zu einem gewissen Grad Unverfügbarkeit für andere Menschen, und diese ist mit Freiheit und Menschenwürde verbunden. Diese Würde, Unverfügbarkeit, Freiheit und Bildsamkeit allen Menschen zuzuerkennen, gehört zum normativen Selbstverständnis der europäischen Kultur und hat seine frühesten Wurzeln in der christlichen Tradition. Dieses Erbe bietet auch heute für die normative Grundlegung von politischer Bildung fruchtbare Perspektiven.