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Bildung: Zur Aktualität einer traditionsreichen Leitidee

Wolfgang Sander

/ 15 Minuten zu lesen

Die Leitidee der Bildung ist ein kulturelles Erbe der Menschheit und mit der Vorstellung von der Bildsamkeit, Unverfügbarkeit, Freiheit und Würde aller Menschen verknüpft. Dieses Erbe bietet auch heute für die normative Grundlegung von politischer Bildung fruchtbare Perspektiven.

Wie wäre es, gebildet zu sein? Zu dieser Frage hielt der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri 2005 an der Pädagogischen Hochschule Bern eine Festrede. Selbstverständlich war damit nicht gemeint, wie es wäre, das "Bildungssystem" mit einem "Bildungsabschluss" überstanden zu haben, einem "Bildungsstandard" zu genügen, sich in der "Bildungspolitik" auszukennen, die Übersicht im "Bildungsföderalismus" zu bewahren oder einen "Bildungskredit" zu beziehen. Der inflationäre, aber inhaltsleere Gebrauch des Bildungsbegriffs, der sich in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten verbreitet hat, hält auf Bieris Frage keine Antwort mehr bereit. Die allgemeine Geschäftigkeit, durch die das hoch differenzierte Schul- und Hochschulwesen geprägt ist, verdeckt nur schlecht den Mangel an Klarheit und den verloren gegangenen Grundkonsens darüber, was dieses System konzeptuell zusammenhalten soll und wohin es diejenigen, die Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens in ihm verbringen, am Ende führen will.

Bildung als kulturelles Erbe der Menschheit

Für Wilhelm von Humboldt, der im frühen 19. Jahrhundert die entscheidenden Anstöße für einen Neuaufbau des preußischen Schul- und Universitätssystems gab, dessen Grundstrukturen bis heute nachwirken, war klar, dass ein solcher Neuaufbau einer gemeinsamen Vorstellung von allgemeiner Menschenbildung bedurfte, die für das ganze System prägend sein musste. Rund 150 Jahre später formulierte der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki diese unverändert aktuelle Notwendigkeit so: Wenn man verhindern wolle, dass in der pädagogischen Praxis "eine Fülle didaktischer Entscheidungen und Entwürfe in eine Vielzahl divergierender Akte" auseinanderfalle, bedürfe es eines Begriffs, der "jene dynamische Gesamtverfassung bezeichnet, zu der der junge Mensch sich durch Aneignung und personale Verlebendigung bestimmter Motivationen, Erkenntnisse, Erfahrungen, Fertigkeiten stufenweise durcharbeiten und die er dann in einem Prozeß der Integration immer neuer Erfahrungen produktiv ausbauen und bewähren" solle.

In der deutschen Sprache ist "Bildung" der "Inbegriff (…) dieses Gesamtauftrags". Dies ist nicht erst seit Klafki oder Humboldt der Fall. Die deutsche Sprache kann das, was im Englischen mit education gemeint ist, durch die Unterscheidung zwischen "Erziehung" und "Bildung" differenzierter ausdrücken. Bildung bezeichnet eine spezifische Qualität des Lehrens und Lernens, die über Erziehung hinausgeht. Während Erziehung sich prinzipiell auf die Integration junger Menschen in eine bestehende Ordnung und die Vermittlung der dafür notwendigen Normen, Fähigkeiten und Wissensbestände beschränken kann, zielt Bildung auf ein anderes Verhältnis des Einzelnen zur bestehenden Wirklichkeit ab. Humboldt beschrieb dieses als "Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung". Bildungsprozesse sind also solche, in denen sich der Mensch aktiv mit der äußeren Wirklichkeit auseinandersetzt und ein eigenständiges Verhältnis zu dieser entwickelt. Dabei geht es neben der Entfaltung individueller Potenziale, der Entwicklung des eigenen Weltverstehens durch neue Erfahrungen und der Formung der eigenen Persönlichkeit auch um die Fähigkeit und Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln in der gesellschaftlichen Praxis. Weil Bildungsprozesse damit stark an das Subjekt geknüpft und nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben abgeschlossen sind, können sie zwar von außen, etwa von Lehrenden, angeregt und gefördert, nicht aber in einem strengen Sinn gesteuert werden.

Gegen ein solches, hier nur knapp skizziertes Verständnis von Bildung ist wiederholt eingewandt worden, es sei eine Besonderheit des deutschen Bürgertums und ein überholtes Relikt des 19. Jahrhunderts. Davon kann jedoch keine Rede sein. Nicht nur basierte Humboldts Bildungstheorie auf einer langen Kette christlichen Bildungsdenkens in Europa, die schon im Neuen Testament beginnt und für die aus der europäischen Geistesgeschichte hier nur Meister Eckhart, Martin Luther und Johann Amos Comenius genannt werden sollen. Auch in der vorchristlichen Antike und in außereuropäischen Kulturräumen finden sich wirkungsmächtige pädagogische Vorstellungen und Praktiken, die mit dem deutschen Konzept der Bildung korrespondieren, vom hinduistisch, buddhistisch und konfuzianisch geprägten Asien über die klassische Periode des Islam bis zur jüdischen Tradition. Die Idee der Bildung ist ein kulturelles Erbe der Menschheit.

Bieris eingangs aufgegriffene Frage führt auf dieses Erbe zurück, und es ist auffallend, wie stark im deutschsprachigen Raum im vergangenen Jahrzehnt das Interesse an einem gehaltvollen Bildungsbegriff als pädagogischer Leitidee wieder gewachsen ist. Zu erklären ist dies wohl am besten durch das zunehmende Verblassen der Kompetenzorientierung, die vielfach als Ersatz für den Bildungsbegriff wirken sollte.

Grenzen der Kompetenzorientierung

Wie wäre es, kompetent zu sein? Offenkundig ist die Frage in dieser Form nicht sinnvoll beantwortbar, weil Kompetenz – im Unterschied zu Bildung – nur in Bezug auf ein "Wofür" bestimmbar ist. Schon daran ließe sich erkennen, dass der Kompetenzbegriff nicht geeignet ist, den der Bildung als Leitidee für Schulen und andere pädagogische Institutionen abzulösen, wie es vielerorts in Bildungspolitik und Wissenschaft infolge des "PISA-Schocks" ab 2001 versucht wurde. Unter dem Signum der "Kompetenzorientierung" sollte idealerweise eine Art Regelkreis etabliert werden, von dem eine neue, effektive Form der Steuerung des Schulsystems erhofft wurde: erstens die durchgängige Formulierung aller schulischen Ziele und Aufgaben in Form von Kompetenzen in staatlichen Vorgaben wie Bildungsstandards, Lehrplänen und Prüfungsanforderungen; zweitens die Modellierung der Vorgaben nach wissenschaftsbasierten Kompetenzmodellen; drittens die Graduierung der darin enthaltenen Kompetenzbereiche zur Festlegung von Graden der Zielerreichung; viertens die Messung der Leistungen von Schülerinnen und Schülern mittels standardisierter, landesweiter Tests; und fünftens die Rückmeldung dieser Ergebnisse an Schulen und Bildungspolitik mit dem Ziel kontinuierlicher Verbesserung.

Kaum etwas davon konnte auf einigermaßen kohärente Weise theoretisch ausgearbeitet und praktisch umgesetzt werden. Schon das Grundlagenpapier für diesen Ansatz, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebene und gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz 2003 veröffentlichte Expertengutachten "Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards" ließ spätere Bruchstellen erkennen. Bis in die 1990er Jahre war ein aus der Berufspädagogik kommender Kompetenzbegriff vorherrschend, der sehr stark fachunabhängig war, ja geradezu als Gegenkonzept zu fachlichen Verengungen verstanden wurde. Die Verfasserinnen und Verfasser des Expertengutachtens – heute nach dem Leiter der Arbeitsgruppe meist als "Klieme-Expertise" bezeichnet – sahen sich veranlasst, dieses Verständnis durch die inzwischen fast schon kanonische Definition des Psychologen Franz E. Weinert zu ersetzen, weil diese sich besser für fachbezogenes schulisches Lernen eigne. Hiernach sollten die "bei Individuen verfügbaren oder von ihnen erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten (…) sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können", als Kompetenzen verstanden werden. Als Facetten solcher Kompetenzen wurden "Fähigkeit", "Wissen", "Verstehen", "Können", "Handeln", "Erfahrung" und "Motivation" genannt. Bei Weinert sollte dieser Kompetenzbegriff allerdings lediglich dazu dienen, den vagen schulischen Leistungsbegriff zu präzisieren, und dies durchaus auch mit Blick auf fächerübergreifendes Lernen. Von einer Ersetzung des Bildungsbegriffs durch das Konzept der Kompetenz war bei Weinert nicht die Rede, er sprach noch von "Bildungszielen".

In der politischen Bildung sind nahezu alle Elemente der auf Kompetenzmessungen basierenden Outputsteuerung des Schulsystems, wie sie die Klieme-Expertise vorsah, inhaltlich umstritten. Um nur einige Fragen aufzuwerfen: Welche Probleme sollen gelöst werden? Welche Lösungen können als erfolgreich und verantwortungsvoll gelten? Welches Wissen ist relevant? Was genau meint "Verstehen"? Ebenso wie im Nachbarfach Geschichte wurden daher auch in der politischen Bildung zahlreiche heterogene und miteinander nicht kompatible Kompetenzmodelle entwickelt. Im Streit über solche Modelle wurden ältere Kontroversen über das jeweilige Fachverständnis erneut ausgetragen, nur eben jetzt in der Sprache der Kompetenzorientierung. In den Gesellschaftswissenschaften kann daher, wie in den meisten Fächern der Schule, keine Rede davon sein, dass sich eine standardisierte vergleichende Messung der fachlichen Kompetenzen habe realisieren lassen.

Man muss der Klieme-Expertise zugutehalten, dass zumindest in allgemeiner Form an "Bildung" als Referenzbegriff für die Schule festgehalten werden sollte, da "ohne Bezug auf allgemeine Bildungsziele (…) Kompetenzanforderungen reine Willkür oder bloße Expertenmeinung" seien. Auch sollten kompetenzorientierte Bildungsstandards, auf die die Messung des schulischen Outputs sich beziehen sollte, nicht das gesamte Curriculum, sondern nur einen Kernbereich der Fächer abdecken. Überdies wurde gefordert, kompetenzorientierte Vergleichstests strikt von Notengebung und Abschlussprüfungen zu trennen, weil es nicht darum gehe, den individuellen Leistungs- und Selektionsdruck auf Schülerinnen und Schüler zu erhöhen.

Solche argumentativen Absicherungen blieben letztlich wohl auch deshalb wirkungslos, weil sie in der Klieme-Expertise zwar postuliert, aber hinsichtlich ihrer Konsequenzen nicht konkretisiert wurden. Stattdessen gab es in den Folgejahren eine übersteigerte, blasenartige Ausweitung der Kompetenzorientierung auf alles, was irgendwie mit Lehren und Lernen zu tun hat. Alle Bereiche der Schule, die Fächer ebenso wie soziales Lernen oder Demokratiepädagogik, und außerschulische Handlungsfelder von der Kindertagesstätte ("Der kompetente Säugling") über die berufliche Weiterbildung bis hin zur Trauerbegleitung bei Sterbefällen sollten nun auf irgendeine Weise kompetenzorientiert werden.

Die Transformationen, die die Kompetenzorientierung im Zuge dieser Entwicklungen erfahren hat, und die Widersprüche und Ausweglosigkeiten, in die diese geführt haben, können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Zwanzig Jahre nach der ersten PISA-Studie spricht aber vieles für die These, dass die Kompetenzorientierung an ihr Ende gelangt – noch nicht unbedingt in der Praxis, die in aller Regel zeitverzögert auf neue Entwicklungen reagiert, aber doch in konzeptueller Hinsicht und sicher in dem Anspruch, in ihr eine Alternative zur Idee der Bildung zu sehen. In den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern stagniert die Theoriediskussion zu diesem Thema seit den frühen 2010er Jahren. Auch in der Forschung, wie sich beispielsweise an der Themenwahl abgeschlossener Dissertationen zeigt, ist die Kompetenzorientierung an den Rand geraten.

Abschied von der Evidenzbasierung?

Hat sich damit alles erledigt, was die Kompetenzorientierung hervorgebracht hat? Durchaus nicht. Mit dem Begriff der "Kompetenz" verbindet sich im Kern die Absicht, Wissen und Können zusammenzudenken. Diese Intention wendet sich sowohl gegen eine schulische Stoffvermittlung um ihrer selbst oder allein der Benotung willen als auch gegen eine rein auf beobachtbares Verhalten bezogene Beschreibung von Lernergebnissen, auf die die frühere Lernzielorientierung abzielte. Insofern kann der Kompetenzbegriff für die Planung vieler schulischer Lernangebote durchaus fruchtbar sein. Allerdings taugt er nicht als Universalschlüssel für die Lösung aller Legitimations-, Planungs- und Evaluationsprobleme schulischen Lehrens und Lernens.

Zwei weitere Aspekte, die von der Kompetenzorientierung stark gefördert wurden, haben sich ebenfalls als weiterführend erwiesen. Erstens ist dies die Aufmerksamkeit für das Vorverstehen der Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt von Unterrichtsplanung, die in der Didaktik der politischen Bildung zu einer Reihe von Studien zur Diagnostik dieser Vorstellungen führte. Zweitens setzte sich ein konstruktivistisch beeinflusstes Verständnis fachlichen Wissens als System von Konzepten und mentalen Modellen durch, mit dem eine naive Sicht auf Wissen als objektiver Bestand von Tatsachen und Wahrheiten überwunden wurde. Dagegen gehe es in der politischen Bildung, wie es einem Entwurf für kompetenzorientierte Bildungsstandards heißt, "um grundlegende Annahmen, um Deutungen und Erklärungsmodelle über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht", also um solches Wissen, "das Schülerinnen und Schülern den Sinngehalt und die innere Logik von Institutionen, Ordnungsmodellen und Denkweisen" erschließt. Hier deutet sich auch schon der Übergang von Kompetenz zu Bildung an, denn: "In Bildungsprozessen kommt es letztlich auf Sinn-Verstehen an!"

Der Bildungs- und Erziehungswissenschaftler Ulrich Herrmann hat einen bedenkenswerten Vorschlag gemacht, wie Kompetenzen und Bildung, ergänzt um einfachere Fertigkeiten (Qualifikationen), in Beziehung zueinander zu bringen wären: Ohne Qualifikation gebe es "keine technisch richtige Problembearbeitung", ohne Kompetenz "keine Beurteilung möglicher sinnvoller Problemlösungen". Dieses Verständnis von Kompetenz markiere zugleich bei der Frage, "welche Instanz es denn für die Sinnhaftigkeit einer Handlung/Unterlassung oder für die Wünschbarkeit eines technisch korrekten und fachlich kompetenten Vorhabens" gebe, den Unterschied zu Bildung. Diese Relationierung lässt sich gut auf politische Bildung beziehen.

Um Qualifikation ginge es hiernach, wenn beispielsweise zu prüfen ist, welche vorgeschlagenen Lösungen für ein politisches Problem rechtlich, finanziell oder aufgrund von Mehrheitsverhältnissen überhaupt möglich wären; um Kompetenz, wenn mögliche Folgen verschiedener Lösungen abzuschätzen sind; um Bildung schließlich, wenn Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage ihres politischen Weltverstehens die Sinnhaftigkeit und Wünschbarkeit von Lösungen begründet beurteilen. Ein Hinweis auf erfolgreiche Bildungsprozesse wäre es dann, wenn diese Schülerinnen und Schüler durch den Unterricht in Bezug auf ihr politisches Weltverstehen Bestärkung, Ergänzung durch neue Aspekte oder Irritation, eventuell sogar eine Selbstkorrektur erfahren.

Es sollte an diesem Beispiel auch zu erkennen sein, dass in der politischen Bildung eine standardisierte vergleichende Messung von Lernergebnissen umso leichter möglich ist, je trivialer das Anspruchsniveau bleibt. Relativ einfach machbar wäre sie bei Qualifikationen, praktisch unmöglich bei Bildungsprozessen, auf die es aber letztlich ankommen muss. Unmöglich ist eine solche Messung, weil Bildungsprozesse sich auch bei gleichem Leistungsniveau eben nicht in standardisierbaren Arbeitsergebnissen zeigen müssen. Sie können sich durchaus in individuell verschiedenen, nur sehr begrenzt vorhersehbaren Ausdrucksweisen niederschlagen, bei denen unter Umständen die überraschendste Schüleräußerung zugleich die qualitativ beste sein kann.

Bedeutet dies den Abschied von der Idee der Evidenzbasierung in der Schulpolitik? Erwartet man von Evidenzbasierung im Sinne des oben skizzierten Regelkreises eine durch quantitative Daten gestützte Steuerung der Bildungswirkung von Schulen, dann wäre ein solcher Abschied unumgänglich. Gerade wenn schulischer Unterricht im Sinn von Bildung anspruchsvoller werden soll, entzieht er sich der vergleichenden Messung seiner Ergebnisse. Das heißt nicht, dass Bildungseffekte überhaupt nicht erforschbar wären. Die qualitative Forschung bietet ein großes methodisches Repertoire, das für eine Bildungsforschung nutzbar gemacht werden könnte, die diesen Namen tatsächlich verdienen würde, indem sie sich ganz auf die Erforschung von Bedingungen, Formen und Ergebnissen von Bildungsvorgängen fokussiert.

Auf der anderen Seite haben auch quantitative Daten über das Schulsystem und seine Kontexte in der Gesellschaft ihren Sinn für die Schulpolitik. Die Stärke quantitativer Forschung in Bezug auf Schule liegt zwar nicht auf der Mikroebene von Bildungsprozessen bei Schülerinnen und Schülern, wohl aber auf der Makroebene der Systembeobachtung. Es liegt auf der Hand, dass beispielsweise Daten über die demografische Entwicklung, den schulischen Erfolg oder Misserfolg von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen, die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft in verschiedenen Schulformen oder Effekte finanzieller Investitionen für jede verantwortliche Schulpolitik von größtem Interesse sein müssen. So sinnvoll Bestandsaufnahmen wie etwa der alle zwei Jahre veröffentlichte "Nationale Bildungsbericht" in Deutschland daher auch sind – eine sprachliche Präzisierung wäre dringend wünschenswert. Denn nicht jeder Kita-Besuch ist schon eine "Bildungsbeteiligung", nicht jede öffentliche Investition in Kindergärten, Schulen oder Hochschulen ist bereits eine "Bildungsausgabe", und die Verteilung von Schul- und Hochschulabschlüssen in der Bevölkerung ist nicht gleichzusetzen mit deren "Bildungsstand".

Bildung als Leitidee der politischen Bildung

Politische Bildung verknüpft Menschen mit einer bestimmten Dimension der Wirklichkeit, indem sie ihnen "Politik" respektive "das Politische" als ein Feld des Denkens, Verstehens, Urteilens und Handelns erschließt. Politische Bildung nimmt somit den Menschen – in Anlehnung an Aristoteles – als zoon politikon in den Blick, als politisches Wesen. Bildung ermöglicht und fördert politische Bildung, indem sie nicht die erzieherische Adaption eines vorgegebenen Verständnisses vom Menschen als zoon politikon betreibt, also etwa die Übernahme einer vordefinierten Untertanen- oder Bürgerrolle. Vielmehr bietet sie – durchaus im Sinne von Humboldts Verständnis einer Wechselwirkung – Lernenden einen offenen Horizont für die Auseinandersetzung mit politischen Fragen und Problemen an, durch die sie ihr Verständnis von der politischen Dimension des menschlichen Zusammenlebens vertiefen und erweitern können, sei es im Sinne von Ergänzung, Irritation oder Veränderung.

Wie jede Bildung zielt also politische Bildung auf eine Horizonterweiterung im Weltverstehen von Menschen. Im Bereich der Schule ist dabei, wenn in der Sekundarstufe I ein eigenes Unterrichtsfach für politische Bildung beginnt, bei Schülerinnen und Schülern mit bereits ausgeprägten Grundvorstellungen über Politik zu rechnen. Soll politische Bildung bildend wirken, muss sie solche bereits vorhandenen Vorstellungen erreichen, zur Sprache bringen und in Auseinandersetzungen mit neuen Erfahrungen zu Weiterentwicklungen anregen – etwa durch Wissenserweiterung, Denkanstöße, Fragen, Problematisierungen oder Gegenpositionen. Die Entwicklungsrichtung, auf die Bildung in der politischen Bildung hier abzielt, lässt sich in Kurzform als Komplexitätszuwachs charakterisieren. Konkret kann dies bedeuten, von der bloßen Meinungsäußerung zu reflektierten und zunehmend differenzierter begründeten politischen Urteilen, vom Bewusstwerden eigener Interessen zur Einbeziehung der Interessen anderer in politische Entscheidungen, von einem moralischen Egozentrismus zu universalisierbaren Bewertungsgründen, von oberflächlichem und bruchstückhaftem Wissen zu komplexerem Konzeptverstehen und von spontanem Aktionismus zu strategischem Denken bei der Frage nach politischen Handlungsmöglichkeiten zu gelangen.

Dies betrifft auch die emotionale Seite des Politikverstehens, die jüngst in der Didaktik der politischen Bildung verstärkte Aufmerksamkeit gefunden hat. Emotionen werden dabei nicht mehr als Gegensatz zur Rationalität verstanden, sondern als Ausdruck subjektiver Gewissheiten, die jeweils einen zentralen Referenzpunkt für wertende politische Urteile der Individuen bilden. Emotionen vermitteln somit "ein orientierungsstiftendes sowie handlungsvermittelndes Wissen über das Selbst und die eigenen Beziehungen zur Welt". Sie beziehen sich "in besonderer Weise auf Überzeugungen, Wünsche, Haltungen und Wertvorstellungen eines gelingenden Lebens". Es liegt auf der Hand, dass Emotionen damit für politische Bildungsprozesse von hoher Relevanz sind. Was jemand etwa unter Gerechtigkeit versteht, und wie wichtig ihm oder ihr dieser Wert ist, kann eng mit Emotionen wie Zufriedenheit, Stolz, Neid und empfundener Unter- oder Überlegenheit verbunden sein. Noch gibt es zwar wenig Forschung zur subjektiven Entwicklung politisch relevanter Emotionen. Aber die Emotionsforschung legt doch deutlich die Erwartung nahe, dass Emotionen ein Feld für Bildungsprozesse in der politischen Bildung sein können. Dies kann durch die bewusste Wahrnehmung und Reflexion emotionaler Anteile an politischen Urteilen und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wahrnehmungen im Unterricht geschehen. Es ist dann möglich, dass durch neue Bildungserfahrungen beispielsweise Ressentiments vermindert, Mut gestärkt, Unsicherheiten überwunden oder neue Zuversicht vermittelt werden können.

Politische Bildung begegnet der Vielfalt individueller Entwicklungsmöglichkeiten mit großer, aber nicht unbegrenzter Offenheit. Nicht jede Transformation von Welt- und Selbstverständnissen durch neues Lernen kann sinnvoll als Bildung verstanden werden. Beispielsweise wird man die Entwicklung von Jugendlichen zu islamistischen Extremisten und Gewalttätern beim "Islamischen Staat", die im vergangenen Jahrzehnt auch in Deutschland vorkam, schwerlich als Bildungsweg bezeichnen wollen. Bildung ist nicht normativ neutral. Die Idee der Bildung ist seit jeher mit der Vorstellung von der Bildsamkeit von Menschen verknüpft. Bildsamkeit heißt aber bis zu einem gewissen Grad Unverfügbarkeit für andere Menschen, und diese ist mit Freiheit und Menschenwürde verbunden. Diese Würde, Unverfügbarkeit, Freiheit und Bildsamkeit allen Menschen zuzuerkennen, gehört zum normativen Selbstverständnis der europäischen Kultur und hat seine frühesten Wurzeln in der christlichen Tradition. Dieses Erbe bietet auch heute für die normative Grundlegung von politischer Bildung fruchtbare Perspektiven.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein?, in: Heiner Hastedt (Hrsg.), Was ist Bildung? Eine Textanthologie, Stuttgart 2012, S. 228–240. Siehe auch Robert Spaemann, Wer ist ein gebildeter Mensch?, in: Heiner Hastedt (Hrsg.), Was ist Bildung? Eine Textanthologie, Stuttgart 2012, S. 223–227.

  2. Zit. nach Herwig Blankertz, Theorien und Modelle der Didaktik, München 19748, S. 33.

  3. Ebd.

  4. Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Allgemeine Bildung. Analysen zu ihrer Wirklichkeit, Versuche über ihre Zukunft, Weinheim–München 1986, S. 34.

  5. Vgl. ausführlicher Wolfgang Sander, Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft, Frankfurt/M. 2018.

  6. Vgl. z.B. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M.–Leipzig 1994.

  7. Vgl. Thomas Söding, Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments, Freiburg/Br. 2016.

  8. Vgl. Sander (Anm. 5), S. 95–130.

  9. Vgl. u.a. Jan Roß, Bildung. Eine Anleitung, Berlin 2020; Harald Lesch/Ursula Forstner, Wie Bildung gelingt. Ein Gespräch, Darmstadt 2020; Wolfgang Böttcher/Ulrich Heinemann/Botho Priebe (Hrsg.), Allgemeinbildung im Diskurs. Plädoyer für eine Kernaufgabe der Schule, Hannover 2019; Konrad Paul Liessmann, Bildung als Provokation, München 2019; Markus Rieger-Ladisch, Bildungstheorien zur Einführung, Hamburg 2019; Armin Nassehi/Peter Felixberger (Hrsg.), Kursbuch 193, 301 Gramm Bildung, Hamburg 2018; Michael Spieker/Krassimir Stojanov (Hrsg.), Bildungsphilosophie. Disziplin – Gegenstandsbereich – Politische Bedeutung, Baden-Baden 2017; Andreas Gruschka, Der Bildungs-Rat der Gesellschaft für Bildung und Wissen, Opladen–Berlin–Toronto 2015; Dieter Lenzen, Bildung statt Bologna!, Berlin 2014; Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013; Hans-Christoph Koller, Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012.

  10. Eckhard Klieme et al., Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Bonn 2003.

  11. Ebd., S. 72f.

  12. Vgl. Franz E. Weinert, Vergleichende Leistungsmessung an Schulen. Eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: ders. (Hrsg.), Leistungsmessungen an Schulen, Weinheim–Basel 2001, S. 17–31.

  13. Ebd., S. 17.

  14. Vgl. Wolfgang Sander, Zurück zur Bildung? Die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer nach der Kompetenzorientierung, in: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften (ZDG) 2/2019, S. 93–111.

  15. Klieme et al. (Anm. 10), S. 23.

  16. Vgl. ebd., S. 48f.

  17. Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familien und Frauen/Staatsinstitut für Frühpädagogik (Hrsg.), Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Handreichungen zum Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder in Tageseinrichtungen bis zur Einschulung, München 2010, S. 14.

  18. Vgl. z.B. Standards in der Trauerbegleiterqualifikation, o.D., Externer Link: https://bv-trauerbegleitung.de/standards/qualitaetsstandards.

  19. Vgl. Wolfgang Sander, Die Kompetenzblase. Transformationen und Grenzen der Kompetenzorientierung, in: ZDG 1/2013, S. 100–124.

  20. Vgl. Promotionen und Habilitationen in den Fachdidaktiken seit 2014, 31.10.2019, Externer Link: http://www.fachdidaktik.org/wp-content/uploads/2019/10/Fachdidaktische-Promotionen-und-Habilitationen-seit-2014-Stand-2019-10-31.pdf. Die Übersicht politikdidaktischer Dissertationen von 2014 bis 2018 zeigt, dass von 38 Arbeiten lediglich eine (von 2015) den Begriff der "Kompetenz" im Titel führt. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass eine kleine Zahl weiterer Arbeiten indirekten Bezug auf bestimmte Problemstellungen aus der Kompetenzdebatte nimmt, ist doch der Relevanzverlust dieser Debatte für die Fachdidaktik nicht zu übersehen.

  21. Vgl. z.B. Mirka Mosch, Diagnostikmethoden in der politischen Bildung. Vorstellungen von Schüler/-innen im Unterricht erheben und verstehen, Gießen 2013.

  22. Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung, Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf, Schwalbach/Ts. 2004, S. 14.

  23. Wolfgang Sander et al., Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Schwalbach/Ts. 2016, S. 98.

  24. Ulrich Herrmann, "Bildung", "Kompetenz" – oder was?, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 3/2012, S. 487–498, hier S. 496.

  25. Vgl. Wolfgang Sander, Politik entdecken. Freiheit leben, Didaktische Grundlagen politischer Bildung, Schwalbach/Ts. 20134, S. 75ff.

  26. Vgl. Annette Petri, Emotionssensibler Politikunterricht. Konsequenzen aus der Emotionsforschung für Theorie und Praxis politischer Bildung, Frankfurt/M. 2018; Anja Besand/Bernd Overwien/Peter Zorn (Hrsg.), Politische Bildung mit Gefühl, Bonn 2019.

  27. Petri (Anm. 26), S. 53.

  28. Dies., Unbehagen gegenüber Neid entwickeln. Ein Ziel politischer Bildung? Über Emotionen in Prozessen politischer Bildung, in: Besand/Overwien/Zorn (Anm. 26), S. 203.

  29. Vgl. Sander (Anm. 5), S. 134–153.

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ist emeritierter Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. E-Mail Link: wolfgang.sander@sowi.uni-giessen.de