Einleitung
Es mangelt nicht an Diagnosen: Deutschland gehört zu den Ländern mit der weltweit niedrigsten Geburtenrate. Nirgends ist die Kluft zwischen Kapitalreichtum und Kinderarmut größer als hier. Das seit 1972 ununterbrochen anhaltende Geburtendefizit der deutschen Bevölkerung unterhöhlt den Generationenvertrag, auf dem das System der Sozialversicherung seit 1957 beruht. Mit einer Geburtenrate von 1,3 wird nicht nur das bei 2,1 liegende Reproduktionsniveau der Gesellschaft weit verfehlt, die deutsche Gesellschaft selbstunterliegt einem dramatischen Alterungsprozess. Diese unausweichliche Entwicklung stellt nicht nur die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung vor einen bisher unbekannten Reformbedarf, sie belastet auch die wirtschaftliche Entwicklung, das Bildungssystem, den Wohnungsmarkt und nicht zuletzt die Innovationsfähigkeit. Zusammen mit der Binnenwanderung führt sie darüber hinaus zur Entvölkerung ganzer Regionen, vor allem in Ostdeutschland. Der Generationenkonflikt scheint vorprogrammiert.
Wenn der Alterslastquotient, also der Anteil der über 65-Jährigen, sich von 24 Prozent am Ende des vergangenen Jahrhunderts auf 51 Prozent 2050 mehr als verdoppelt, wenn zehn Erwerbstätige nicht mehr die Rente von fünf, sondern von zehn Rentnern zu finanzieren haben, dann ist es um die Generationengerechtigkeit geschehen, wenn denn Generationengerechtigkeit heißt, dass eine Generation der folgenden so viele Lebens- und Entfaltungschancen hinterlässt, wie sie selbst vorgefunden hat. Es herrscht sehr große Einigkeit in der Einschätzung der Dramatik der demographischen Entwicklung. Diese zerbricht allerdings schnell, wenn es darum geht, die Ursachen der demographischen Katastrophe zu benennen. Warum werden in Deutschland so wenige Kinder geboren? Liegt es an der finanziellen Belastung, die Kinder für ihre Eltern mit sich bringen? An der Transferausbeutung der Familien in unserem Sozialversicherungssystem? An der familienfeindlichen Emanzipationsideologie der 1960er und 1970er Jahre? An der durch Reformen des Scheidungsrechts begünstigten Instabilität von Ehe und Familie? An der Bindungsangst der jungen Generation? An der Einführung der hormonellen Empfängnisverhütung Mitte der 1960er Jahre und der Freigabe der Abtreibung Anfang der 1970er Jahre? An der mangelnden Vereinbarkeit von Beruf und Familie? An den fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen? Solange über die Ursachen des Geburtenrückgangs kein Konsens zu erzielen ist, solange wird eine Erfolg versprechende Therapie nicht zu entwickeln sein.
Die öffentliche Debatte erweckt gegenwärtig den Eindruck, als sei die Ursache klar: die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Selbst wenn die Schwierigkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren, wirklich die einzige Ursache oder auch nur die Hauptursache des Geburtenrückgangs wäre, so ist damit noch keineswegs geklärt, wie diese Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden könnte - ob durch den heute favorisierten Ausbau der staatlichen Betreuungseinrichtungen oder durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für einen Wiedereinstieg der Mütter ins Berufsleben nach einer kinderbedingten Unterbrechung. Es gibt daneben aber noch eine Reihe tabuisierter Ursachen des Geburtenrückgangs, und darüber hinaus in der Vereinbarkeitsdebatte Ziele, die - nur unzureichend verschleiert - mit der Erhöhung der Geburtenrate nichts zu tun haben, sowie Fragen, die ganz verdrängt werden.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist schwierig. Wer wollte das bestreiten. Einerseits haben sich die Frauenbiographien im vergangenen halben Jahrhundert verändert. In der Ausbildung von Mädchen und Jungen, von jungen Frauen und Männern ist - von der Schule bis zum Hochschulabschluss - nicht nur eine Gleichberechtigung, sondern ein faktischer Gleichstand erreicht worden. Und wer eine lange Ausbildung oder ein Studium erfolgreich absolviert hat, ist auch daran interessiert, den erlernten Beruf wenigstens eine gewisse Zeit lang auszuüben, auch wenn das zur Folge hat, dass das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden immer höher und das biologische Fenster für Empfängnis und Geburt von Kindern immer schmaler wird. Arbeit und Beruf sind darüber hinaus ein hohes Gut, ein Mittel nicht nur des Einkommenserwerbs, sondern auch der Gestaltung der Welt und der Selbstverwirklichung. Arbeit und Beruf ermöglichen es dem Menschen, mehr Mensch zu werden.
Andererseits ist die Erziehung von Kindern und das Management eines Familienhaushaltes nicht nur eine Beschäftigung für den Feierabend, sondern selbst ein Beruf, der in bestimmten Lebensphasen des Kindes nur schwer mit einem Erwerbsberuf vereinbar ist. Auch für diesen Beruf gilt, dass er ein Mittel ist, mehr Mensch zu werden. Aber der Beruf der Hausfrau und Mutter hat ein schwerwiegendes Defizit. Ihm fehlen Anerkennung und Einkommen. Dennoch geben derzeit (2004) rund zwei Drittel aller Frauen nach der Geburt eines Kindes ihren Erwerbsberuf vorübergehend auf. Mit einem Kind unter drei Jahren sind rund 30 Prozent der Mütter erwerbstätig. Ist das jüngste Kind im Kindergartenalter, sind es knapp 60 Prozent, und ist das jüngste Kind zwischen sechs und 14, sind es 70 Prozent.
Auf die Frage nach der Ursache für die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit scheint es nur eine Antwort zu geben: Es fehlen, so heißt es, nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auch in den Untersuchungen von Stiftungen und Instituten, Kinderbetreuungsinstitutionen, Kitas, Ganztagskindergärten (möglichst ohne oder mit nur ganz kurzen Ferien) und Horte. Dass es für die Entwicklung der Kinder besser sein könnte, wenn die Mutter zumindest in der Stillzeit ihren Erwerbsberuf ganz aufgibt, um sich ohne Stress dem Kind zu widmen, scheint als antiquiert zu gelten.
Schnelle Rückschlüsse von der Dichte der Kinderbetreuungseinrichtungen auf die Höhe der Geburtenrate sind aber wissenschaftlich nicht tragfähig. Sie werden allein schon durch einen Vergleich der Lage in Ost- und Westdeutschland widerlegt. In Ostdeutschland gab es 2004 für 37 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Krippenplatz, in Westdeutschland nur für 3 Prozent; in Ostdeutschland waren 98 Prozent der Kindergartenplätze Ganztagsplätze, in Westdeutschland nur 20 Prozent, Ostdeutschland hatte für 41 Prozent der 6- bis 11-Jährigen Hortplätze, Westdeutschland nur für 5 Prozent.
Die Erwartung, mit einer Ausweitung der staatlichen Kinderbetreuungseinrichtungen könne die Geburtenrate erhöht werden, wird schließlich widerlegt durch die Prioritäten der Betroffenen. In der Hierarchie der Bedingungen, die erfüllt sein sollen, um die Bereitschaft zu Kindern zu entwickeln, stehen die Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder weit hinter der Stabilität der Beziehung und dem partnerschaftlichen Konsens, dass beide sich ein Kind wünschen. Während 92 Prozent der 18- bis 44-Jährigen nach einer Allensbacher Untersuchung den Konsens im Hinblick auf den Kinderwunsch und 84 Prozent die Stabilität der Beziehung für entscheidend halten, rangiert die Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsmöglichkeiten mit 25 Prozent weit abgeschlagen nur an 9. Stelle von insgesamt 14 Voraussetzungen.
Die Tabus: Ehescheidung und Abtreibung
Der Wandel der weiblichen Biographie im vergangenen halben Jahrhundert hin zur Gleichberechtigung in Ausbildung und Studium wird in der Debatte über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie meist nur im Hinblick auf den Preis für die Geburtenrate betrachtet. Der Preis besteht in der Verengung des biologischen Zeitfensters der Frau, das für Empfängnis und Geburt von Kindern optimal ist. Dieses Optimum liegt im Alter von 26 bis 31. Das Risiko, dass der Kinderwunsch erst Gestalt annimmt, wenn sich das biologische Fenster schließt, ist groß. Schneller, als bei den ersten Karriereschritten erwartet, ist es zu spät für die Geburt eines Kindes oder weiterer Kinder nach einer ersten Geburt.
Weithin tabu scheint die Frage zu sein, obder Wandel weiblicher Biographien, der Trend zur eigenen beruflichen Absicherung auch mit dem Stabilitätsverlust der Partnerbeziehung zusammenhängt. Wenn vier von zehn Ehen im Laufe der Zeit geschieden werden, wenn nur 52 Prozent aller Verheirateten bzw. mit einem Partner Zusammenlebenden überzeugt sind, dass die eigene Partnerschaft ein ganzes Leben hält,
Tabuisiert wird auch die Frage, ob die katastrophale demographische Entwicklung etwas mit der Reform des Abtreibungsstrafrechts zu tun hat. Seit der Einführung der Fristenregelung sind Abtreibungen faktisch freigegeben. Daran haben auch die Verwerfung der Fristenregelung durch das Bundesverfassungsgericht am 25. Februar 1975 und die am 12. Februar 1976 eingeführte Indikationenregelung nichts mehr geändert. Mit den Reformen des § 218 StGB von 1992 und 1995 ist die Fristenregelung, kaum kaschiert durch das Beratungsangebot, dann erneut Gesetz geworden.
Mehr Kinder oder mehr Erwerbstätige?
Die gegenwärtige Familienpolitik begründet alle Forderungen nach einem Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, nach kostenlosen Kindertagesstätten und Kindergärten sowie nach der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten mit dem Geburtenrückgang und der notwendigen Erhöhung der Geburtenrate. In der politischen Debatte nur selten, umso unverhohlener aber in den einschlägigen Studien der Bertelsmann Stiftung, des Instituts der Deutschen Wirtschaft, des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung oder der Evangelischen Akademie Loccum wird die Forderung nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit einem anderen Ziel begründet: mit der Mobilisierung des weiblichen Arbeitskräftepotenzials. Da sich das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2050 um ein Drittel verringere, müssten Frauen, so die Studie der Bertelsmann Stiftung, in erheblich größerem Umfang als bisher erwerbstätig werden. Dies sei "volkswirtschaftlich notwendig, um künftige Fachkräfteengpässe und die Folgen der demographischen Verschiebungen zu begrenzen".
Die gegenwärtige Familienpolitik, die mit Kindergeld, Elterngeld, Steuerrecht und Ansprüchen auf Teilzeiterwerbstätigkeit das vollständige oder teilweise Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zwecks Kinderbetreuung erleichtert, führe nicht nur zu einer "Vergeudung von Humankapital, ineffizienter Allokation bei der Produktion haushaltsnaher Dienstleistungen und Risiken für die sozialen Sicherungssysteme",
Die Familienpolitik gerät in dieser Perspektive, in der sich arbeitsmarktpolitische und feministische Motive mischen, zur Magd der Arbeitsmarktpolitik. Die Frage, was dem Wohl des Kindes besser dient, die Erziehung in der Familie oder die Betreuung in öffentlichen Einrichtungen, wird nicht gestellt, geschweige denn seriös erörtert. Ob Betreuung dasselbe ist wie Erziehung, auch diese Frage wird nicht gestellt. Manche der Studien zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie restaurieren ungeniert die Krippenideologie der DDR, wenn beispielsweise in den Loccumer Protokollen behauptet wird, "die familienpolitische Unterstützung häuslicher Kinderbetreuung zu Lasten der Berufstätigkeit von Müttern konterkariert ... die Förderung von Chancengleichheit"
Die Studien kritisieren allesamt die bisherigen Instrumente der Familienpolitik als "ausgeprägt transferlastig".
Die Frage nach dem Wohl des Kindes wird nicht gestellt. Der Wert der Familie gilt zwar einstweilen noch als unverzichtbar - aber nur für die Reproduktion der Gesellschaft. Ihre Bedeutung für die Sicherung des Humanvermögens bleibt tabu. Wenn in der Vereinbarkeitsdebatte von Humanvermögen oder häufiger noch von Humankapital die Rede ist, dann meist von dem der Mutter, das dem Arbeitsmarkt nicht vorenthalten werden dürfe. Das Humanvermögen der zukünftigen Generation bleibt meist außerhalb des Blickfeldes. Völlig ausgeblendet bleiben die biologischen, psychologischen und gehirnphysiologischen Bedingungen seiner Entstehung.
Das Humanvermögen ist die Gesamtheit der Daseins- und Sozialkompetenzen des Menschen, die dem Erwerb von beruflichen Fachkompetenzen voraus liegen.
Die entscheidende Phase für die Entstehung dieses Humanvermögens ist die frühe Kindheit. Die Verhaltensbiologie und die Entwicklungspsychologie haben die Bedeutung dieser Phase, die nicht zwingend, aber doch in der Regel an die biologische Familie gebunden ist, die im Ausnahmefall auch von einer Adoptionsfamilie, nie aber von Betreuungseinrichtungen mit Gruppenbetreuung und wechselndem Betreuungspersonal gemeistert werden kann, immer wieder unterstrichen - sowohl positiv im Hinblick auf die Reifung der Persönlichkeit als auch negativ im Hinblick auf das Scheitern einer solchen Reifung als Folge frühkindlicher Betreuungs- und Bindungsmängel. Was die Verhaltensbiologie, die Psychologie und auch die Kinderheilkunde schon vor mehr als einer Generation wussten und auch verkündeten,
Bürgerrecht für die Familie
Will die Familienpolitik in Deutschland den Bedürfnissen und Entfaltungsbedingungen des Kindes um des künftigen Humanvermögens willen gerecht werden, muss sie sowohl die einzelnen Familienmitglieder fördern als auch die Institution Familie schützen. Sie darf sich weder in einer Familienmitgliederpolitik noch in einer Institutionenschutzpolitik erschöpfen.
Erstens: Transferzahlungen sind unersetzbar. Sie sind Investitionen in das Humanvermögen der Gesellschaft, ohne die das Kapitalvermögen verfällt. Sie sind nicht soziale Stütze. Erziehungs- bzw. Elterngeld, Erziehungsurlaub und Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht sind deshalb notwendig. Sie werden erst dann der Erziehungsleistung gerecht, wenn sie nicht nur symbolisch sind, sondern in Richtung eines Erziehungsgehaltes weiterentwickelt werden und Erziehung auch in der Familie als Beruf anerkennen.
Zweitens: Eine familienorientierte Familienpolitik muss den Müttern nach einer kinderbedingten Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit helfen, wieder in ihren früheren oder einen anderen Beruf einzusteigen. Sie sollte sich um der Kinder und der Mütter willen an einer sequenziellen statt an einer simultanen Vereinbarkeit von Familie und Beruf orientieren.
Drittens: Wer für die Familie das Bürgerrecht fordert, der muss sich der Frage des Familienwahlrechts stellen. Das Recht, in regelmäßigen Abständen die Regierenden bestimmen und dafür unter mehreren Kandidaten auswählen zu können, ist in der Demokratie das Privileg der Bürgerinnen und Bürger. Dieses Recht muss auch der Familie zuteil werden.