Einleitung
In beinahe allen industrialisierten Staaten und vor allem in Europa liegt die Geburtenziffer mittlerweile unterhalb des Bestanderhaltungsniveaus. Der Diskurs über die Folgen - nicht nur für die Sozialversicherungssysteme, sondern für die betroffenen Gesellschaften insgesamt - ist in der öffentlichen Debatte allgegenwärtig. Zu den in diesem Zusammenhang oftmals geäußerten Missverständnissen zählt die irrige Annahme, dass die Reproduktionsrate kontinuierlich fallen würde,
Im Zuge öffentlich geführter Verteilungsdebatten werden diese Ursachenkomplexe vielfach auf Egoismus und Karrierestreben partikularer Bevölkerungsgruppen verkürzt. Oft wird in diesem Zusammenhang von einer Werteverlagerung hin zu rücksichtsloser Ich-Bezogenheit und zu Hedonismus als zentrale Ursache einer niedrigen Geburtenrate gesprochen. Ohne jene Stigmatisierungen hier näher kommentieren zu können, ist festzuhalten, dass solche Zuordnungen schon deswegen zu kurz greifen, weil die Ursachen für den Geburtenrückgang zu vielfältig und zu komplex sind, um sie auf wenige Schlagworte oder gar Schuldzuweisungen verkürzen zu können.
Familiengründung im Lebenslauf
Der Entscheidung für oder gegen eine Familiengründung geht in den allermeisten Fällen ein komplexes Abwägen der unterschiedlichsten Lebensbedingungen, der situativen Gegebenheiten und der langfristigen Lebensplanungen voraus. Besonders deutlich zeigt sich die Komplexität des Entscheidungsprozesses im Spannungsverhältnis zwischen Familiengründung und Erwerbsbeteiligung. Tatsächlich setzen eine Vielzahl empirischer Untersuchungen an genau diesem Punkt an, da Familiengründung und berufliche Integration im Lebenslauf in ein sehr enges Zeitfenster fallen. Ein früher Übergang zur Elternschaft, noch in der Ausbildungsphase, stellt eher die Ausnahme denn die Regel dar.
Eine Familiengründung wirkt sich ähnlich wie die Teilnahme am Erwerbsleben deutlich auf das alltägliche Zeitbudget aus. Beide Bereiche strukturieren zudem maßgeblich die Lebensverläufe der Akteure und nehmen in signifikantem Umfang Lebenszeit in Anspruch. Die Realisierung des Kinderwunsches und der Job konkurrieren hier also in einem eng definierten Lebensabschnitt - die Familiengründungsphase ist meist bis zum 40., in seltenen Fällen bis zum 45. Lebensjahr abgeschlossen
Bildung und Erwerbsbeteiligung im Lebenslauf
Bis weit in die 1960er Jahre wurde dieser Ressourcenkonflikt durch eine traditionelle Rollenteilung in Zaum gehalten. Berufs- und Familienkarriere waren weitgehend zwischen den Geschlechtern aufgeteilt. Diese vermeintliche Balance war jedoch nicht von Dauer, was sich auch im Zuge der Bildungsexpansion der 1960er Jahre zeigte. Ein Ziel dieser Reform bestand darin, auch den Frauen in zunehmendem Maße Bildungschancen zu eröffnen. Durch die Öffnung des Bildungssystems wurde zugleich der Zugang zu höherer Bildung erweitert und damit die mittlere Verweildauer im Bildungssystem verlängert.
Für die Akteure war und ist es rational, die im Zuge der Ausbildung erworbenen Bildungspositionen auch in berufliche Statuspositionen zu transformieren. Da dieser Prozess der beruflichen Etablierung vor allem in höheren Bildungsgruppen sehr zeitintensiv ist, sind die Eltern bei Geburt des ersten Kindes heute älter als in der Vergangenheit, das heißtdas mittlere Alter bei Familiengründung steigt mit dem Bildungsniveau. Die in Deutschland vergleichsweise lange Ausbildungsdauer schlägt sich schließlich auch in den Familiengründungsmustern nieder: Während sich die Übergänge zur ersten Geburt etwa in Frankreich oder Finnland relativ breit über die gesamte fertile Phase verteilen, kommt es in Deutschland besonders häufig um das 30. Lebensjahr zu Familiengründungen.
Die Möglichkeiten der Realisierung eines Kinderwunsches werden nicht ausschließlich über Bildungs- und Erwerbsbeteiligung determiniert. Für viele Männer und Frauen reduziert sich dadurch allerdings der zeitliche Spielraum für eine Familiengründung auf wenige Jahre. Gelingt es in diesem Zeitraum nicht, eine stabile und verlässliche Partnerschaft aufzubauen - ein abermals zeitintensiver Prozess -, wird es schwierig, einen Kinderwunsch zu realisieren. Dies gilt umso mehr, als sich in der Kohortenabfolge Partnerschaftsverläufe zunehmend fragmentiert darstellen.
Antworten auf die Doppelbelastung zwischen Familie und Beruf
In der häuslichen Arbeitsteilung, wie auch in den Vorstellungen der Partner, ist in den letzten Dekaden eine Tendenz hin zu einer eher egalitären Rollenteilung zu erkennen. Bestimmte Aufgabenbereiche bleiben davon aber weitgehend unbeeinflusst und sind nach wie vor deutlich zwischen den Geschlechtern aufgeteilt.
Eine alternative Strategie besteht in der Einpassung einer Familiengründung in Erwerbsphasen mit unsicheren oder schlechten beruflichen Perspektiven. Ausgangspunktdafür ist die Annahme hoher Opportunitätskosten für Frauen.
Die Rolle der Familienpolitik
Im europäischen Vergleich stellt sich die Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Familie besonders prägnant in solchen Ländern dar, die geringe Unterstützungsleistungen und/oder traditionelle Geschlechterrollen propagieren. Länder, die Rollenkonflikte zwischen weiblicher Erwerbsposition und Familie durch staatliche Unterstützung und Anreizsystem abzuschwächen vermögen, sind Frankreich und die skandinavischen Sozialstaaten. Besonders deutlich treten Rollenkonflikte dagegen in Südeuropa, aber auch in Deutschland und Großbritannien zu Tage. Die sozialpolitischen Anstrengungen in diesen Ländern sind offenbar nicht dazu geeignet, Frauen in der Vereinbarkeitsproblematik zwischen Beruf und Familie hinreichend zu entlasten.
In Großbritannien erklärt sich dies aus der sehr begrenzten Unterstützung von Familien seitens des Sozialstaates. Demgegenüber werden in Deutschland in nicht unerheblichem Rahmen Transfers und Aufwendungen für Familien geleistet. Sie orientieren sich aber an einem traditionellen Familienleitbild und Geschlechterrollenmustern. Da Erwerbstätigkeit aber mittlerweile auch in weiblichen Lebensverläufen zur Normalität geworden ist, trägt die bisherige Ausgestaltung der deutschen Famlienpolitik eher zur Verschärfung des Konflikts zwischen Familien und Erwerbsrolle bei. Dies zeigt sich zunächst am unzureichenden Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Verfügbarkeit öffentlicher Betreuungsmöglichkeiten ist aber für eine Kombination von Beruf und Familie von großer Bedeutung - sofern familiale Netzwerke zur Übernahme von Betreuungsaufgaben nicht vorhanden sind. Auch wenn diese zur Verfügung stehen, werden sie durch steigende Mobilitätserfordernisse des Arbeitsmarktes erodiert, die nicht zuletzt - wie im Zuge der Arbeitsmarktreformen - von sozialstaatlicher Seite gefordert werden.
Des Weiteren impliziert eine Geburt auch einen zeitweisen Ausstieg der Frau aus dem Arbeitsmarkt. Während es in den skandinavischen Ländern und Frankreich zentrale Prämisse ist, die Mütter bei einer raschen Rückkehr zu unterstützen, werden in Deutschland längerfristig Transfers geleistet (24 Monate Erziehungsgeld). In zeitlicher Hinsicht werden darüber hinaus großzügige Möglichkeiten der Rückkehr auf den vorherigen Arbeitsplatz (36 Monate) gewährt. Diese auf den ersten Blick elternfreundliche Regelung forciert jedoch einen langfristigen Ausstieg der Frauen aus dem Arbeitsmarkt und erschwert eine Reintegration. Durch die lange Erwerbsabsenz wird abermals die Schwerpunktsetzung auf ein Ernährermodell gelenkt. Entsprechend der genannten Ausgestaltung der Familien- und Sozialpolitik ist es nicht verwunderlich, dass Elternzeiten, die grundsätzlich beiden Partnern offen stehen, fast ausschließlich von Frauen in Anspruch genommen werden. Unterstützt wird dieses traditionelle Rollenmuster auch durch steuerliche Regelungen (Stichwort Ehegattensplitting), die abermals den Fokus auf ein Ernährereinkommen lenken. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund immer noch geringerer erzielbarer Einkommen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Kritisch zu betrachten ist solch eine Entkopplung der Mütter vom Arbeitsmarkt auch deshalb, weil damit ihre ökonomische Eigenständigkeit geschwächt wird. Dies ist gerade in Anbetracht einer in der Kohortenabfolge zunehmenden Instabilität von Partnerschaften problematisch.
Die deutsche Familienpolitik forciert also eine Reproduktion traditioneller Geschlechterrollen. Diesem Bild entspricht auch die Tatsache, dass ein Pendant zum in Frankreich oder in skandinavischen Ländern üblichen Vaterschaftsurlaub
Geschlechterrollen und normative Anforderungen an Elternschaft
Zur öffentlichen Meinung über Geschlechterrollen hat dieses in der Sozialpolitik maßgebliche Familienleitbild nun eine reziproke Beziehung: Einerseits reflektiert dieses Muster sozialstaatlicher Unterstützung von Familien gängige Vorstellungen über Geschlechterrollen. Andererseits werden durch die Ausgestaltung der Familienpolitik traditionelle Vorstellungen über Geschlechterrollen reproduziert. Wie stark dieses Bild einer geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung in Deutschland verankert ist, hat die Debatte um die Vätermonate des neu einzuführenden Elterngeldes verdeutlicht: Kritik wurde vornehmlich unter dem Stichwort einer "Bevormundung" von Familien geübt, und dies, obwohl die Einführung der Vätermonate lediglich über Anreize einer erweiterten Bezugsdauer, nicht aber über Sanktionen geplant war. Gerade das Instrument der Vätermonate erscheint aber als vielversprechend, wenn es darum geht, auch die Väter stärker in Erziehungsaufgaben einzubinden und die Mütter im Konflikt zwischen Arbeitsmarkt und Familie stärker zu entlasten. In skandinavischen Ländern ist diese Regelung bereits seit vielen Jahren fester Bestandteil einer auf Geschlechtergleichstellung ausgerichteten Familienpolitik.
Dass eine geschlechtsspezifische Aufgabenteilung zwischen Familie und Beruf kein Universalismus ist - weder für ein Familienleitbild noch in der öffentlichen Meinung -, zeigt ein Blick nach Frankreich: Mutter-Kind-Beziehungen sind dort längst nicht so stark normativ besetzt wie in Deutschland. Aus sozial- historischen Hintergründen wird Familie in Frankreich weniger als exklusiver Bereich des Privaten betrachtet. Öffentliche Kinderbetreuung gehört entsprechend viel mehr zur gesellschaftlichen Normalität als in Deutschland. Dies gilt nicht nur für das zur Verfügung stehende Angebot, sondern auch für die Akzeptanz nicht-familialer Kinderbetreuung. Familienpolitik in Frankreich tritt damit primär als Förderung von Kind und Kindeswohl in Erscheinung; Erwerbstätigkeit von Frauen wird als Selbstverständlichkeit betrachtet und die Unterstützung der Lebensphase Mutterschaft entsprechend ausgestaltet.
Auch in der DDR waren Mutterschaft und Erwerbstätigkeit deutlich stärker entkoppelt als in der Bundesrepublik. Betreuung - auch von Kleinkindern - war gesellschaftlich akzeptiert. Eine Familiengründung bedeutete im Wesentlichen Erwerbsunterbrechung - nicht die Aufgabe der Teilnahme am Erwerbsleben. Der massive Geburtenrückgang in Ostdeutschland nach der Wende dürfte einerseits in der ökonomischen Verunsicherung durch Umstellung des Wirtschaftssystems begründet gewesen sein. Er war möglicherweise aber - andererseits - auch die Konsequenz einer Konfrontation mit einem Rollen- und Familienleitbild, das mit dem der DDR nur beschränkt kompatibel war.
Ausblick
Paradoxerweise haben vor allem jene Wohlfahrtsstaaten vergleichsweise hohe Geburtenniveaus, die, anstatt eine Trennung zwischen Erwerbs- und Familienrolle zu fördern, die Akteure in ihren Lebensplanungen unterstützen - gleich, ob diese im Einzelfall Erwerbskarriere, Familie oder eine Kombination beider Bereiche präferieren. Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel Schweden.
Einen Paradigmenwechsel in diese Richtung könnte die Einführung des Elterngeldes in Deutschland einleiten. Eine zentrale Grundlage dieses Modells, das die bisherige Förderung im Rahmen der Elternzeit ablöst, ist es, die Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen als Teil gesellschaftlicher Normalität zu betrachten. Dies zeigt sich zum einen in der Kopplung des Elterngeldes an ein vorheriges Erwerbseinkommen, was auch der häufigen Platzierung der Familiengründung im Anschluss an eine (erste) Erwerbstätigkeit Rechnung trägt. Zum anderen wird dies in der Erhöhung der mittleren Transfers (verglichen mit dem Erziehungsgeld) bei gleichzeitiger Verkürzung der Bezugsdauer deutlich. Die Anreizwirkung des Elterngeldes zielt damit klar auf Arbeitsmarktintegration, Familiengründung und rasche Reintegration. Zur effektiven Umsetzung dieser Maßnahme ist aber die Flankierung durch weitere Schritte, insbesondere durch einen Ausbau der Kinderbetreuungsangebote, von zentraler Bedeutung. Geschieht dies nicht, drohen sich die Vereinbarkeitskonflikte zwischen Beruf und Familie - durch die enge Kopplung des Elterngeldes an den Erwerbsprozess - eher noch zu verschärfen. Diese in Zukunft gar nicht erst entstehen zu lassen, macht einen geeigneten Maßnahmenmix erforderlich. Zentral sind hierbei eine auf Geschlechtergleichstellung ausgerichtete Politik und die Berücksichtigung der Bedeutung, die institutionelle Weichenstellungen auf weibliche und männliche Lebensverläufe ausüben.