Wenn wir fragen, ob Widerspruch einen Wert hat, und ob dieser Wert instrumenteller Natur ist ("Widerspruch ist wertvoll, weil er zu X führt") oder ein Zweck an sich ("Widerspruch ist immer wertvoll"), so entscheidet der Kontext jeweils mit, zu welchen Antworten wir gelangen. Im Bereich privater Beziehungen werden wir eher weniger von einem Selbstzweckcharakter des Widerspruchs ausgehen, und wenn wir ihm instrumentellen Wert zusprechen (etwa "Widerspruch macht Interessen sichtbar und führt eher als sein Gegenteil zu belastbaren Beziehungen"), werden wir ihn qualifizieren (etwa "Widerspruch ist nur in einer bestimmten Form wertvoll"). Im Bereich der Wissenschaft kann man ähnlich fragen und wird vielleicht andere Antworten finden, je nachdem, welches Wissenschaftsverständnis man zugrunde legt.
Im Kontext politischer Öffentlichkeit(en) hängt die Frage nach dem Wert von Widerspruch zunächst davon ab, ob wir sie auf demokratischem oder nicht-demokratischem Boden beantworten. Dort, wo das Prinzip der Volkssouveränität nicht geteilt wird, demzufolge Menschen sich selbst regieren dürfen oder andere zum Regieren bestimmen, die sie abberufen können, kann Widerspruch kaum ein Wert sein. Wo die Souveränität einer Gottheit, der Vorsehung oder einer allweisen Führerin behauptet wird, sind vielmehr Einmütigkeit und Gehorsam die entscheidenden Tugenden. Politischer Streit, das heißt der zur Methode gemachte Widerspruch, erscheint in einer solchen Perspektive als bedrohliches Anzeichen von Spaltung, Disharmonie und Schwächung. Widerspruch ist dann ein Problem im Sinne eines zu vermeidenden oder zu überwindenden Defizitzustandes.
Wenn wir die Frage nach dem Wert des Widerspruchs jedoch auf demokratischem Boden stellen, wird er zu einer Möglichkeit, die wir nicht ausschließen können und die wir auch nicht verachten sollten – zumindest, wenn wir keine Inkonsistenzen mit dem demokratischen Prinzip riskieren wollen. Unter Bedingungen der kollektiven Autonomie, wie in der Idee der Volkssouveränität ausgedrückt, ist jede(r) gleich souverän. Da sich die Gleichen jedoch keineswegs als individuelle Personen gleichen, treten in offenen demokratischen Gesellschaften unweigerlich verschiedene Meinungen zutage. Mit dieser Möglichkeit ist nicht nur zu rechnen, sie sollte auch nicht als grundsätzliches Übel beklagt werden, da sich sonst die Frage stellt, warum man nicht doch lieber – wenn Uniformität und Harmonie so zentrale Werte sind – auf politische Ordnungen setzt, die nicht alle Menschen eines politischen Volkes, sondern nur die besten, klügsten oder gerechtesten als souverän ausweisen. Das bedeutet, Demokraten müssen mit Widerspruch rechnen und dürfen ihn nicht prinzipiell ablehnen. Aber sollen sie ihn auch wertschätzen, also nicht nur hinnehmen? Und wenn ja, aus welchem Grund?
Aufklärung durch politischen Streit
Wenn alle Mitglieder eines politischen Gemeinwesens gleich souverän sind, müssen Vorstellungen darüber, wie gemeinsame Angelegenheiten geregelt werden sollen, öffentlich verhandelt werden. Das gilt aus Sicht des demokratischen Gleichheitsideals sowohl für Mehrheits- als auch Minderheitspositionen, die beide trotz faktischen Machtungleichgewichts in gleicher Weise für sich werben und mit demokratischen Mitteln entweder versuchen dürfen, Mehrheit zu bleiben oder zu ihr zu werden. Kollektive Selbstbestimmung einer aus Individuen bestehenden Gruppe bedarf öffentlicher Meinungsbildung, um zu Entscheidungen zu gelangen, die in demokratischen Verfahren getroffen werden und dabei stets unter dem Vorbehalt der Revidierbarkeit stehen.
Demokratische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ist daher kein linearer Prozess, der einen Anfang hat und einen eindeutigen Abschluss, sondern das Substrat demokratischer Kultur. Da die Art und Weise, wie der Einzelne seine Meinung bildet und zu welchen Entscheidungspräferenzen er gelangt, immer auch Auswirkungen auf seine Mit-Souveräne hat, ist es keineswegs gleichgültig, unter welchen Bedingungen demokratische Meinungsbildung erfolgt. Gerade dadurch, dass demokratische Entscheidungen nicht gültig sind, weil sie weise, gerecht oder moralisch sind, sondern weil sie durch den Willen einer (einfachen oder qualifizierteren) Mehrheit getroffen werden, haben Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens ein genuines Interesse an qualitätsvoller Meinungsbildung. Anders ausgedrückt: Wenn wir als Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens (fast) alles als Recht setzen können, sollten wir großes Gewicht darauf legen, uns zu fragen, was wir wirklich wollen (können).
In dieser Einsicht liegt ein erster Anhaltspunkt, um in politischem Streit nicht nur ein notwendiges Übel, sondern tatsächlich einen Wert zu sehen: Wir brauchen Widerspruch für qualitätsvolle Meinungsbildung. Wie genau kann politischer Streit nun aber dazu beitragen? Eine mögliche Antwort liegt darin, dass nur im Bewusstsein von alternativen Standpunkten und Sichtweisen der eigene Standpunkt bestimmt werden kann. Widerspruch trägt in diesem Sinne dazu bei, jene Transparenz herzustellen, die der demokratische "Markt der Ideen" erfordert: Wer steht wofür, und wo stehe ich? Nur durch Sichtbarmachung von Konfliktlinien gewinnen politische Meinungen an Kontur, können Gegnerschaften, die für das Politische konstitutiv sind, nachvollzogen und auch erfahren werden.
Wer sich politisch selbst erkennen will, profitiert aber nicht allein davon, dass andere sich im Widerspruch voneinander unterscheiden lassen, sondern auch von der Erfahrung des Widersprechens und Widersprochenwerdens selbst. Hierdurch wird Aufklärung in einem weiteren Sinne ermöglicht: dadurch, dass politische Meinungen, eigene wie andere, im Feuerbad der Kritik geprüft und dabei gehärtet oder korrigiert werden. Auf diese Weise kann etwas gestärkt werden, das für mündige Bürgerinnen unverzichtbar ist: Urteilskraft.
Wer unwidersprochen seine Meinung pflegt, dem entgeht die Chance, mögliche Schwachstellen in ihr zu erkennen. So sehr wir uns auch bemühen können, gegen uns selbst anzudenken, innerer Selbstwiderspruch kann niemals jene Irritationseffekte erzeugen, auf die es ankommt, um an der Richtigkeit der eigenen Meinung zu zweifeln und aus diesem Zweifel die Motivation zu ziehen, sie noch einmal zu überdenken. Eine Konfrontation mit neuen oder auch nur anders gedeuteten Tatsachen lädt dazu ein, sich mit den Grundlagen eigener Überzeugungen auseinanderzusetzen. Auf andere Wertorientierungen zu stoßen, kann zur Reflexion Anlass geben, was denn die eigenen Werte vorzugswürdiger macht. Wie kann jemand anders denken, als man selbst – und dabei vielleicht sogar noch (in anderen Hinsichten) ganz vernünftig oder zumindest kein so schlechter Mensch sein? Kann es etwa mehr als eine richtige Sichtweise auf dasselbe politische Problem geben? Weil wir fehlbar sind, so der norwegische Philosoph Gunnar Skirbekk, "müssen wir auf die anderen hören und uns ihren Argumenten und Betrachtungsweisen öffnen – um uns eigene Auffassungen zutrauen zu können".
Aufklärung in diesem weiteren Sinne ist daher ein wichtiges Korrektiv zum grundsätzlich voluntaristischen Charakter der Demokratie: Etwas gilt, weil es mehrheitlich gewollt ist und aus keinem anderen Grund. Nur dort aber, wo politische Interessen diskursiv herausgefordert werden und dadurch Begründungsdruck erzeugen, kann die Vorstellung, dass etwas eher gewollt werden kann als seine Alternative, überhaupt Fuß fassen. Was eher gewollt werden kann als etwas anderes, kann in demokratischen Kontexten jedoch keine wahrheitsfähige Frage sein, denn die objektiv beste oder objektiv vernünftigste Entscheidung kann es dort nicht geben, wo die Souveränität bei Menschen und eben nicht den klügsten, weisesten oder vernünftigsten Menschen liegt. So ist auch die aus politischem Streit hervorgehende Aufklärung im weiteren Sinne keine Garantie für "beste Entscheidungen", da das Recht, für sich selbst zu bestimmen, was als beste Entscheidung gilt, untrennbar mit der gleichen Souveränität der Mitglieder eines politischen Gemeinwesens verbunden bleibt.
Wenn also, wie hier behauptet, Widerspruch zu qualitätsvoller demokratischer Meinungsbildung beitragen kann, dann sprechen wir von bescheidenen Qualitätsstandards für Meinungen: Sie sollen im Bewusstsein möglicher Alternativen (Aufklärung im engeren Sinne) sowie unter Bedingungen von prüfender Kritik (Aufklärung im weiteren Sinne) gebildet werden. Mehr kann, gesteht man die Möglichkeit vernünftiger Nichtübereinstimmung ein,
Immer dann, wenn etwas als instrumenteller Wert hinsichtlich eines bestimmten Ziels angesehen wird, besteht dieser Wert in abhängiger Weise: Nur insofern also politischer Streit zu Aufklärung im hier beschriebenen Sinne beiträgt, wäre er wertvoll. Diese Bedingung ermöglicht nun konkrete Tauglichkeitsprüfungen beziehungsweise Qualifizierungen von Formen des Widerspruchs, die dem Ziel der Aufklärung im engen und weiteren Sinne dienen und solchen, bei denen es zumindest fraglich ist. Für die Auslotung der Grenzen der Meinungs(äußerungs)freiheit – ob ethische oder rechtliche, sei hier noch ausgeklammert – kann somit der instrumentelle Wert des Widerspruchs einer von mehreren Anknüpfungspunkten sein, und zwar in Form der folgenden Frage: Gibt es Formen des politischen Streits, die nicht zur qualitätsvollen demokratischen Meinungsbildung beitragen oder diese sogar verhindern?
Vom Unwert politischen Schein-Streits
Tatsächlich lassen sich Hinweise anführen, dass nicht jede Art von Widerspruch in diesem instrumentellen Sinne wertvoll ist. Wenn wir uns ein wenig von der idealen Theorie entfernen, ist festzustellen, dass politischer Streit – unabhängig von seinem Wert für die demokratische Willensbildung – für die unterschiedlichen Akteure immer auch einen (Un-)Wert hinsichtlich politischer Ziele bedeuten kann: So kann zum Beispiel einer politischen Gruppierung daran gelegen sein, die Standpunkte einer anderen Gruppierung gar nicht erst inhaltlich zu kritisieren, sondern sie schon grundsätzlich so zu delegitimieren, dass man sich die eigentliche Auseinandersetzung mit ihnen erspart. Oder im Bemühen um Geschlossenheit wird versucht, interne Konflikte zu kaschieren.
Keine Frage, politisches Kalkül und Taktieren dieser Art – wie erreiche ich meine politischen Ziele am besten? – hat auch in Demokratien Berechtigung. Jedoch gibt es ethische Schranken, die nicht zuletzt durch den instrumentellen Wert des politischen Streits für die demokratische Willensbildung gesetzt werden. Um ein paar Beispiele zu nennen: Es mag für die Erlangung oder Vermehrung politischer Macht dienlich sein, Gegnerinnen Positionen zu unterstellen, die sie gar nicht vertreten, um sie in den Augen (von Teilen) des demos zu diskreditieren. Diese Taktiken können von absichtlich missinterpretierten Äußerungen bis zu ausgewachsenen Desinformationskampagnen reichen (in denen etwa Internetseiten erstellt werden, die scheinbar der politische Gegner zu verantworten hat oder "Bot-Armeen" betrieben werden, die ein bestimmtes Meinungsklima vortäuschen). Auf diese Weise wird Transparenz – wer steht wofür und warum – und damit eine wesentliche Voraussetzung für qualitätsvolle Meinungsbildung verhindert.
Politischer Streit, der Widerspruch auf solche Weisen fabriziert, ist für die beschriebene Aufklärung im engeren Sinne wertlos, ja schädlich. Ähnliches gilt auch für Aufklärung im weiteren Sinne, zu der politischer Streit im demokratischen Kontext beitragen kann – oder eben auch nicht. Auf Argumente politischer Gegner nicht einzugehen – weil sie es nicht verdienten, ernst genommen zu werden, oder weil man danach trachtet, sie durch Diskussionsverweigerung symbolisch zu beschädigen –, führt dazu, dass eine sachliche Auseinandersetzung und damit auch eine kritische Prüfung der betreffenden Ansichten unterbleiben. Wo politische Meinungen als indiskutabel gelten, werden sie zurückgewiesen, nicht aber hinsichtlich ihrer Faktenbasis, Schlüssigkeit oder normativen Konsistenz analysiert – und schon gar nicht dekonstruiert, das heißt entsprechend ihrer Schwachstellen entzaubert. Das Nichtführen oder Abbrechen diskursiver Auseinandersetzungen verhindert durch den Verzicht auf Aufklärung im weiteren Sinne folglich qualitätsvolle demokratische Meinungsbildung.
Gesprächsverweigerung?
Doch auch jenseits der Logik politischer Klugheit bleibt die Frage, welche Formen des politischen Streits dem Zweck demokratischer Willensbildung entgegenkommen und welche nicht, brisant. Ist es nicht, so ein gängiger Einwand, mit Blick auf qualitätsvolle demokratische Willensbildung kontraproduktiv, politische Meinungen ernst zu nehmen, die offensichtlich grob falsch oder unerträglich sind? Würde nicht, wer ihnen widerspricht, sie dadurch bereits aufwerten und diskursiv stärken? Und müsste nicht, wenn Aufklärung im engeren und im weiteren Sinne erstrebt wird, die Möglichkeit, bestimmte Äußerungen öffentlich vorzubringen, in bestimmten Fällen abgelehnt beziehungsweise eingeschränkt werden?
Angesichts anhaltender Debatten um Falschinformationen, Verschwörungstheorien und Postfaktizität ist diese Frage keine bloß akademische, sondern selbst politischer Streitgegenstand. Abgesehen von der bereits betonten Relativität von Bewertungen dahingehend, was als Beitrag zur qualitätsvollen Willensbildung gesehen werden kann und was nicht, ist hier ein weiterer Aspekt bedeutsam, der von Kritikern an Diskursräumen, die auch dem "Irrtum" offenstehen, gelegentlich übersehen wird. Politische Meinungen tragen nicht als solche selbst schon zur Aufklärung bei, sondern erst durch Gegenüberstellung mit anderen Ansichten. Nur in antagonistischer Abgrenzung und Konfrontation lässt sich an ihnen lernen – über sich selbst und die anderen. Anders gesagt: Falschinformationen sind nur dann für die demokratische Meinungsbildung komplett wertlos, wenn man sie als solche stehen lässt und nicht herausfordert. Nach dem Motto des US-amerikanischen Philosophen Lee McIntyre: "Wenn wir Ideale haben, für die es sich zu kämpfen lohnt, dann lasst uns für sie kämpfen. Wenn unsere Werkzeuge als Waffen benutzt werden, lasst sie uns zurückerobern."
Damit ist freilich ein gewisser Optimismus dahingehend verbunden, dass sich unter Bedingungen fairen Wettbewerbs tendenziell das bessere Argument beziehungsweise "die Wahrheit" durchsetzt. Dieser Optimismus wird im modernen Kommunikationszeitalter – jede kann Medienmacherin sein und überall mitreden, spektakuläre Absurditäten erhalten mehr Aufmerksamkeit als nüchterne Differenziertheit, "digitale Stämme" hören einander nicht zu, sondern sprechen nur (abfällig) übereinander – nicht mehr breit geteilt. Die fatalistische Ansicht, dass es nicht lohnt, sich bestimmten Ansichten diskursiv entgegenzustellen, ist für die Demokratie allerdings gefährlich. Wie die Wissenschaftsphilosophin Cailin O’Connor und ihr Fachkollege James Owen Weatherall von der University of California erklären, besteht zwischen der Gesprächsverweigerung mit "postfaktischen" Zeitgenossen und dem gesellschaftlichen Einfluss von Falschinformationen ein wichtiger Zusammenhang: "Um von Menschen zu lernen, deren Ansichten sich von unseren unterscheiden, müssen wir mit ihnen verbunden sein, aber wir müssen ihnen auch genug vertrauen, um zu glauben, was sie mitteilen. In einem polarisierten Umfeld ist diese Art von Vertrauen schwer zu erreichen."
Angesichts dessen, dass Bedingungen fairen Wettbewerbs zwischen unterschiedlichen Standpunkten keine Selbstverständlichkeit sind, sondern immer auch politisch sichergestellt werden müssen – insbesondere durch unabhängige und unparteiliche öffentliche Medien – ist ein gewisses Maß an Realismus über die Möglichkeiten qualitätsvoller demokratischer Meinungsbildung durchaus heilsam. Es ist eben unter Vorzeichen demokratischer Freiheit nicht ausgemacht, dass das, was man für unumstößlich oder evident hält, von allen anderen ebenso eingeschätzt wird. Als Ansporn verstanden, seine Sichtweise immer wieder erneut zu vertreten und zu verteidigen, kann die Sorge um Diskurshoheit des "Irrationalen" ausgesprochen demokratiefördernd wirken – vorausgesetzt freilich, die für das demokratische Ethos entscheidende Haltung des Fallibilismus ("Ich kann mich irren") bleibt im Bewusstsein. Denn wenn ich an die Möglichkeit absoluter Wahrheit glaube, warum bejahe ich dann das demokratische Prinzip und nicht etwa das Führerprinzip?
Demokratische Streitkultur wächst in dieser Sichtweise nicht nur dort, wo man Widerspruch als Mittel zur Förderung qualitätsvoller Meinungsbildung (bereits) schätzt, sondern kann auch dort gedeihen, wo man diesen Wert (zunächst) nicht zuerkennt. Dabei ist es entscheidend, die Frage, welche Äußerungen dem Doppelziel "Aufklärung" förderlich sind und welche nicht, selbst als streitbar offen zu halten. Doch auch wenn man Widerspruch in gewissen Fällen keinen Wert zuerkennt, wie etwa dort, wo es sich um Widerspruch zu "unbestreitbaren Fakten" handelt, ist damit noch nicht entschieden, wie man damit umgehen soll. Gemessen am Zweck der qualitätsvollen demokratischen Willensbildung kann man "wertlose" Diskursbeiträge erdulden oder sich für ihre Ächtung aussprechen, wenn man sie für schädlich hält.
Angesichts der grundsätzlich gleichen Souveränität der Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens bestehen im letzteren Fall jedoch Einschränkungen dessen, was als schädlich gelten kann. Es reicht nicht aus, zu argumentieren, dass eine bestimmte politische Ansicht die Menschen in die Irre führt. Im Sinne politischer Gegnerschaft könnte man vielmehr alles daran setzen, mit diskursiven Mitteln gegenzuhalten. Schädlich in einem für die qualitätsvolle demokratische Willensbildung einschlägigen Sinne wird die Verbreitung politischer Ansichten erst dann, wenn sie diese Willensbildung selbst unterminiert – das heißt, wenn wie in den angeführten Beispielen politischer Manipulation die Transparenz über die Angebote am demokratischen Ideenmarkt gezielt angriffen wird oder wenn Standpunkte der öffentlichen Kritik entzogen werden. Letzteres kann auf unterschiedliche Weise geschehen: etwa, indem man Kritikerinnen droht oder sie Drohungen der eigenen Anhängerschaft ungeschützt aussetzt; oder auch indem man sich mit der Errichtung von diskursiven oder sprachlichen Tabuzonen, die nur unter Strafe der Stigmatisierung verletzt werden können, gegen jegliche Kritik immunisiert.
Freie Rede zwischen Recht und Ethik
Was bedeutet das bisher Gesagte für die Frage nach Redefreiheit? Unter dem Gesichtspunkt demokratischer Meinungsbildung sind die Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit zunächst ausgesprochen weit zu ziehen. Demokratische Willensbildung braucht den Widerspruch, gerade auch dort, wo er (zunächst) stört und wertlos erscheint. Und nur dann, wenn (Sprach-)Handlungen die Grundlagen demokratischer Willensbildung angreifen, das heißt Transparenz über Standpunkte und Kritik an ihnen unmöglich macht, ist die Schwelle erreicht, ab welcher die demokratische Souveränität von politischen Subjekten mit Verweis auf die demokratische Souveränität aller anderen beschnitten werden darf.
Das bedeutet aber nicht, dass nicht aus anderen Gründen Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit argumentierbar sind, etwa zum Schutz von Freiheitsrechten, wie sie Individuen in liberalen Demokratien gewährt werden. Da aber in diesen Freiheitsrechten traditionell die Meinungsfreiheit selbst enthalten ist, können ihre Schranken immer nur Abwägungsprodukte sein. Auch solche Fragen müssen unweigerlich streitbar bleiben, da es auch innerhalb liberaler Demokratien – man halte sich die Unterschiede zwischen Europa und den USA vor Augen
Um die Streitkompetenz der Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens zu fördern, benötigen wir aber nicht nur einen (möglichst) offenen Diskursraum, sondern auch einen zivilisierten Umgang miteinander, der es erlaubt, dass Widerspruch erfahren, geübt, ertragen und im besten Fall auch wertgeschätzt werden kann. Hier gilt es, die Frage nach den Grenzen von Meinungsäußerungsfreiheit nicht nur in einem rechtlichen Sinne zu stellen, sondern auch mit Bezug auf eine politische Ethik demokratischer Gegnerschaft.
Besondere ethische Verantwortung haben dabei Personen, die aufgrund ihres Einflusses auf die öffentliche Meinung Vorbildfunktionen einnehmen. Inwieweit sich etwa Politiker bemühen, im Umgang mit ihren Kontrahentinnen ethischen Idealen der Gegnerschaft zu entsprechen oder umgekehrt Konflikte in essenzialistischen Freund- und Feindschaftskategorien verhandeln, hat Auswirkungen auf die Streitkultur eines demokratischen Gemeinwesens: Es kann sie festigen oder erodieren lassen. Vorbilder zeigen, dass etwas möglich ist, was vielleicht unmöglich oder immens schwierig erscheint. Wenn etwa die langjährige Supreme-Court-Richterin Ruth Joan Bader Ginsburg mit ihrem inzwischen verstorbenen Amtskollegen Antonin Scalia, mit dem sie politisch nur wenig verband, dennoch einen wertschätzenden, im Privaten sogar freundschaftlichen Umgang pflegte, was können diejenigen davon lernen, die zurecht eine zunehmende Verhärtung und Kompromisslosigkeit politischer Frontstellungen beklagen?
Streit-Bildung
Neben einer solchen Rückbindung an Prinzipien demokratischer Ethik erfordert Streitkompetenz auch jenes Maß an Bildung, das es überhaupt erst ermöglicht, eine Behauptung von ihrer Begründung zu unterscheiden, eine Beschreibung von einer Vorschreibung, eine logisch gültige Ableitung von einem Fehlschluss. Damit ist keineswegs gesagt, dass Demokratie nur etwas für Gebildete ist. Das ist sie gerade nicht, denn Souveränität wird allen Menschen zugesprochen, unabhängig von Intelligenz oder Bildungsgrad.
Dennoch kann man gerade in Zeiten zerrütteter Diskussionskultur nicht darüber hinwegsehen, dass oft nicht der Wunsch nach Verletzung am Anfang so mancher missglückten Kommunikation steht, sondern die Unfähigkeit, seine Ansichten stringent zu artikulieren und auf Widerspruch entsprechend gekonnt zu reagieren. Formen solcher Sprachlosigkeit können dazu führen, dass politische Meinungen sich verhärten (etwa, wenn Argumente auf unterschiedlichen Ebenen vorgebracht werden oder gar nicht begriffen wird, worin man genau uneins ist) und in weiterer Folge zu Frustrationen führen, die wiederum Aggressionen hervorbringen. Den Umgang mit Widerspruch zu erlernen und zu üben, sollte daher ein Kernauftrag demokratischer politischer Bildung sein. Das Kontroversitätsprinzip in Verbindung mit philosophischer Argumentationslehre ist der methodische Königsweg zur Stärkung einer Haltung des sic et non ("so und [so] nicht"). Nur wer andere Ansichten theoretisch nachvollziehen kann, obwohl er sie nicht teilt, ist streitkompetent. Und nur wo ausreichend Menschen streitkompetent sind, kann Streitkultur als einzuübende Gewohnheit in der politischen Auseinandersetzung überhaupt erst entstehen.