Wie weit reicht in Deutschland die Meinungsfreiheit? Was darf man sagen und was nicht? Im Folgenden gebe ich einen Überblick über den Schutz der Meinungsfreiheit durch das Grundgesetz (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG), werfe dabei aber auch vergleichende Blicke auf die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 10 EMRK) und die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (First Amendment).
Das Gravitationszentrum: politische Rede
Die freie politische Rede ist das Gravitationszentrum der Meinungsfreiheit. Das ergibt sich aus der Normengeschichte und Regelungstradition dieses Grundrechts in den freiheitlichen Demokratien, an die der Parlamentarische Rat 1949 angeknüpft hat und nach der die Meinungsfreiheit "als politische Freiheit gegen jegliche Bevormundung gerichtet" war.
Die Meinungsfreiheit dient allerdings nicht nur demokratischen Zwecken. Sie lässt zunächst einmal alle Meinungen zu, gleich welchen Inhalts, und sichert so die "kommunikative Entfaltung schlechthin", in "allen Lebensbereichen, die auf Interaktion angewiesen sind".
Die demokratische Ausrichtung auf die öffentliche Willensbildung steht dabei nicht im Gegensatz zur individuellen Freiheit: Freiheit ist nicht nur die "halbierte" Freiheit des Bourgeois, sein eng verstandenes privates Eigeninteresse zu verfolgen, sondern auch die Freiheit der Citoyenne, sich die öffentlichen Angelegenheiten zu eigen zu machen, die Interessen der Allgemeinheit zu ihrem individuellen Interesse zu erklären und sich selbst für ihre Durchsetzung zu mobilisieren.
Wenn also zum Beispiel Schülerinnen und Schüler im Rahmen der "Fridays for Future" demonstrieren, dann ist das hohe Gewicht solch politischer Rede zu berücksichtigen, und zwar sowohl für die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG),
Die Meinungsfreiheit soll gewährleisten, dass die öffentliche Debatte "ungehindert, robust und offen" geführt werden kann, wie es in einem richtungweisenden Urteil des U.S. Supreme Court von 1964 heißt.
Ein besonders starker Schutz der politischen Rede kennzeichnet die Meinungsfreiheit auch unter der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Schutz der Meinungsfreiheit unterscheidet sich freilich ansonsten in diesen drei Grundrechtsordnungen erheblich voneinander: Am wohl weltweit stärksten ist er in den Vereinigten Staaten, schwächer dagegen unter der Menschenrechtskonvention, während das Schutzniveau des Grundgesetzes sich zwischen diesen Polen bewegt.
Das Bild dreht sich allerdings, wenn es nicht um die Abwehr staatlicher Eingriffe geht, sondern um den Schutz der Meinungsfreiheit vor privaten Akteuren, wie etwa den Betreibern sozialer Netzwerke: Während die Verfassung der Vereinigten Staaten davor überhaupt keinen Schutz gewährt (state action doctrine), sehen Grundgesetz und Menschenrechtskonvention hier einen stärkeren – nämlich überhaupt einen – Schutz vor, und zwar im Wege der sogenannten mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte auch gegen Private. Das europäische Grundrechtsverständnis trägt damit der Einsicht Rechnung, dass die Grundrechte "Freiheit für alle" sichern sollen, also gleiche und real wirksame Freiheit, die vor "Potenziale[n] des Machtmissbrauchs auch durch gesellschaftliche Machtträger" schützt.
Ungeachtet solcher wesentlichen Unterschiede aber genießt die politische Rede in allen drei Grundrechtsordnungen besonderen Schutz: Wie das Bundesverfassungsgericht sieht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte besonders wenig Spielraum für Meinungsbeschränkungen, wenn es um politische Rede (political speech) oder um Debatten über Fragen von öffentlichem Interesse (questions of public interest) geht.
Die Gedanken sind frei: Verbot der Standpunktdiskriminierung
Neben ihrer zentralen Bedeutung für die Demokratie ist für die Meinungsfreiheit ein weiterer Grundgedanke tragend, der ebenfalls die Geschichte der Kommunikationsfreiheiten insgesamt prägt: Die Gedanken sind frei.
Der Grundgedanke, dass der Staat kein "Sonderrecht" schon gegen bestimmte Meinungen als solche schaffen darf, findet sich schon in den Weimarer Debatten zur Meinungsfreiheit.
Allgemeine Gesetze, die die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG beschränken dürfen, sind danach nur solche Gesetze, die "nicht eine Meinung als solche verbieten", sondern "dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen".
Kurz gefasst: Ein Gesetz ist kein allgemeines Gesetz, sondern Sonderrecht gegen bestimmte Meinungen, wenn es nicht nur an Meinungsinhalte anknüpft, sondern sogar bestimmte politische, religiöse oder weltanschauliche Standpunkte diskriminiert (beispielsweise: nur politisch "rechte", nicht aber "linke"). Nicht schon jede Inhaltsanknüpfung, sondern erst eine Standpunktdiskriminierung begründet verbotenes Sonderrecht. Diese Unterscheidung weist eine deutliche rechtsvergleichende Verwandtschaft zu der Unterscheidung zwischen content discrimination und viewpoint discrimination in den Vereinigten Staaten auf. Auch der U.S. Supreme Court sieht in der viewpoint discrimination gleichsam die Kardinalsünde wider die Meinungsfreiheit.
Das Verbot der Standpunktdiskriminierung gilt grundsätzlich für alle meinungsbeschränkenden Gesetze, das heißt auch für Gesetze zum Schutz der Jugend, der Ehre oder sonstiger kollidierender Verfassungsgüter.
Sonderrechtsgedanke und Verhältnismäßigkeit
Der Sonderrechtsgedanke, nach dem Meinungen nicht schon als solche unterbunden werden dürfen, kommt nicht nur im Gebot der Allgemeinheit des Gesetzes aus Art. 5 Abs. 2 GG zur Geltung, sondern wirkt sich auch auf das allgemeine Gebot der Verhältnismäßigkeit aus,
Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt für Meinungsbeschränkungen "eine Art Eingriffsschwelle": "Gefahren, die lediglich von den Meinungen als solchen ausgehen", sind danach "zu abstrakt", um die Untersagung dieser Meinungen zu rechtfertigen; je mehr eine Beschränkung der Meinungsfreiheit zudem "eine inhaltliche Unterdrückung der Meinung selbst zur Folge" hat und je "vermittelter und entfernter die drohenden Rechtsgutverletzungen bleiben", desto eher wird auch die Rechtfertigung dieser Beschränkung scheitern.
Diese Eingriffsschwelle ist zwar bei Weitem nicht so anspruchsvoll wie etwa der "Brandenburg-Test" des U.S. Supreme Court, nach dem Meinungsäußerungen erst dann unterbunden werden dürfen, wenn ein unmittelbar bevorstehendes gesetzwidriges Handeln (imminent lawless action) wahrscheinlich ist.
Meinungsfreiheit auch für Feinde der Freiheit
Meinungsfreiheit ist "gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen" und findet darin "unverändert" ihre Bedeutung.
Auf der anderen Seite gewährleistet die Verfassung es freilich beispielsweise auch, einen Politiker in einer Versammlung "Faschist" zu nennen – wenn dies auf einer "überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht" und es "um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage hinsichtlich eines an prominenter Stelle agierenden Politikers" geht.
Als streitbare Demokratie sieht das Grundgesetz abschließend geregelte Instrumente vor, um den Feinden seiner Wertordnung rechtlich entgegenzutreten.
Hassrede und Grenzen der Meinungsfreiheit
Die Meinungsfreiheit schützt danach in gewissen Grenzen auch die sogenannte Hassrede (hate speech), also etwa ausländerfeindliche, sexistische oder rassistische Meinungsäußerungen, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn sie fundamental mit den Wertungen der grundrechtlichen Diskriminierungsverbote oder sogar mit dem Wert der gleichen Menschenwürde aller über Kreuz liegen.
So hält das Strafgesetzbuch einen ganzen Strauß von Delikten bereit, die solche Hassrede verwirklichen kann. Die beiden wichtigsten sind die Beleidigung (§185 StGB) und die Volksverhetzung (§130 StGB). Beleidigung ist die ehrverletzende Kundgabe der Nichtachtung oder Missachtung einer anderen Person. Volksverhetzung begeht unter anderem, wer gegen (abgrenzbare) Teile der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder sie in ihrer Menschenwürde angreift (§130 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Unter Hass versteht die strafgerichtliche Rechtsprechung eine emotional gesteigerte feindselige Haltung, die über bloße Ablehnung oder Verachtung hinausgeht. Zum Hass aufstacheln heißt, eine solche Haltung in anderen zu erzeugen oder zu verstärken, indem man in besonders intensiver Form auf sie einwirkt. Neben die Beleidigung und die Volksverhetzung treten weitere Tatbestände. So kann die Hassrede etwa auch strafbar sein als Nötigung durch Drohung mit einem "empfindlichen Übel" (§240 StGB), als Bedrohung mit einem Verbrechen (§241 StGB) oder als Nachstellung (Stalking) (§238 StGB). Bei bestimmten schweren Straftaten, etwa einem Mord oder einem Terrorattentat, kann es außerdem schon strafbar sein, sie anzudrohen (§126 StGB) oder zu billigen (§140 StGB), ohne bestimmte Personen oder Gruppen anzugreifen, sofern die Androhung oder Billigung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.
In vielen Fällen ist die Hassrede in sozialen Netzwerken danach rechtlich eindeutig unzulässig, während die (bislang weiterhin massiven) Probleme auf der Ebene der effektiven Strafverfolgung und Durchsetzung der zivilrechtlichen Unterlassungsansprüche liegen. Der Gesetzgeber ist hier gefordert, die Rechtsdurchsetzung zu verbessern, ohne dabei die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Privatheit zu verletzen.
Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind dabei nicht etwa erst in den Fällen der Schmähkritik, der Formalbeleidigung und der Menschenwürdeverletzung erreicht.
Werden diese Grenzen der Meinungsfreiheit beachtet, ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Grundrecht, entgegen skeptischer Stimmen,
Dieser Beitrag ist dem Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem zum 80. Geburtstag gewidmet.