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Freie Rede Editorial Die Sprachkäfige öffnen. Gedanken zur Bedeutung von "freier Rede" Gefährdete Meinungsfreiheit? Zwei Perspektiven Keine Meinungsfreiheit ohne ein Klima der Freiheit Gleichheit ist nicht verhandelbar Meinungsfreiheit und ihre Grenzen Politisch korrekte Sprache und Redefreiheit Streitkompetenz als demokratische Qualität – oder: Vom Wert des Widerspruchs Faktum = Meinung?

Meinungsfreiheit und ihre Grenzen

Mathias Hong

/ 15 Minuten zu lesen

Meinungsfreiheit gilt grundsätzlich auch für die "Feinde der Freiheit". Werden die bestehenden Grenzen der Meinungsfreiheit jedoch beachtet, ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Grundrecht auch im Zeitalter der digitalen Empörungsstürme zukunftsfähig.

Wie weit reicht in Deutschland die Meinungsfreiheit? Was darf man sagen und was nicht? Im Folgenden gebe ich einen Überblick über den Schutz der Meinungsfreiheit durch das Grundgesetz (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG), werfe dabei aber auch vergleichende Blicke auf die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 10 EMRK) und die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (First Amendment).

Das Gravitationszentrum: politische Rede

Die freie politische Rede ist das Gravitationszentrum der Meinungsfreiheit. Das ergibt sich aus der Normengeschichte und Regelungstradition dieses Grundrechts in den freiheitlichen Demokratien, an die der Parlamentarische Rat 1949 angeknüpft hat und nach der die Meinungsfreiheit "als politische Freiheit gegen jegliche Bevormundung gerichtet" war. Das Bundesverfassungsgericht nennt die Meinungsfreiheit zu Recht "schlechthin konstituierend" für die freiheitliche Demokratie. Warum? Weil erst sie "die ständige geistige Auseinandersetzung", ermöglicht, "den Kampf der Meinungen", der das "Lebenselement" der Demokratie ist. Keine Demokratie kann auf Dauer bestehen, wenn es ihr an Menschen fehlt, die von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch machen.

Die Meinungsfreiheit dient allerdings nicht nur demokratischen Zwecken. Sie lässt zunächst einmal alle Meinungen zu, gleich welchen Inhalts, und sichert so die "kommunikative Entfaltung schlechthin", in "allen Lebensbereichen, die auf Interaktion angewiesen sind". Mit diesem weiten "Schutzbereich" gilt sie jedoch nicht schrankenlos. Eingriffe können in gewissen Grenzen gerechtfertigt sein, und dafür wird die demokratische Zwecksetzung des Grundrechts bedeutsam: Je stärker die öffentliche Meinungsbildung beschränkt wird, desto größer das Gewicht der Meinungsfreiheit und desto höher die Anforderungen an die Rechtfertigung. Für Äußerungen in Angelegenheiten, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren, gilt eine Vermutung für die Freiheit der Rede.

Die demokratische Ausrichtung auf die öffentliche Willensbildung steht dabei nicht im Gegensatz zur individuellen Freiheit: Freiheit ist nicht nur die "halbierte" Freiheit des Bourgeois, sein eng verstandenes privates Eigeninteresse zu verfolgen, sondern auch die Freiheit der Citoyenne, sich die öffentlichen Angelegenheiten zu eigen zu machen, die Interessen der Allgemeinheit zu ihrem individuellen Interesse zu erklären und sich selbst für ihre Durchsetzung zu mobilisieren. Das Recht auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung steht in engstem Zusammenhang zum letztlich in der Menschenwürde verankerten Recht auf demokratische Teilhabe an der öffentlichen Gewalt.

Wenn also zum Beispiel Schülerinnen und Schüler im Rahmen der "Fridays for Future" demonstrieren, dann ist das hohe Gewicht solch politischer Rede zu berücksichtigen, und zwar sowohl für die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), die diese besondere Art und Weise der Meinungsäußerung schützt, als auch für die Meinungsfreiheit, anhand derer zu beurteilen bleibt, ob der geäußerte Inhalt unterbunden werden darf. Im Konflikt mit der Schulpflicht kann deshalb jedenfalls für einzelne Demonstrationsteilnahmen an Beurlaubungen zu denken und bei der Sanktionierung von Schulpflichtverletzungen Zurückhaltung geboten sein. Das entspricht der Vermutung für die Freiheit der Rede vor allem in Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren: Denn was könnte die Öffentlichkeit wohl stärker berühren als das Schicksal der gesamten Menschheit angesichts der verheerenden Folgen der drohenden Klimakatastrophe?

Die Meinungsfreiheit soll gewährleisten, dass die öffentliche Debatte "ungehindert, robust und offen" geführt werden kann, wie es in einem richtungweisenden Urteil des U.S. Supreme Court von 1964 heißt. Sie und die anderen Kommunikationsfreiheiten sind "unbequeme" Grundrechte, die gerade auch dem Schutz andersdenkender Minderheiten dienen. Ihnen ein "Protestventil" zu geben, kann gerade in einer vorwiegend repräsentativ strukturierten Demokratie auch eine wesentliche "stabilisierende Funktion" haben.

Ein besonders starker Schutz der politischen Rede kennzeichnet die Meinungsfreiheit auch unter der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Schutz der Meinungsfreiheit unterscheidet sich freilich ansonsten in diesen drei Grundrechtsordnungen erheblich voneinander: Am wohl weltweit stärksten ist er in den Vereinigten Staaten, schwächer dagegen unter der Menschenrechtskonvention, während das Schutzniveau des Grundgesetzes sich zwischen diesen Polen bewegt.

Das Bild dreht sich allerdings, wenn es nicht um die Abwehr staatlicher Eingriffe geht, sondern um den Schutz der Meinungsfreiheit vor privaten Akteuren, wie etwa den Betreibern sozialer Netzwerke: Während die Verfassung der Vereinigten Staaten davor überhaupt keinen Schutz gewährt (state action doctrine), sehen Grundgesetz und Menschenrechtskonvention hier einen stärkeren – nämlich überhaupt einen – Schutz vor, und zwar im Wege der sogenannten mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte auch gegen Private. Das europäische Grundrechtsverständnis trägt damit der Einsicht Rechnung, dass die Grundrechte "Freiheit für alle" sichern sollen, also gleiche und real wirksame Freiheit, die vor "Potenziale[n] des Machtmissbrauchs auch durch gesellschaftliche Machtträger" schützt.

Ungeachtet solcher wesentlichen Unterschiede aber genießt die politische Rede in allen drei Grundrechtsordnungen besonderen Schutz: Wie das Bundesverfassungsgericht sieht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte besonders wenig Spielraum für Meinungsbeschränkungen, wenn es um politische Rede (political speech) oder um Debatten über Fragen von öffentlichem Interesse (questions of public interest) geht. Und auch der U.S. Supreme Court betont, dass politische Rede und Stellungnahmen zu öffentlichen Angelegenheiten den stärksten Schutz beanspruchen können.

Die Gedanken sind frei: Verbot der Standpunktdiskriminierung

Neben ihrer zentralen Bedeutung für die Demokratie ist für die Meinungsfreiheit ein weiterer Grundgedanke tragend, der ebenfalls die Geschichte der Kommunikationsfreiheiten insgesamt prägt: Die Gedanken sind frei. Eine Meinung zu äußern, darf deshalb nicht schon deshalb beschränkt werden, weil schon das Haben und Äußern dieser Meinung als solches unterbunden werden soll. Grundrechtsbeschränkungen "knüpfen nicht an die Gesinnung, sondern an Gefahren für Rechtsgüter an, die aus konkreten Handlungen folgen". Der Staat bleibt deshalb "rechtsstaatlich begrenzt auf Eingriffe zum Schutz von Rechtsgütern in der Sphäre der Äußerlichkeit", während es ihm nicht zusteht, "auf das subjektive Innere der individuellen Überzeugung" zuzugreifen, auf die "Gesinnung" und das Recht, diese als solche mitzuteilen. Der Staat darf deshalb mit rechtlichen Zwangsmitteln keine Gesinnungskontrolle betreiben, er darf erst dann einschreiten, wenn aus Meinungsäußerungen Bedrohungen für äußere Rechtsgüter entstehen, etwa für das friedliche Zusammenleben oder für das Persönlichkeitsrecht der Mitglieder hinreichend eingrenzbarer Personengruppen.

Der Grundgedanke, dass der Staat kein "Sonderrecht" schon gegen bestimmte Meinungen als solche schaffen darf, findet sich schon in den Weimarer Debatten zur Meinungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht greift auf diese "Sonderrechtslehre" auf zwei Ebenen zurück: zum einen bei der Bestimmung des Begriffs der "allgemeinen Gesetze", in denen die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken findet, zum anderen aber auch im Rahmen der allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprüfung, der sich jede Grundrechtsbeschränkung stellen muss.

Allgemeine Gesetze, die die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG beschränken dürfen, sind danach nur solche Gesetze, die "nicht eine Meinung als solche verbieten", sondern "dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen". Wann das der Fall ist, ergibt sich aus einer dreistufigen Prüfung: Allgemeine Gesetze sind nur solche, die entweder (erstens) gar nicht an bestimmte Meinungsinhalte anknüpfen oder (zweitens) an solche anknüpfen, dies aber zum Schutz von Rechtsgütern tun, die in der Rechtsordnung allgemein – also auch vor Verletzungen auf andere Weise als durch Meinungsäußerungen – geschützt sind und sich dabei (drittens) nicht nur gegen bestimmte politische, religiöse oder weltanschauliche Standpunkte richten.

Kurz gefasst: Ein Gesetz ist kein allgemeines Gesetz, sondern Sonderrecht gegen bestimmte Meinungen, wenn es nicht nur an Meinungsinhalte anknüpft, sondern sogar bestimmte politische, religiöse oder weltanschauliche Standpunkte diskriminiert (beispielsweise: nur politisch "rechte", nicht aber "linke"). Nicht schon jede Inhaltsanknüpfung, sondern erst eine Standpunktdiskriminierung begründet verbotenes Sonderrecht. Diese Unterscheidung weist eine deutliche rechtsvergleichende Verwandtschaft zu der Unterscheidung zwischen content discrimination und viewpoint discrimination in den Vereinigten Staaten auf. Auch der U.S. Supreme Court sieht in der viewpoint discrimination gleichsam die Kardinalsünde wider die Meinungsfreiheit. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spielen dagegen bislang – problematischer Weise – weder Inhalts- noch Standpunktdiskriminierungsverbot eine nennenswerte Rolle.

Das Verbot der Standpunktdiskriminierung gilt grundsätzlich für alle meinungsbeschränkenden Gesetze, das heißt auch für Gesetze zum Schutz der Jugend, der Ehre oder sonstiger kollidierender Verfassungsgüter. Auch sie müssen zugleich allgemeine Gesetze sein. Eine eng begrenzte Ausnahme davon hat das Bundesverfassungsgericht nur für Gesetze anerkannt, die die propagandistische Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft beschränken. Für diese Ausnahme fehlt freilich nicht nur eine tragfähige Begründung, sondern sie ist auch unnötig. Denn Rechtsgutsbedrohungen, die von solchen Meinungsäußerungen ausgehen, lassen sich auch durch standpunktneutrale und verhältnismäßige Regelungen abwehren, ohne dass dafür ein Sonderrecht nur gegen "rechts" geschaffen werden müsste.

Sonderrechtsgedanke und Verhältnismäßigkeit

Der Sonderrechtsgedanke, nach dem Meinungen nicht schon als solche unterbunden werden dürfen, kommt nicht nur im Gebot der Allgemeinheit des Gesetzes aus Art. 5 Abs. 2 GG zur Geltung, sondern wirkt sich auch auf das allgemeine Gebot der Verhältnismäßigkeit aus, das jedes grundrechtsbeschränkende Gesetz und jede Auslegung und Anwendung eines solchen Gesetzes beachten muss. Der Grundgedanke bleibt auch auf dieser Ebene die enge Verbindung zwischen Gedankenfreiheit und Meinungsfreiheit: Der Staat darf nicht schon unsere Ideen und Gesinnungen als solche einem Rechtszwang unterwerfen. Der Zweck, bestimmte Meinungen schon wegen ihres Inhalts zu behindern, "hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf" und ist deshalb als Zweck für meinungsbeschränkende Gesetze von vornherein "illegitim". Der Gesetzgeber darf Meinungsäußerungen nicht schon wegen ihrer "rein geistig bleibenden Wirkungen" beschränken wollen.

Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgt für Meinungsbeschränkungen "eine Art Eingriffsschwelle": "Gefahren, die lediglich von den Meinungen als solchen ausgehen", sind danach "zu abstrakt", um die Untersagung dieser Meinungen zu rechtfertigen; je mehr eine Beschränkung der Meinungsfreiheit zudem "eine inhaltliche Unterdrückung der Meinung selbst zur Folge" hat und je "vermittelter und entfernter die drohenden Rechtsgutverletzungen bleiben", desto eher wird auch die Rechtfertigung dieser Beschränkung scheitern.

Diese Eingriffsschwelle ist zwar bei Weitem nicht so anspruchsvoll wie etwa der "Brandenburg-Test" des U.S. Supreme Court, nach dem Meinungsäußerungen erst dann unterbunden werden dürfen, wenn ein unmittelbar bevorstehendes gesetzwidriges Handeln (imminent lawless action) wahrscheinlich ist. Sie beruht jedoch auf derselben Grundidee: Der Staat darf jedenfalls nicht schon das Haben und Äußern einer Meinung als solches unterbinden oder erzwingen wollen. So darf er etwa Schüler auch nicht zu einem Treueschwur auf die Flagge (pledge of allegiance) zwingen, wie das höchste Gericht der Vereinigten Staaten 1943 – also mitten im Zweiten Weltkrieg – entschied: "Wenn es einen Fixstern im Sternbild unserer Verfassung gibt", so Justice Robert Jackson, "dann den, dass kein Amtsträger, ob hoch oder niedrig, vorschreiben darf, was orthodox ist in politischen, nationalen, religiösen oder anderen Meinungsfragen, oder Bürger dazu zwingen kann, durch Wort oder Tat ihren Glauben daran zu bekennen."

Meinungsfreiheit auch für Feinde der Freiheit

Meinungsfreiheit ist "gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen" und findet darin "unverändert" ihre Bedeutung. Sie schließt deshalb grundsätzlich auch das Recht ein, "Kritik an der Verfassung und ihren wesentlichen Elementen" zu üben oder die Änderung "tragende[r] Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" zu fordern. "Menschenwürdegarantie einschränken!" oder "Todesstrafe wiedereinführen!" sind deshalb zwar Forderungen, die dem Grundgesetz inhaltlich diametral zuwiderlaufen. Das Grundgesetz schützt jedoch gleichwohl auch das Recht, sie ungehindert zu äußern, und vertraut auf die Kraft der geistigen Auseinandersetzung "als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien". Es gewährt Meinungsfreiheit deshalb grundsätzlich "auch den Feinden der Freiheit", schützt also auch Gedanken und Meinungen, die wir hassen (freedom for the thought that we hate).

Auf der anderen Seite gewährleistet die Verfassung es freilich beispielsweise auch, einen Politiker in einer Versammlung "Faschist" zu nennen – wenn dies auf einer "überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht" und es "um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage hinsichtlich eines an prominenter Stelle agierenden Politikers" geht.

Als streitbare Demokratie sieht das Grundgesetz abschließend geregelte Instrumente vor, um den Feinden seiner Wertordnung rechtlich entgegenzutreten. Dazu gehören insbesondere die Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG) und das Parteiverbot (Art. 21 Abs. 2 GG). Auch ihr Einsatz setzt jedoch ein hinreichendes Bedrohungspotenzial voraus, auch sie erlauben daher "kein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot".

Hassrede und Grenzen der Meinungsfreiheit

Die Meinungsfreiheit schützt danach in gewissen Grenzen auch die sogenannte Hassrede (hate speech), also etwa ausländerfeindliche, sexistische oder rassistische Meinungsäußerungen, und zwar grundsätzlich selbst dann, wenn sie fundamental mit den Wertungen der grundrechtlichen Diskriminierungsverbote oder sogar mit dem Wert der gleichen Menschenwürde aller über Kreuz liegen. Auf Grenzen stößt der Schutz solcher Hassrede freilich in zahlreichen verfassungsgemäßen Normen des Strafrechts und des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes.

So hält das Strafgesetzbuch einen ganzen Strauß von Delikten bereit, die solche Hassrede verwirklichen kann. Die beiden wichtigsten sind die Beleidigung (§185 StGB) und die Volksverhetzung (§130 StGB). Beleidigung ist die ehrverletzende Kundgabe der Nichtachtung oder Missachtung einer anderen Person. Volksverhetzung begeht unter anderem, wer gegen (abgrenzbare) Teile der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder sie in ihrer Menschenwürde angreift (§130 Abs. 2 Nr. 2 StGB). Unter Hass versteht die strafgerichtliche Rechtsprechung eine emotional gesteigerte feindselige Haltung, die über bloße Ablehnung oder Verachtung hinausgeht. Zum Hass aufstacheln heißt, eine solche Haltung in anderen zu erzeugen oder zu verstärken, indem man in besonders intensiver Form auf sie einwirkt. Neben die Beleidigung und die Volksverhetzung treten weitere Tatbestände. So kann die Hassrede etwa auch strafbar sein als Nötigung durch Drohung mit einem "empfindlichen Übel" (§240 StGB), als Bedrohung mit einem Verbrechen (§241 StGB) oder als Nachstellung (Stalking) (§238 StGB). Bei bestimmten schweren Straftaten, etwa einem Mord oder einem Terrorattentat, kann es außerdem schon strafbar sein, sie anzudrohen (§126 StGB) oder zu billigen (§140 StGB), ohne bestimmte Personen oder Gruppen anzugreifen, sofern die Androhung oder Billigung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

In vielen Fällen ist die Hassrede in sozialen Netzwerken danach rechtlich eindeutig unzulässig, während die (bislang weiterhin massiven) Probleme auf der Ebene der effektiven Strafverfolgung und Durchsetzung der zivilrechtlichen Unterlassungsansprüche liegen. Der Gesetzgeber ist hier gefordert, die Rechtsdurchsetzung zu verbessern, ohne dabei die Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Privatheit zu verletzen.

Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind dabei nicht etwa erst in den Fällen der Schmähkritik, der Formalbeleidigung und der Menschenwürdeverletzung erreicht. Denn auch wenn diese (eng zu fassenden) Fallgruppen nicht einschlägig sind, kann die gebotene Abwägung (eindeutig) zugunsten des Persönlichkeitsschutzes ausfallen. Der erste Beschluss des Landgerichts Berlin zu den Facebook-Postings gegen die Grünen-Politikerin Renate Künast vom September 2019, in dem übelste Beschimpfungen als zulässige Meinungsäußerungen gewertet wurden, hat (schon) das verkannt. Er kann sich daher nicht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützen, das im Übrigen in den 1980er Jahren die Menschenwürde des langjährigen CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß durch Karikaturen verletzt gesehen hat, die ihn als Schwein darstellten, das mit anderen Schweinen in Richterroben kopuliert. Auch die spätere, teilweise abhelfende Entscheidung im Künast-Fall vom Januar 2020 dehnt den Äußerungsschutz in teils äußerst fragwürdiger Weise über die vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Grenzen hinaus aus.

Werden diese Grenzen der Meinungsfreiheit beachtet, ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Grundrecht, entgegen skeptischer Stimmen, auch im Zeitalter der digitalen Empörungsstürme und der populistischen Desinformation weiterhin zukunftsfähig. Auch wenn die sozialen Netzwerke ein Phänomen sind, das die verfassungsgebende Gewalt kaum vorhersehen konnte – dass ein von Demagogie entfesseltes Gruppendenken Menschenwürde und Demokratie bedrohen kann, war als solches 1949 wohlbekannt. Die verfassungsgebende Gewalt hat sich gerade unter dem Eindruck solcher Erfahrungen für einen starken Schutz der Meinungsfreiheit entschieden.

Dieser Beitrag ist dem Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem zum 80. Geburtstag gewidmet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wolfgang Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, Baden-Baden 2002, S. 67–70, hier S. 37f. Vgl. auch Werner Matz, in: Klaus-Berto von Doemming/Rudolf Werner Füsslein/Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Tübingen 1951, S. 79–89, S. 171–176.

  2. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 7, 198 (208) – Lüth (1958). Vgl. auch Hoffmann-Riem (Anm. 1), S. 35 ("Kommunikation ist ein Lebensnerv einer Demokratie und eines Rechtsstaats").

  3. Hoffmann-Riem (Anm. 1), S. 37. Zum Schutz auch unterhaltender Medieninhalte vgl. BVerfGE 120, 180 (204f.) – Caroline von Hannover (2008); BVerfGE 119, 181 (218) – Rundfunkgebühren (2007).

  4. Ständige Rechtsprechung (StRspr) seit BVerfGE 7, 198 (212) – Lüth (1958).

  5. Vgl. Johannes Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, Berlin 1997; ders., in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, München 20122, §7; Mathias Hong, Die Versammlungsfreiheit, in: Wilfried Peters/Norbert Janz, Handbuch Versammlungsrecht, München 2015, S. 29f.

  6. Vgl. BVerfGE 123, 267 (341) – Lissabon (2009); Mathias Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, Tübingen 2019, S. 461ff.

  7. Vgl. BVerfGE 104, 92 (109ff.) – Wackersdorf/Autobahnblockade (2001) (Stellungnahmen zu "die Öffentlichkeit angehenden, kontrovers diskutierten Frage[n]").

  8. Vgl. BVerfGE 90, 241 (246) – Holocaustleugnung (1994); zum Verhältnis der beiden Grundrechte vgl. Hong (Anm. 5), S. 66ff.

  9. Vgl. Felix Hanschmann, "It’s the End of the World as We Know it" – Schulpflicht vs. Versammlungsfreiheit, 15.3.2019, Externer Link: http://www.verfassungsblog.de/its-the-end-of-the-world-as-we-know-it-schulpflicht-vs-versammlungsfreiheit; "Lehrkräfte sind gut beraten, demonstrationsfreudige Schüler ernst zu nehmen", Interview mit Tristan Barczak, 14.3.2019, Externer Link: http://www.uni-muenster.de/news/view.php?cmdid=10135.

  10. New York Times Co. v. Sullivan, 376 U.S. 254, 270 (1964) ("a profound national commitment to the principle that debate on public issues should be uninhibited, robust, and wide-open").

  11. Vgl. (zur Versammlungsfreiheit) Max-Emanuel Geis, in: Karl-Heinrich Friauf/Wolfram Höfling (Hrsg.), GG, Loseblattsammlung (Stand: 49. EL, 2/2016), Art. 8 Rn. 141.

  12. Vgl. BVerfGE 69, 315 (343f.) – Brokdorf (1985) (Versammlungsfreiheit kommt "auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute"); Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG-K) vom 19.12.2007, 1 BvR 2793/04, Rn. 28 (Meinungsfreiheit "ist ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten").

  13. Wolfgang Hoffmann-Riem, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. IV, München 2011, §106 Rn. 2.

  14. BVerfGE 69, 315 (347) – Brokdorf (1985).

  15. Hoffmann-Riem (Anm. 1), S. 30, S. 36.

  16. StRspr, vgl. nur Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Vajnai v. Ungarn, 8.7.2008, No. 33629/06, §47.

  17. Vgl. Williams-Yulee v. The Florida Bar, 135 S. Ct. at 1664–65 (2015) ("commands the highest level of First Amendment protection").

  18. Vgl. Mathias Hong, Ein unbequemes Grundrecht, 16.5.2019, Externer Link: http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/70-jahre-gg-versammlungsfreiheit-artikel-8-unbequemes-grundrecht.

  19. BVerfGE 111, 147 (159) – Bochumer Synagoge (2004).

  20. BVerfGE 124, 300 (333) – Wunsiedel (2009).

  21. Vgl. ebd. (334–338); BVerfGE 93, 266 (301ff.) – Soldaten (1995); Dieter Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 27/1995, S. 1697ff.

  22. Vgl. die Verweise auf Kurt Häntzschel und Karl Rothenbücher in: BVerfGE 124, 300 (327, 332) – Wunsiedel (2009).

  23. BVerfGE 7, 198 (209f.) – Lüth (1958). Siehe auch BVerfGE 117, 244 (260) – Cicero (2007) ("die sich nicht gegen die Meinungsfreiheit (…) an sich oder gegen die Äußerung einer bestimmten Meinung richten").

  24. Vgl. BVerfGE 124, 300 (322–325) – Wunsiedel (2009); Mathias Hong, Das Sonderrechtsverbot als Verbot der Standpunktdiskriminierung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 20/2010, S. 1267–1276, hier S. 1268ff.; Franz Schemmer, in: Christian Hillgruber/Volker Epping (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 20132, Art. 5 Rn. 99.2.

  25. Vgl. Hong (Anm. 24), S. 1269f.; Iancu v. Brunetti, 24.6.2019, No. 18–302, Justice Kagan, Opinion of the Court; Slip Op., S. 4f., Externer Link: http://www.supremecourt.gov/opinions/18pdf/18-302_e29g.pdf.

  26. Vgl. BVerfGE 124, 300 (326f.) – Wunsiedel (2009). Siehe auch Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat – 1948–1949. Akten und Protokolle: Bd. 7, Boppard 1995, S. 209 ("muß die Grenze (…) schlechthin in den allgemeinen Gesetzen liegen (…) Verboten bliebe allerdings, und das muß beibehalten werden, ein Spezialgesetz, das sich gegen eine bestimmte Meinung richtet").

  27. Vgl. BVerfGE 124, 300 (327–331) – Wunsiedel (2009) (zu §130 Abs. 4 StGB); BVerfG-K vom 22.6.2018, 1 BvR 2083/15, Rn. 21 (zu §130 Abs. 3 StGB).

  28. So die ganz überwiegende Auffassung im Schrifttum, vgl. nur Hoffmann-Riem (Anm. 13), §106 Rn. 122; Hong (Anm. 24), S. 1271f.

  29. Vgl. Mathias Hong, in: Helmut Ridder/Michael Breitbach/Dieter Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht des Bundes und der Länder, Baden-Baden 20202 (i.E.), §15 Abs. 2 VersammlG, Rn. 384ff., 464ff.

  30. Vgl. Johannes Masing, Meinungsfreiheit und Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung, in: Juristenzeitung 12/2012, S. 585–592, hier S. 589; Hong (Anm. 24), S. 1272ff.

  31. Vgl. BVerfGE 124, 300 (332) – Wunsiedel (2009). Siehe auch BVerfGE 7, 198 (210) – Lüth (1958) ("in ihrer rein geistigen Wirkung"); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1967, S. 152 ("Sonderrecht (…), das die geistige Wirkung reiner Meinungsäußerung zu unterbinden sucht").

  32. BVerfGE 124, 300 (333f.) – Wunsiedel (2009).

  33. Vgl. Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444, 447f. (1969).

  34. Vgl. West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624, 642 (1943) (eig. Übersetzung).

  35. BVerfGE 93, 266 (293) – Soldaten (1995); BVerfG-K vom 6.6.2007, 1 BvR 1423/07 – Heiligendamm, Rn. 28.

  36. BVerfGE 113, 63 (82) – Junge Freiheit (2005); BVerfG-K vom 19.12.2007, 1 BvR 2793/04 – "Nationaler Widerstand", Rn. 28.

  37. BVerfGE 144, 20 (Rn. 524) – NPD (2017).

  38. BVerfGE 124, 300 (330) – Wunsiedel (2009).

  39. Vgl. U.S. v. Schwimmer, 279 U.S. 644, 654–55 (1929) (Justice Holmes, dissenting); BVerfG-K vom 1.12.2007, 1 BvR 3041/07 – Todesstrafe, Rn. 15.

  40. Verwaltungsgericht Meiningen, Beschluss vom 26.9.2019, 2 E 1194/19.

  41. Vgl. Ulli F.H. Rühl, Versammlungsrechtliche Maßnahmen gegen rechtsradikale Demonstrationen und Aufzüge, in: NJW 1995, S. 561ff., hier S. 562.

  42. Vgl. BVerfGE 38, 23 (24.f.) – Herausgeber der Deutschen National-Zeitung (1974) (für Verwirkung ist "Gefährlichkeit (…) im Blick auf die Zukunft" entscheidend); BVerfGE 144, 20 (Rn. 570, 573, 585) – NPD (2017) (Parteiverbot verlangt "Potentialität" der Verwirklichung der Parteiziele).

  43. Vgl. Mathias Hong, Hate Speech im Internet, in: Marion Albers/Ioannis Katsivelas (Hrsg.), Recht & Netz, Baden-Baden 2018, S. 59ff.; ders., Hassrede und extremistische Meinungsäußerungen in der Rechtsprechung des EGMR und nach dem Wunsiedel-Beschluss des BVerfG, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 70/2010, S. 73–126.

  44. Vgl. Hong 2018 (Anm. 43).

  45. Vgl. Die Meinungsfreiheit und das NetzDG, Interview mit Mathias Hong, 18.2.2018, Externer Link: http://www.netzpolitik.org/2018/die-meinungsfreiheit-und-das-netzdg-schwerwiegender-verstoss-gegen-grundrecht.

  46. Zu den ersten beiden Kategorien vgl. Johannes Masing, Schmähkritik und Formalbeleidigung, in: Alexander Bruns et. al. (Hrsg.), Festschrift für Rolf Stürner zum 70. Geburtstag, Teil 1, Tübingen 2013, S. 25–42.

  47. Vgl. Landgericht Berlin, Beschluss vom 9.9.2019, 27 AR 17/19, juris, Rn. 21 ("Da alle Kommentare einen Sachbezug haben, stellen sie keine Diffamierungen (…) und damit keine Beleidigungen (…) dar").

  48. Vgl. BVerfGE 75, 369 (379–381) – Strauß-Karikaturen (1987).

  49. Vgl. Landgericht Berlin, Beschluss vom 21.1.2020, 27 AR 17/19; fragwürdig erscheinen etwa die Ausführungen zu den Kommentaren der Ziffern 1, 2, 8, 10 und 17 der Antragsschrift.

  50. Vgl. etwa Stefan Magen, Kontexte der Demokratie – Parteien, Medien und Sozialstrukturen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 77/2018, S. 67–104.

  51. Der einflussreiche Verfassungsrechtslehrer Gerald Gunther, der mit seiner Familie vor antisemitischer Verfolgung und Hetze in die Vereinigten Staaten geflohen war, sprach sich gleichwohl zeitlebens gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit aus: "The lesson I have drawn from my childhood in Nazi Germany and my happier adult life in this country is the need to walk the sometimes difficult path of denouncing the bigot’s hateful ideas with all my power, yet at the same time challenging any community’s attempt to suppress hateful ideas by force of law." Gerhard Caspar, Gerald Gunther, in: Proceedings of the American Philosophical Society 4/2004, S. 493–497, hier S. 495.

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ist Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl.