Einleitung
Die Bundesregierung hat bei Verhandlungen in Brüssel im Vergleich zu ihrem politischen und ökonomischen Gewicht ein schwaches Standing - so jedenfalls lautet die weit verbreitete Kritik an der deutschen Europapolitik in der Öffentlichkeit und unter wissenschaftlichen Beobachtern. Frankreich und vor allem Großbritannien gelten als sehr viel erfolgreicher bei der Durchsetzung nationaler Interessen. Auf die Frage, welches Land die effektivsteInteressenpolitik in der EU betreibe, antworteten in einer Umfrage aus dem Jahre 2006 jeweils knapp 70 Prozent der 350 befragten deutschen Lobbybüros in Brüssel, dass dies Großbritannien (69 Prozent) bzw. Frankreich (67 Prozent) am besten gelinge; nur 20 Prozent der Befragten sahen die Bundesrepublik Deutschland an erster Stelle. Die Bundesregierung kämpfe, so auch das Ergebnis einer Ende der 1990er Jahre vorgelegten Studie der Bertelsmann Stiftung, im "Alltag der europäischen Politik (...) eine Gewichtsklasse niedriger als (sie) eigentlich könnte".
Als Ursache verweisen die Autoren der Studie auf organisatorische Schwächen bei der Koordinierung deutscher Europapolitik: Dazu zählen sie den mangelhaften Informationsaustausch zwischen den Beamten der beteiligten Ministerien; die Tatsache, dass bei Verhandlungen auf EU-Ebene an erster Stelle die Interessen der einzelnen Ressorts stünden und nicht eine kohärente Position der gesamten Regierung; Unklarheiten darüber, welches Ministerium tatsächlich die Koordinierung innehabe; auch die Ständige Vertretung in Brüssel sei aufgrund von Ressortstreitigkeiten nicht in der Lage, überzeugend und geschlossen aufzutreten; die Verhandlungsposition der Bundesregierung werde nicht vorab in Berlin festgelegt, es werde vielmehr zwischen den Berliner Ressorts verhandelt und gleichzeitig in Brüssel parallel zu den Verhandlungen im Rat eine Position abgestimmt, was gezieltes Lobbying und eine verlässliche Koalitionsbildung mit den europäischen Partnern - auch aufgrund der Vielzahl von deutschen Ansprechpartnern - behindere. Erschwert werde die Koordination der deutschen Europapolitik, so die Kritiker, noch durch die Tatsache, dass sich die deutschen Länder seit den 1990er Jahren zu selbstbewussten Mitspielern auf der Brüsseler Bühne entwickelt haben. Die Folgen für die deutsche Europapolitik und die Interessendurchsetzung in Brüssel sind laut Sebastian Kurpas, einem EU-Experten vom Centre for European Policy Studies (CEPS), mehr als fatal: "Wenn Deutschland endlich zuPotte kommt, haben die anderen Länder längst ihre Bündnispartner gefunden, mit denen sie ihre Positionen im Rat durchdrücken."
Im vorliegenden Beitrag werde ich der Frage nachgehen, wie sich die europapolitische Koordinierung in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, inwiefern die Kritik der mangelhaften Koordinierung berechtigt ist und welche Reformen - vor allem in Zeiten einer Großen Koalition - einerseits als sinnvoll und andererseits als realistisch erscheinen. Während es in kleinen Koalitionen in der Vergangenheit zwischen dem großen und dem kleinen Partner ("Koch und Kellner") auch auf dem Feld der Europapolitik zu Reibereien gekommen ist, arbeiten in einer Großen Koalition zwei fast gleich starke Partner zusammen, was eine Dominanz des Kleinen durch den Großen ausschließt. Im Folgenden werde ich die historische Entwicklung der europapolitischen Koordinierung erläutern, um deutlich zu machen, dass der Streit um die "Lufthoheit über die Europapolitik" eine lange Vorgeschichte hat.
Deutschland im europäischen Mehrebenensystem
Nach einem geflügelten Wort ist Europapolitik längst Innenpolitik; das bedeutet, dass Europapolitik aus dem Bereich der klassischen Außenpolitik herausgetreten ist. Die Brüsseler Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland macht vor Kernbereichen der staatlichen Souveränität wie der Währungs-, Innen- und Justizpolitik und auch vor der Umwelt-, der Regional- und der Bildungspolitik nicht Halt. Die Folge dieser schrittweisen "Europäisierung" der nationalen Politik ist, dass die EU-Staaten längst nicht mehr der exklusive und entgegen der Selbstwahrnehmung der politischen Elite und der Öffentlichkeit auch nicht mehr der "genuine Ort von Politik" sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist Teil eines komplexen "europäischen Mehrebenensystems": "Die Einbindung des Nationalstaats in europäische Entscheidungsprozesse geschieht systematisch, ist auf Dauer gestellt und führt zu einer Veränderung der nationalen politischen Institutionen, ihrer Verwaltungspraxis und ihrer Kompetenzen, sowie des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses."
Trotz der Unterschiede in der Art und Weise, wie EU-Politik innerstaatlich koordiniert wird, lassen sich seit den 1990er Jahren in den EU-Mitgliedstaaten einige allgemeine Trends beobachten: Dazu gehören die wachsende Dezentralisierung und Sektoralisierung der europapolitischen Interessenvertretung, die zunehmend bürokratischeren Verfahren der Koordination und eine schwach ausgeprägte parlamentarische Kontrolle der von den Exekutiven in den Staatskanzleien und Regierungszentralen dominierten Europapolitik. Da in den EU-Staaten mehr und mehr Ministerien und andere Akteure wie Länder und Regionen direkte Kontakte nach Brüssel aufgebaut haben und diese zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen, welche nicht immer im Einklang stehen mit denen der Zentralregierung, führte diese Entwicklung zu Koordinationsproblemen und Effizienzverlusten; die Spitzen der Regierungsexekutiven ("core executives") bemühten sich deshalb darum, die europapolitische Entscheidungsfindung und Interessenvermittlung stärker zu koordinieren und zu zentralisieren.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland brechen solche Kämpfe um die Letztverantwortung in der Europapolitik immer wieder auf, wie das folgende Kapitel zeigen soll. Dabei wird deutlich werden, dass sich die interministeriellen Koordinierungsverfahren seit den Anfängen in den 1950er Jahren in ihrem Kern wenig verändert haben; die Prinzipien und die Abstimmungsverfahren sind also in einem hohen Maße "pfadabhängig". Das Konzept der "Pfadabhängigkeit" betont die "Historizität von Institutionen", was heißen soll, dass "in der Vergangenheit getroffene Entscheidungen und eingebürgerte Denkweisen und Routinen in die Gegenwart hinein wirken". Grundlegende Reformen sind also aufgrund der historisch verwurzelten Verfahren und der damit verbundenen "Selbstverständlichkeit", mit der politische Akteure an den etablierten Institutionen festhalten, schwer umzusetzen. Die "Reproduktion der Verfahren" erklärt sich aufgrund der Nützlichkeitserwägungen der beteiligten Akteure, aus funktionalen Gründen, aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse oder, weil die ursprünglich vereinbarten Verfahren als legitim angesehen werden.
Entwicklung der europapolitischen Koordinierung
Die Grundstrukturen der Koordinierung gehen zurück auf einen ordnungs- und europapolitischen Streit zwischen Kanzler Konrad Adenauer und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard in den 1950er Jahren. Die Verhandlungen, die 1951 zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und zu den Römischen Verträgen (1957) führten, wurden maßgeblich durch das Wirtschaftsministerium und durch den ersten deutschen Bundeskanzler geprägt, der zudem bis 1955 das Amt des Außenministers in Personalunion ausübte. Die Europapolitik wurde bereits in dieser frühen Phase zu einem "Zankapfel" zwischen dem Auswärtigen Amt (AA) und dem Wirtschaftsministerium; Erhards Ministerium verfolgte - im Unterschied zum AA und zu Adenauer - einen stärker marktwirtschaftlich orientierten Ansatz, welcher sich nicht mit den integrationspolitischen Zielen Adenauers vereinbaren ließ. Um den Streit um das Letztentscheidungsrecht in der Europapolitik formal zu beenden, stellte ein Organisationserlass des Bundeskanzlers sicher, dass in der "Kanzlerdemokratie" der erste Bundeskanzler auch in der Europapolitik seine Richtlinienkompetenz ausüben kann. Da jedoch die EGKS und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Kern ökonomische Projekte waren, kommt dem Wirtschaftsministerium für das operative Tagesgeschäft seit jeher eine wichtige Rolle zu; das Auswärtige Amt versteht sich bis heute im Unterschied dazu als das Ministerium, das über das Tagesgeschäft in Brüssel hinaus die Integrationsziele der Bundesrepublik Deutschland formuliert.
In den folgenden Jahrzehnten zeigte diese Arbeitsteilung auch ihre Schwächen. Je mehr die einzelnen Ressorts "europäisiert" wurden, weil seit Mitte der 1980er Jahre mit der "Einheitlichen Europäischen Akte (EEA)" (1987) und vor allem mit dem Vertrag von Maastricht (1993) verstärkt Kompetenzen von dermitgliedstaatlichen auf die EU-Ebene übertragen wurden, stellte sich die Frage nach der europapolitischen Koordinierung umso dringlicher. Während die Ministerien erst allmählich im Lauf der 1990er Jahre eine eigene Europakompetenz und entsprechende Abteilungen aufbauten und den direkten Kontakt zu Brüssel suchten, fungierte die Europaabteilung (Abteilung E) des Wirtschaftsministeriums noch bis in die 1980er Jahre hinein als die zentrale Kooordinationsstelle, welche die Weisungen an die Ständige Vertretung in Brüssel organisierte. Erst mit dem Vertrag von Maastricht gewann das Auswärtige Amt an politischem Gewicht und baute eine eigene Europaabteilung auf. Die Breite der Themen, die durch den Maastrichter Unionsvertrag erfasst wurden, stärkten das AA in seiner ressortübergreifenden Koordinationsfunktion, da es - mit Ausnahme der europäischen Außenpolitik - seinem Selbstverständnis nach keine eigenen Ressortinteressen verfolgt.
Mit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung im Jahre 1998 wurde schließlich die jahrzehntelange Arbeitsteilung zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium reformiert: Das Wirtschaftsministerium musste auf Betreiben des designierten Finanzministers Oskar Lafontaine (SPD) seine traditionelle Koordinierungsfunktion an das Finanzressort abgeben und verlor damit seine Aufgabe als Schnittstelle. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl von 2005 wurde auf Betreiben desdesignierten "Superministers" Edmund Stoiber (CSU) die Zuständigkeit in europapolitischen Grundsatzfragen wieder ins Wirtschaftsministerium zurückgeholt, was zu einem heftigen politischen Streit zwischen den beteiligten Ressorts führte. Mit dieser neuen Regelung wurde der Status quo ante, wie er bis 1998 über vier Jahrzehnte gegolten hatte, wiederhergestellt. Aus dem Bundesfinanzministerium wurden die Zuständigkeiten für folgende Aufgaben an das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie zurückgeholt: die Grundsatzfragen und die Koordinierung der Europapolitik (außer ECOFIN), insbesondere die Weisungsbefugnis für den Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV I), die Strukturpolitik, die EU-Kohäsionsfonds und die transeuropäischen Netze, darüber hinaus auch die Koordinierung der Lissabon-Strategie und die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland vor den Europäischen Gerichten sowie die Beihilfekontrollpolitik. An der europapolitischen Aufwertung des Wirtschaftsministeriums hielt die Regierung Merkel auch nach dem Rückzug Stoibers nach Bayern fest.
Da alle Bundeskanzler in der Vergangenheit - und hier macht Kanzlerin Angela Merkel keine Ausnahme - ein ausgeprägtes Interesse an der Europapolitik entwickelten, weil sich hier fern der innenpolitischen Zwänge politische Handlungsspielräume öffnen, wuchs auch dem Bundeskanzleramt eine wichtige Rolle zu; dies kommt vor allem bei der Vorbereitung von Gipfeltreffen und bei den zentralen Fragen, die der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, zur "Chefsache" erklärt, zum Tragen.
Koordinierung zwischen den Ministerien
Die Koordinierung der Ressorts folgt dem Prinzip des "bottom up", wonach eine Position zu einem konkreten EU-Vorhaben auf einer möglichst niedrigen Stufe der ministeriellen Hierarchie abgestimmt werden soll. Erst bei Streit zwischen den Ministerien sollen die Spitzen der Ressorts eingeschaltet werden. Drei Gremien spielen in dieser interministeriellen Koordinierung eine wichtige Rolle. Am häufigsten trifft der so genannte "Dienstagsausschuss" zusammen; hier versammeln sich die mit EU-Fragen befassten Ressortleiter aus den einzelnen Ministerien, um ihre wöchentlichen Weisungen an den Ständigen Vertreter in Brüssel zu beschließen. Im AStV werden die Sitzungen des Ministerrats so weit entschieden, dass die Minister aus den EU-Mitgliedstaaten nur einen kleinen Teil der Dossiers, der strittig geblieben ist, selbst bearbeiten müssen. Trotz der Bedeutung dieses Gremiums werden hier nur selten "ministeriumsübergreifende Absprachen" über die Verhandlungslinien in Brüssel getroffen. Dieses unkoordinierte Vorgehen führt bei den Verhandlungen im AStV zu entsprechenden Problemen; darauf hat der langjährige deutsche Botschafter in Brüssel, Wilhelm Schönfelder, in einem Interview hingewiesen: "Neulich habe ich bei einem Thema (...) vom zuständigen Ministerium zuhause für eine maximal dreiminütige Einlassung in Brüssel genau 22 Seiten Weisung erhalten, mit 27 Vorbehalten gegen einen Kompromissvorschlag." Dies sei, so der deutsche Botschafter, "absoluter Quatsch".
Neben dem Dienstagsausschuss spielt die seit Anfang der 1970er Jahre einberufene Gruppe der Leiter der Europaabteilungen der Bundesministerien eine weitere wichtige Rolle; diese Runde trifft sich etwa alle ein bis zwei Monate auf Referatsleiterebene. Unter dem Vorsitz des Auswärtigen Amtes trifft sich ebenfalls alle ein bis zwei Monate der bereits 1963 eingerichtete Staatssekretärausschuss für Europaangelegenheiten, dem neben den Europa-Staatssekretären auch der Botschafter aus Brüssel beiwohnt; hier sollen politische Differenzen und Konflikte zwischen den Ressorts gelöst werden. Die ursprüngliche "Insider-Exklusivität", welche eine Abstimmung im kleinen Kreis erleichterte, ging mit der Kompetenzerweiterung der EU durch den Maastrichter Vertrag Anfang der 1990er Jahre verloren; nun ist der Kreis der Beteiligten auf alle Ministerien ausgedehnt. Erst wenn in diesem Kreis keine Einigung hergestellt werden kann, wird in der Regel das Kabinett als letzte Schiedsstelle eingeschaltet. In Koalitionsregierungen kann ein Kanzler oder die Regierungschefin die Richtlinienkompetenz jedoch nur im äußersten Fall einsetzen.
Insgesamt lässt sich - im Vergleich mit Paris oder London - feststellen, dass die interministerielle Koordination in Deutschland aufgrund der im Grundgesetz verankerten Ressortautonomie und der Koalitionslogik ein "Durchregieren" in der Europapolitik - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nahezu unmöglich macht. Dies gilt erst recht für die Europapolitik in einer Großen Koalition, in der neben der Kanzlerin (CDU) das SPD-geführte Finanzministerium und das Auswärtige Amt sowie das Wirtschaftsministerium unter CSU-Leitung als "Nebenköche" die deutsche Europapolitik mitbestimmen wollen. Aus dieser Konkurrenz ergibt sich eine "interministerielle Kommunikations- und Interaktionsstruktur", die durch eine "negative (Abgrenzungs-)Koordinierung gekennzeichnet (ist), ohne in eine positive gemeinsame Problemlösung mit dem Ziel einer umfassenden und abgestimmten Strategie einzumünden".
Die Länder in der Europapolitik
Die Länder sahen seit Beginn der europäischen Zusammenarbeit neben den Chancen auch Gefahren. Der Bund konnte auf der Basis des Artikel 24 Abs. 1 GG Kompetenzbereiche von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen. Dies ließ den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold schon in den 1950er Jahren davor warnen, die deutschen Länder könnten im Zuge der europäischen Integration zu "reinen Verwaltungseinheiten herabgedrückt" werden. Diese Sorge prägt die Haltung der deutschen Länder gegenüber dem Bund und gegenüber Brüssel bis auf den heutigen Tag und erklärt, weshalb zwischen Bund und Ländern in der europapolitischen Zusammenarbeit großes Misstrauen vorherrscht.
Die verschiedenen Formen der europapolitischen Zusammenarbeit, auf die sich Bund und Länder im Zuge der Reformen der europäischen Verträge verständigt haben, sollen einerseits im täglichen Geschäft die Transaktionskosten reduzieren und andererseits eine "Aushöhlung" des deutschen Föderalismus im Rahmen der europäischen Integration verhindern. Um ihre Eigenstaatlichkeit zu schützen, haben sich die Länder auf eine Kompensationslogik eingelassen: Der Bund kann Länderkompetenzen auf die europäische Ebene übertragen, er muss jedoch im Gegenzug diesen Autonomieverlust der Länder durch eine institutionalisierte Mitwirkung an der Europapolitik des Bundes kompensieren. Im Zuge der Reformen der europäischen Verträge und der schrittweisen Ausdehnung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft wurden verschiedene Verfahren entwickelt, die den Ländern eine Beteiligung an der deutschen Europapolitik über den Bundesrat ermöglichen. Dieses System von Informations- und Mitwirkungsrechten wurde dann im Zuge der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht perfektioniert. Da der Unionsvertrag nicht nur vom Bundestag, sondern auch vom Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit ratifiziert werden musste, hatten die Länder einen Hebel in der Hand, mit dem sie dem Bund drohen konnten, den EU-Vertrag im Bundesrat scheitern zu lassen. Der 1993 neu geschaffene "Europaartikel" (Art. 23 GG) sollte dazu beitragen, im Bund-Länder-Verhältnis einen dauerhaften "Modus vivendi zufinden und verfassungsrechtlichen Streit wenn irgendmöglich zu vermeiden." Der wortreiche Europaartikel schreibt - in Analogie zur innerstaatlichen Kompetenzverteilung - abgestufte Beteiligungsrechte des Bundesrates fest. Das "Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBLG)" vom 12. März 1993 konkretisiert das in Artikel 23 GG festgeschriebene Verfahren. Der Europaartikel ist ein Beweis für in der deutschen Politik weit verbreitete Versuche, politische Konflikte durch bürokratische Verfahren zu lösen. Dass dies nur begrenzt gelingen kann, zeigten die heftigen politischen Kontroversen zwischen Bund und Ländern, die im Rahmen der jüngsten Föderalismusreformdebatte (2003 bis 2006) ausgetragen wurden.
Der Bund sprach sich in dieser Debatte für eine Streichung der entsprechenden Absätze in Europaartikel 23 GG aus, welche den Ländern direkte Mitwirkungsrechte in Brüssel erlauben. Die Länder - angeführt von Baden-Württemberg - konterten mit einem nicht weniger radikalen Vorschlag einer am belgischen Modell orientierten "vollständigen Entflechtung" in der Europapolitik. Die Folge dieser klaren Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern wäre gewesen, dass Landesminister sehr viel häufiger in den Ratssitzungen in Brüssel die alleinige Verantwortung hätten übernehmen können. Verstärkt wird das Misstrauen der Länder dadurch, dass die Bundesregierungen die Länder seit jeher als Störenfriede auf der europäischen Ebene betrachten und trotz der guten Beziehungen auf der Arbeitsebene deren eigenständige Aktivitäten und ihr erfolgreiches Lobbying in Brüssel immer noch mit Argwohn verfolgen. Die Position des Bundes ist nachvollziehbar, wenn darauf hingewiesen wird, dass eine "optimale Wahrnehmung nationaler Interessen in Brüssel" nur möglich sei, wenn die Vertreter der Bundesregierung in den Verhandlungen "zu jeder Zeit (vor allem auch schon im Vorfeld der eigentlichen Rechtsetzung) in der Lage" seien, "sachkundig und effizient (...) auf die Entscheidungen im Sinne bestmöglicher Interessenwahrnehmung Einfluss" zu nehmen. Für den Vertreter der Bundesregierung ist es im Rat die "peinlichste Situation", sagen zu müssen, Deutschland habe zu dem Thema, über das abgestimmt werden soll, aufgrund der internen Koordinationsprobleme zwischen den Ressorts oder zwischen Bund und Ländern, noch keine Position erarbeitet. Ein von Rheinland-Pfalz vorgelegtes Papier zeigte jedoch, dass Abstimmungsprobleme in Brüssel sich nicht aufgrund der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ergeben; hier ließen sich keine nennenswerten Probleme und auch keine echte Behinderung der deutschen Vehandlungsführung im Ministerrat feststellen.
Der Bundestag in der Europapolitik
Wie der Bundesrat, so hat auch der Bundestag im Zuge der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags eine Aufwertung seiner europapolitischen Rolle erfahren. Von Anfang an war jedoch klar, dass das Parlament in seiner Kontrollfunktion gegenüber dem Bundesrat aus strukturellen Gründen unterlegen ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, können sich Bundesregierungen im parlamentarischen System auf "ihre" Abgeordneten in den Regierungsfraktionen verlassen. Durch die europäische Integration und die Verlagerung von Kompetenzbereichen hat der Bundestag jedoch von Anfang an eine Transformation und "Europäisierung" seiner Arbeit erfahren. Zwei Zahlen können diese Veränderung illustrieren: Während der Deutsche Bundestag in der Legislaturperiode von 1961 bis 1965 insgesamt 224 Gemeinschaftsvorlagen bearbeitete, waren es im Zeitraum 1998 bis 2002 bereits 2 131 EU-Dokumente. Trotz der Professionalisierung der Bundestagsverwaltung und der Einführung entsprechender Ausschüsse stößt der Bundestag bei der Befassung mit EU-Vorlagen an seine Grenzen, wenn er die klassische Aufgabe der Kontrolle der Exekutive ausüben will: "Die - für ein Arbeitsparlament charakteristische - inhaltliche Durcharbeitung und Veränderung von Gesetzesentwürfen durch die Bundestagsausschüsse ist in Bezug auf das europäische Recht strukturell ausgeschlossen, denn sie ist gebunden an das Letztentscheidungsrecht` des Parlaments." Dies ist jedoch an den Vertreter der Regierung im Rat in Brüssel übergegangen, der dort zudem im Rahmen von Mehrheitsentscheidungen überstimmt werden kann - eine wie auch immer formulierte Bindung der Regierung an Bundestagsbeschlüsse wird dadurch "zur Fiktion". Die neuen Regelungen, die 2006 vereinbart wurden und auch die offizielle Eröffnung eines "Horchpostens" in Brüssel im Februar 2007 können an diesen strukturellen Einschränkungen parlamentarischer Kontrolle durch den Bundestag nur begrenzt etwas ändern. Zu erwarten ist jedoch ein Zugewinn an Sichtbarkeit und Legitimation europäischer Politik, wenn der Bundestag die neuen institutionellen Möglichkeiten nutzt, um die Europapolitik der Bundesregierung im Rahmen einer "antizipativen und kontinuierlichen Begleitung" zu überwachen.
Reformperspektiven
Die Debatten um eine Reform der Koordinierung der deutschen Europapolitik folgen in der Regel der Prämisse, dass eine Zentralisierung der europapolitischen Koordinierung eine effektivere und effizientere deutsche Interessenpolitik in Brüssel möglich machen würde. Die Vorschläge, die bestehenden Strukturen mit einer einfachen "Zauberformel" oder durch die Übernahme von Koordinationsmodellen, die in Paris oder London gut funktionieren mögen, zu lösen, überzeugen jedoch nicht. Die "Pfadabhängigkeit" der bestehenden Verfahren in der europapolitischen Koordinierung, der Pluralismus von Akteuren und die traditionelle Konkurrenz zwischen einzelnen Ministerien lassen eine grundlegende Reform der bestehenden Strukturen als sehr unwahrscheinlich erscheinen. Alle Versuche der Bundeskanzler Kohl, Schröder und Merkel in diese Richtung sind am Widerstand des jeweiligen Koalitionspartners gescheitert. Auch die Versuche der Länder, in immer komplizierteren Verfahren ihre Mitwirkungsrechte institutionell zu verankern, erinnern angesichts der Dynamik des europäischen Integrationsprozesses und der innovativen Verfahren, mit denen die EU sich neue Regelungskompetenzen aneignet, an den Wettlauf zwischen Hase und Igel.
Viel gewonnen wäre schon, wenn sich alle europapolitischen Mitspieler als echte Team player verstehen und die enormen finanziellen und personellen Ressourcen, die Deutschland in Brüssel, Berlin und in den anderen Hauptstädten einsetzt, im gegenseitigen Interesse besser aufeinander abstimmen würden.