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Was wird aus dem EU-Verfassungsvertrag?

Peter Knauer SJ Peter Knauer

/ 17 Minuten zu lesen

Eine Verfassung will die Handlungsfähigkeit eines Gemeinwesens garantieren. Das Herz des Entwurfs einer "Verfassung für Europa" findet sich in seinem "Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit".

Einleitung

Die Europäische Union versteht sich als eine zweifache Union sowohl der Staaten als auch der Bürgerinnen und Bürger Europas. Der Entwurf eines entsprechenden Vertrags für eine Verfassung Europas war am 18. Juni 2004 von der Europäischen Regierungskonferenz angenommen worden und wurde schließlich am 29. Oktober 2004 in Rom von allen Staats- und Regierungschefs der damals 25 Mitgliedsländer der Europäischen Union unterzeichnet. Am 12. Januar 2005 hat sich auch das Europäische Parlament, das formell nicht die europäischen Staaten, sondern deren Bürgerinnen und Bürger vertritt, mit 500 gegen 137 Stimmen bei 40 Enthaltungen für diesen Vertrag ausgesprochen und seine Ratifizierung durch die einzelnen Staaten "rückhaltlos befürwortet". Nach Art. IV-446 sollte der Vertrag ursprünglich nach Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunden durch die Mitgliedstaaten bereits am 1. November 2006 in Kraft treten. Sollten einige Ratifikationsurkunden erst danach eintreffen, dann würde die Geltung "am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden zweiten Monats" beginnen.



Zu den erklärten Zielen der Verfassung gehört es, dass ein "nunmehr geeintes Europa auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner, auch der Schwächsten und Ärmsten voranschreiten" und "auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will" (Präambel). Von besonderer Wichtigkeit ist, dass diese Verfassung das Prinzip repräsentativer Demokratie durch das der partizipativen Demokratie ergänzt (Artikel I-47), die vor allem in der Mitwirkung der Bürger bzw. der Zivilgesellschaft durch Informationsaustausch besteht.

Nach dem Verfassungsentwurf pflegt die EU mit den Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften "in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog" (Art. I-51).

Die gegenwärtige Lage

Am 29. Mai 2005 haben zuerst Frankreich und dann am 1. Juni 2005 auch die Niederlande in Volksabstimmungen aus zum Teil entgegengesetzten Gründen diesen Entwurf eines Vertrags für eine Verfassung Europas abgelehnt. Seitdem herrscht in der Europäischen Union große Ratlosigkeit. Angesichts der negativen Ergebnisse in Frankreich und den Niederlanden kam der Europäische Rat auf seiner Tagung am 16. und 17. Juni 2005 zu der Einschätzung, dass "die ursprünglich für den 1. November 2006 geplante Bestandsaufnahme zur Ratifizierung nicht mehr haltbar ist, da jene Länder, die den Text nicht ratifiziert haben, nicht vor Mitte 2007 eine gute Antwort geben könnten". Damit ist noch nichts darüber gesagt, was denn angesichts zweier fehlender Ratifizierungen aus dem Vertrag werden soll. Im Übrigen ist die Formulierung des Europäischen Rats wohl eher ein Euphemismus; es war ja nicht nur eine "Bestandsaufnahme" geplant, sondern das Inkrafttreten der Verfassung.

Am 1. Januar 2007 sind Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten. Von den nunmehr 27 Ländern haben bereits 18, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung der EU umfassen, den Verfassungsentwurf ratifiziert, vier von ihnen noch nach dem französischen und dem niederländischen Nein, zuletzt Estland am 6. Mai 2006 und Finnland am 5. Dezember 2006. Aber Dänemark, Irland, Polen, Portugal, Schweden und Tschechien haben ihre Entscheidung ohne Termin vertagt; Großbritannien hat den Plan einer Volksabstimmung ganz aufgegeben. Dadurch ist eine Situation entstanden, für die kein Ausweg vorgesehen ist. Gerade solchen Situationen soll durch eine Verfassung vorgebeugt werden. So zeigt sich in eben dieser Schwierigkeit die Notwendigkeit einer Verfassung.

Der Verfassungsentwurf hatte ursprünglich nur für nachträgliche Veränderungen nach seinem Inkrafttreten Folgendes vorgesehen: Die Regierung jedes Mitgliedstaats, das Europäische Parlament oder die Kommission können solche Veränderungen beim Europäischen Rat beantragen. Je nach Wichtigkeit dieser Wünsche soll nach Art. IV-443 (2) dann sogar erneut ein Konvent zu ihrer Bearbeitung einberufen werden können. Die daraufhin vom Europäischen Rat übernommenen Änderungsvorschläge wären danach wie der ursprüngliche Text ebenfalls von allen Mitgliedsländern zu ratifizieren. Aber es heißt in (4) für den Fall, dass dabei Probleme entstehen: "Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Verfassung vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag ratifiziert und sind in einem Mitgliedstaat oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten, so befasst sich der Europäische Rat mit der Frage." Doch diese Regelung bezieht sich nicht auf den ursprünglichen Vertragsentwurf selbst, sondern nur auf künftige Verträge zur Änderung dieses Vertrags.

Auf der Europäischen Regierungskonferenz vom 18. Juni 2004 wurde dem Vertrag eine Reihe von Erklärungen hinzugefügt, in deren Nr. 30 die eben genannte Regelung auch auf den Vertrag selbst ausgeweitet worden ist. Aber der Hinweis, unter welchen Umständen der Europäische Rat die Frage an sich ziehen solle, gibt noch keine Auskunft darüber, wie eine Lösung gefunden werden kann.

Manche meinen, der Entwurf einer Verfassung sei durch das Nein der Franzosen und der Niederländer bereits "gestorben". Die Länder, die zum Teil noch nach diesem Nein den Entwurf ratifiziert haben, sind offenbar nicht dieser Meinung. Andere würden ihn am liebsten den beiden Ländern, die ihn abgelehnt haben, nach dem nächsten dortigen Regierungswechsel ohne substanzielle Änderung erneut vorlegen: Aber wird damit den Wählern in diesen Ländern der geschuldete Respekt erwiesen? Wieder andere empfehlen, gleichsam nur die Rosinen aus dem Textentwurf zu picken und einen neuen Entwurf zu erstellen. Aber wie und mit welchen Kriterien will man sich darüber verständigen, wenn bereits bisher die Verständigung so schwierig war? Und schließlich gibt es die Vorstellung, man solle den vorliegenden Text noch durch ein zusätzliches Protokoll zum Thema eines sozialen Europas erweitern (ein deutscher Vorschlag), als gäbe es nicht bereits viel zu viele Anhangsdokumente. Kann man den Problemen entgehen, indem man die Bezeichnung "Verfassung" und deren Anspruch aufgibt? Doch die EU braucht vor allem deshalb eine Verfassung, weil sie sich nicht ständig selber blockieren will.

Um einen Ausweg zu finden, mag es hilfreich sein, einen Blick auf die Struktur und die Geschichte des gegenwärtigen Textes zu werfen und auch darüber nachzudenken, worin der Sinn einer Verfassung besteht.

Die Anfänge

Der Europäische Rat als das oberste Gremium der Europäischen Union hatte im Dezember 2001 mit der "Erklärung von Laeken über die Zukunft der Europäischen Union" einen "Konvent über die Zukunft Europas" mit dem Arbeitsziel einberufen, innerhalb eines Jahres zum einen das bestehende EU-Recht zusammenzufassen und zu vereinfachen und zum anderen Demokratie, Entbürokratisierung und Bürgernähe zu fördern und Zuständigkeiten zu klären. Der Europäische Konvent setzte sich aus Regierungs- und Parlamentsvertretern der Mitgliedstaaten der EU, der zehn Beitrittsländer und der Beitrittskandidaten (Rumänien, Bulgarien, Türkei) sowie Vertretern des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission zusammen. Er tagte zwischen dem 28. Februar 2002 und dem 20. Juli 2003. Man entschied sich dafür, in einem einzigen Dokument die Zusammenführung des Rechts mit einem Verfassungsentwurf zu verbinden. Am 20. Juni 2003 legte der Konvent dem Europäischen Rat in Thessaloniki die ersten beiden Teile als "Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa" vor. Im Vorwort zu diesem Entwurf, das sich ausdrücklich nur auf diese beiden Teile bezieht, heißt es, man hoffe, er könne "das Fundament eines künftigen Vertrags über eine Europäische Verfassung" darstellen.

Die beiden Teile sind jeweils mit einer Präambel versehen. Der erste Teil, der keinen Titel trägt, ist die eigentliche Verfassung. In der Paperbackausgabe umfasst er 59 Artikel auf 75 Seiten. Teil II ist die "Charta der Grundrechte der Union"; zum großen Teil handelt es sich um allgemeine Menschenrechte, die nicht nur für die Unionsbürgerinnen und -bürger gelten. Dieser zweite Teil besteht aus 54 Artikeln auf 32 Seiten. Diesen beiden Teilen folgen noch drei Protokolle "Über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union" (4 S.), "Über die Anwendung der Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität (4 S.) und "Über die Vertretung der Bürger im Europäischen Parlament und die Stimmengewichtung im Europäischen Rat und im Ministerrat" (5 S.). Zusammen macht dieser Text des Verfassungsentwurfs einschließlich seiner Protokolle ca. 120 Seiten aus. Es handelte sich um einen transparenten und wohl auch nicht zu langen Text.

Vielleicht hätte es statt "Verfassung für Europa" besser geheißen: "Verfassung für die Europäische Union"; denn die EU umfasst nicht ganz Europa. Die Türkei zum Beispiel ist bereits seit 1949 Mitglied des Europarats, aber ist noch nicht Mitglied der Europäischen Union, auf die sich der Verfassungsentwurf bezieht.

Nun ist bereits in diesem Text an verschiedenen Stellen von einem Teil III die Rede, z.B. in Teil I, Artikel 40, (5)-(7). Dieser Teil III, überschrieben "Die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union", und ein Teil IV mit "Allgemeinen und Schlussbestimmungen" wurden erst einige Wochen später nachgeliefert, ohne im Konvent im Einzelnen diskutiert worden zu sein.

Zusätzliche Protokolle

Den ursprünglich abgelieferten Teilen I und II waren, wie erwähnt, drei Protokolle hinzugefügt. Man fragt sich, warum sie nicht in den Text von Teil I eingearbeitet wurden. Das wichtigste Protokoll ist das "Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit". Es entfaltet sehr kurze Aussagen aus dem Haupttext. Dort heißt es in Artikel I-11, dass in Bezug auf die Ausübung der Zuständigkeiten der EU die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gelten: "Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind."

Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit heißt es im Haupttext nur: "Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verfassung erforderliche Maß hinaus."

Genauer wird dies überhaupt erst im Protokoll erläutert: Die Entwürfe von europäischen Gesetzgebungsakten haben zu berücksichtigen, "dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union, der nationalen Regierungen, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaftsteilnehmer und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen." (Artikel 4) Der entscheidende Punkt ist: Belastungen für wen auch immer sind so gering wie möglich zu halten.

Dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist kennzeichnend für die europäische Jurisprudenz. Er ist von kaum zu überschätzender Bedeutung. Meines Erachtens handelt es sich sogar um das - als solches bisher noch kaum erkannte - Grundprinzip der Ethik überhaupt. Tatsächlich stellt ja die Forderung nach Verhältnismäßigkeit das Kriterium für alles verantwortliche Handeln dar. Allen unverantwortlichen Handlungen ist gemeinsam, dass sie die Verhältnismäßigkeit nicht wahren: Von der Handlung Betroffene werden in unnötiger und damit nicht zu verantwortender Weise belastet. Solche Handlungen untergraben auf die Dauer und im Ganzen gesehen gerade den Wert oder Werteverbund, den sie eigentlich fördern sollten, sind also "ihrem Ziel nicht angemessen".

Im Prinzip der Verhältnismäßigkeit geht es nicht um einen unmittelbaren Gütervergleich von Gewinn und Verlust, sondern fundamentaler um das Verhältnis der Handlung selbst zu dem in ihr angestrebten Ziel. Nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit sind alle negativen Auswirkungen von Handlungen zu minimieren. So lautet auch die eigentlich ethische Frage nicht, welche Werte wir anstreben sollen, sondern wie wir sie anstreben, nämlich ob wir den Werten, die wir anstreben, auch universal ("ohne Ansehen der Person") und im Ganzen und auf die Dauer gerecht werden, anstatt sie in Wirklichkeit zu unterminieren. Unverantwortliche Handlungen haben immer die Struktur von Raubbau. Man mag zwar unmittelbar gesehen und für sich selber und die eigene Gruppe einen erwünschten Vorteil erreichen, aber in universaler Betrachtung und im Hinblick auf die Gesamtwirklichkeit, soweit sie überschaubar ist, wird eben dieser Wert untergraben. Die Gesamtbilanz solchen Handelns ist negativ.

Die Einsicht in die Geltung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit bedarf keiner religiösen Argumente. Religion bringt keine zusätzlichen ethischen Normen mit sich, sondern will diejenige Angst des Menschen um sich selber entmachten, die ihn sonst immer wieder hindert, seiner bereits mit der Vernunft gegebenen ethischen Einsicht auch zu entsprechen.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedeutet unter anderem, dass die angeblichen Sachzwänge des Marktes nicht vor den Menschenrechten die Oberhand gewinnen dürfen. Ein allein am Gewinn orientierter Markt würde universal gesehen gerade die Quellen des Gewinns untergraben. Anstatt sich den so genannten Sachzwängen des Marktes zu unterwerfen, ist ihnen vorzubeugen.

Die im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgesagte Einsicht ist wie ein Resumé der europäischen Kultur, wie sie in dem μηδέν ἄγαν (ne quid nimis = nichts zuviel), das bereits auf Solon (um 640 bis 559 v. Chr.) zurückgeht, oder zum Beispiel auch in der modernen Forderung nach Nachhaltigkeit zum Ausdruck kommt. Es scheint mir nicht übertrieben, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als das Herz des Verfassungsentwurfs anzusehen.

Auch das Subsidiaritätsprinzip, das seinerseits nur eine Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist, ist sehr wichtig. Es stellt ein Bollwerk gegen den von vielen immer wieder befürchteten Brüsseler Zentralismus dar. Es fordert, die jeweils problemnäheren Lösungsinstanzen zu stärken, anstatt sie zu entmachten.

Damit es nicht bloß bei einer folgenlosen Berufung auf hehre Prinzipien bleibt, legt das genannte Protokoll fest: Gesetzgebungsvorschläge sind immer auch den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln, um sie deren Kontrolle zu unterwerfen. Im Einzelnen wird ausdrücklich gefordert: "Jeder Gesetzgebungsvorschlag sollte einen Bogen mit detaillierten Angaben enthalten, die es ermöglichen zu beurteilen, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurden." Dabei geht es vor allem um eine genaue Rechenschaft über die möglichen Auswirkungen eines Gesetzes auf verschiedene Gruppen von Betroffenen. In Bezug auf den Grundsatz der Subsidiarität wird bestimmt: "Die Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, muss auf qualitativen und - soweit möglich - quantitativen Kriterien beruhen." (Artikel 4)

Solche Forderungen sind in der Verfassungslandschaft einzigartig und stellen eine hohe Errungenschaft dar. Dass darüber jedoch nur in einem an den Verfassungstext angehängten Protokoll gehandelt wird, ist angesichts ihrer grundlegenden Bedeutung kaum zu verstehen. Es sollte im Haupttext geschehen.

Eine problematische Weiterentwicklung

Nach der Vorlage des Arbeitsergebnisses des Konventes konnten sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrer Zusammenkunft in Rom am 12. und 13. Dezember 2003 noch nicht zur Annahme entscheiden; es gelang ihnen nicht, sich über den Abstimmungsmodus im Europäischen Rat zu einigen. Erst im Juni 2004 verständigten sie sich. Neben kleineren Änderungen wie einer besseren Zählung der Artikel war eher überraschend, dass der sehr umfangreiche Teil III "Die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union" mit seiner Aufarbeitung bisherigen EU-Rechts als ebenfalls zum Verfassungsentwurf gehörend angesehen wurde. Teil III besteht im Wesentlichen (man schätzt zu 83 Prozent) aus einer Zusammenführung der bisherigen Verträge der Union; er umfasst 332 Artikel. Es handelt sich weitgehend nur um Einzelgesetze, von denen nicht einzusehen ist, warum sie in einer Verfassung stehen sollen. Teil III hätte vom Verfassungsvertrag getrennt bleiben müssen. Vielleicht hätte ein solcher Text nicht einmal einer erneuten Ratifizierung bedurft, sondern es hätte genügt, ihn von den Regierungen bestätigen zu lassen.

Aber auch aus den ursprünglichen drei Protokollen sind nun 36 geworden; zu denen zwei Anhänge hinzukommen, in denen u.a. Dinge aufgezählt werden wie "Zucker, Sirupe und Melassen, aromatisiert oder gefärbt (einschließlich Vanille- und Vanillinzucker), ausgenommen Fruchtsäfte mit beliebigem Zusatz von Zucker". Zusätzlich gibt es 48 Erklärungen, die in der englischen Druckausgabe noch einmal 98 Seiten ausmachen. In Art. IV-442 wird ausdrücklich festgelegt: "Die Protokolle und Anhänge dieses Vertrags sind Bestandteile dieses Vertrags."

Diese Aussage des Vertrags hat jedoch nicht verhindern können, dass zum Beispiel vor dem Referendum in Frankreich an alle Haushalte nur der Text des Vertragsentwurfs ohne die Protokolle und Anhänge verteilt worden ist. Es fehlte insbesondere das so wichtige Protokoll "Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit".

Sogar das Europäische Parlament hat nach seiner Abstimmung vom 12. Januar 2005 in den verschiedenen Sprachen der Mitgliedsländer Ausgaben des Verfassungsentwurfs publiziert, in welchen alle diese Anhänge und damit auch die genannten wichtigen Protokolle weggelassen worden sind, obwohl sie integrale Bestandteile des Vertrags sind. Diese Ausgaben erhält man im Informationsbüro des Europäischen Parlaments. Fragt man nach den Protokollen, erhält man die Antwort, dass sich dafür doch niemand interessiere. Will man sie trotzdem haben, wird man in ein anderes Büro geschickt, muss an einer verschlossenen Tür klingeln und bekommt schließlich dort diese Texte eigens fotokopiert.

Handelt es sich nach der Hinzufügung von Teil III mit allen möglichen Einzelgesetzen noch um eine Verfassung? War man sich dessen bewusst, worin die Aufgabe einer Verfassung im Unterschied zu Einzelgesetzen besteht?

Der Sinn einer Verfassung

In einer Verfassung stellt ein Gemeinwesen Regeln zu seiner Selbstbeherrschung auf, um ein erwartbar geordnetes künftiges Handeln zu ermöglichen. Eine Verfassung bestimmt, über welche Organe das Gemeinwesen zur Erreichung seiner Ziele verfügt und durch welche Verfahren Gesetze zustande kommen. Sie legt die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit fest. Sie nimmt jedoch nicht Einzelentscheidungen vorweg, die von wechselnden demokratischen Mehrheiten abhängen werden, sondern will sie nur grundsätzlich ermöglichen und dadurch Situationen vermeiden, in denen das Gemeinwesen gelähmt wird.

Der Verfassungsrechtler Dieter Suhr hat auf den Zusammenhang zwischen "Bewusstseinsverfassung", "Gesellschaftsverfassung" und "geschriebener Verfassung" hingewiesen. Die "Bewusstseinsverfassung" ist die Weise, wie Menschen voneinander denken (zum Beispiel die Haltung der Solidarität oder vielleicht ein alles dominierender Fremdenhass). Die "Gesellschaftsverfassung" ist die grundlegende Weise, wie man aufgrund seiner "Bewusstseinsverfassung" tatsächlich miteinander lebt, etwa in friedlichem und gedeihlichem Zusammenleben oder aber im Bürgerkrieg. Eine "geschriebene Verfassung" hat zum Ziel, eine gelungene "Gesellschaftsverfassung" ausdrücklich bewusst zu machen und so erneut auf die "Bewusstseinsverfassung" der Menschen einzuwirken, um die gelungene "Gesellschaftsverfassung" zu verstärken.

Deshalb ist eine erste Forderung, die an eine Verfassung zu stellen ist, dass sie allgemeinverständlich ist. "Das verfassende Wort hebt den Vorgang der bewussten und planmäßigen Gestaltung der Gesellschaft` aus dem Bereich der ständig neuen subjektiven Beliebigkeit heraus. So wie ich mich selbst binde, wenn ich mir etwas vornehme, so bindet sich ein Gemeinwesen selbst, wenn es sich eine Verfassung gibt. Wie bei der Demokratie steht auch bei der Verfassung am Anfang der Schritt in die Selbstbeherrschung, der zugleich ein Schritt in die Objektivität des Buchstabens ist. (...) Dem Anspruche nach läuft das Rechtsstaatlichkeitsprinzip darauf hinaus, die Selbstbindung an das eigene sprachliche Werk sozialtechnisch zu verwirklichen: Als wirkliche Achtung der Menschen vor ihrem Werk, das ihre Selbstachtung durch wechselseitige Anerkennung freiheitlich organisiert."

Wie sehr es gerade auf eine Wortwahl ankommt, die nicht missverständlich ist, sei an einem Beispiel aus dem Verfassungskontext erläutert. Gegenwärtig ist eines der Hauptprobleme der Europäischen Union die Frage nach ihrer "Aufnahmekapazität". Auf Französisch spricht man in Brüssel oft von " capacité d'absorption". Aber kann es bei der Aufnahme neuer Mitgliedsländer wirklich darum gehen, diese zu "absorbieren"? "Capacité d'intégration" wäre eine hilfreichere Übersetzung. Durch falsche Wortwahl entstehen falsche Vorstellungen in den Köpfen (= Bewusstseinsverfassung), die viel vergiften können.

Als besonders EU-kritisch hat sich Großbritannien erwiesen. Auf den Diskussionsseiten der Homepage des Londoner Rundfunks wurde immer wieder beklagt, dass Großbritannien seine Souveränität zugunsten der EU aufgeben solle. Tatsächlich geht es darum, dass Mitgliedsländer der EU nicht etwa die eigene Souveränität aufgeben, sondern dass sie auf bestimmten Gebieten ihre Souveränität in Zukunft gemeinsam mit anderen Ländern ausüben und dadurch effizienter machen.

Eine zweite Forderung besteht darin, dass eine Verfassung sich auf ihre Aufgabe als Verfassung beschränken sollte, nämlich Rahmenbedingungen für Politik aufzustellen und nicht stattdessen Einzelgesetze festzuschreiben.

Den Verfassungsentwurf durch den umfassenden Teil III mit Einzelgesetzen zu erweitern, war ein schwerer Fehler. Und war es sinnvoll, dem Haupttext 36 Protokolle, 2 Anhänge und 48 (oder 50) Erklärungen beizugeben? Solange der Verfassungsvertragsentwurf mit diesen Fehlern behaftet bleibt, ist sein endgültiges Scheitern programmiert. Das Ziel, ein europäisches Bewusstsein im Sinn eines Verfassungspatriotismus zu fördern, lässt sich so nicht erreichen.

Was tun?

Der Europäische Rat sollte sich auf den ursprünglich laut Vorwort als Verfassung vorgesehenen Text beschränken und die beiden Protokolle "Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" und "Über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union" (ihre Kontrollaufgabe) in den Haupttext einarbeiten lassen. Es darf nicht wieder geschehen, dass so wichtige Bestandteile der Verfassung bei deren Publikation weggelassen werden können.

Der Text selbst bedürfte einer sorgfältigen Nachredaktion, um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, einen einsichtigeren Aufbau zu erreichen und vor allem immer auch für durchschnittlich gebildete Laien verständlich zu sein. Wünschenswert wären diesbezügliche Vorarbeiten durch Vereinigungen der Zivilgesellschaft, und man sollte mit diesem Vorhaben so bald wie möglich beginnen.

Man könnte sich fragen, ob es bei der Bestimmung Art. I-47 (3) bleiben soll, wonach sich die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Läuft dies nicht auf die Forderung nach ständiger Aufrüstung hinaus, und kann dies ein Verfassungsgebot sein?

Als sachliche Verbesserung wäre es in hohem Maß zu begrüßen, in der Verfassung für die grundlegenden Entscheidungen anstatt Einstimmigkeit nur so genannte "superqualifizierte" Mehrheiten zu fordern, wie sie in Art. I-44 (3) vorgesehen sind: Die Mehrheit der Stimmen muss aus mindestens 55 Prozent oder in einigen Fällen 72 Prozent der Mitglieder des Rates, welche die beteiligten Länder vertreten, bestehen, und die betreffenden Staaten müssen mindestens 65 Prozent der gesamten EU-Bevölkerung umfassen; für eine Sperrminorität sind so viele Ratsmitglieder erforderlich, dass ihre Länder 35 Prozent der Bevölkerung umfassen, plus ein weiteres Mitglied. Von der manchmal noch immer bestehenden Forderung nach Einstimmigkeit, die auf ein Vetorecht jedes Landes hinausläuft und die EU vollständig blockieren kann, wäre dagegen allgemein abzurücken. Sonst bleibt die Europäische Union in schlechter Verfassung.

Es ginge also im Wesentlichen darum, zu den ersten beiden Teilen als dem ursprünglich als Verfassung gedachten Entwurf zurückzukehren und ihnen noch einmal Aufmerksamkeit und Sorgfalt zuzuwenden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Etablierung eines solchen Dialogs ist ungleich mehr zu begrüßen, als wenn im Verfassungsentwurf der Forderung nach einem Hinweis auf Gott Rechnung getragen worden wäre. Von Gott zu reden, ist eher keine Aufgabe staatlicher Institutionen. Dies bedeutet nicht, dass dann Religion Privatsache wäre. Die Kirchen selbst sollen öffentlich den Glauben bezeugen; diese Aufgabe ist nicht an staatliche Stellen delegierbar.

  2. Noch vor ihrem Beitritt haben auch Bulgarien und Rumänien dem Verfassungsentwurf bereits im Mai 2005 zugestimmt. Für Deutschland fehlt allerdings nach der Ratifikation durch den Bundestag noch die Unterschrift des Bundespräsidenten, der wegen einer Verfassungsklage von MdB Peter Gauweiler die Entscheidung des Verfassungsgerichts abwartet. Gauweiler sieht die EU als nicht genügend demokratisch legitimiert an.

  3. So wäre wohl "se saisit de la question" sachgemäßer zu übersetzen, statt "befasst sich mit der Frage".

  4. Am 11. Januar 2006 hat der niederländische Außenminister Ben Bot erklärt, "die Europäische Verfassung ist für die Niederlande tot".

  5. Der Europäische Rat setzt sich aus den Staats- undRegierungschefs der Mitgliedstaaten der EU, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, einem Kommissionsmitglied und den Außenministern zusammen.

  6. Der offizielle Text der deutschen Ausgabe dieses ursprünglichen Textes trägt das Copyright "Europäische Gemeinschaften, 2003".

  7. Zusammen mit einem vom Vorsitzenden des Konvents, Giscard d'Estaing, und seinen Stellvertretern Giuliano Amato und Jean-Luc Dehaene gemeinsam unterzeichneten Vorwort und einer Liste der Konventsmitglieder sowie einem Inhaltsverzeichnis umfasst das gesamte Paperback im Taschenbuchformat VIII + 169 Seiten.

  8. Heute Artikel I,41 (5)-(6).

  9. Vgl. Peter Knauer, Handlungsnetze - Über das Grundprinzip der Ethik, Frankfurt/M. 2002.

  10. Insbesondere die Verträge von Rom zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (1951), von Maastricht über die Europäische Union (1993) und von Nizza (2003).

  11. Nach der englischsprachigen Druckausgabe vom Publications Office der EU (Band I und Band II). Nach der ebenfalls offiziellen Webseite der EU für den Text (http://europa.eu/constitution/de/allinone_de. htm; 1.1. 2007) handelt es sich sogar um 50 Erklärungen: Hier kommen noch eine "Erklärung des Königreichs Belgien zu den nationalen Parlamenten" und eine "Erklärung der Republik Lettland und der Republik Ungarn zur Schreibweise des Namens der einheitlichen Währung in dem Vertrag über eine Verfassung in Europa" hinzu. - Der Verfassungstext selbst umfasst in dieser englischen Ausgabe 324 DIN-A-4-Seiten und hat das Gewicht von 875g; hinzukommen die Protokolle, Anhänge und Erklärungen, die zusammen 460 Seiten mit einem Gewicht von 1 200g ausmachen; beide Bände zusammen wiegen über zwei Kilo; dies ist etwas viel für eine Verfassung.

  12. Dieter Suhr, Bewusstseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, Berlin 1975, 362f.; vgl. auch ders., Entfaltung der Menschen durch die Menschen - Zur Grundrechtsdogmatik der Persönlichkeitsentfaltung, der Ausübungsgemeinschaften und des Eigentums, Berlin 1976.

  13. Vgl. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, Frankfurt/M. 1990; Jürgen Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992.

  14. Zum Beispiel sind Art. I-10 (2) b und II-100 identisch.

  15. Insbesondere in Bezug auf die Festsetzung der Finanzbeiträge an die Union; vgl. Art.I-54 (3).

Dr. theol., geb. 1935; Professor emeritus für Fundamenthaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen Frankfurt/M.; Mitarbeiter des OCIPE (Office Catholique d'information pour l'europe) und des Foyer Catholique Européen, eines Gemeindezentrums für EU-Angestellte, Rue du Cornet 51, B-1040 Bruxelles.
E-Mail: E-Mail Link: Peter.knauer@jesuiten.org