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Macht, Narzissmus und die Sehnsucht nach dem Führer | Politische Psychologie | bpb.de

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Macht, Narzissmus und die Sehnsucht nach dem Führer

Hans-Jürgen Wirth

/ 15 Minuten zu lesen

Macht übt gerade auf jene Personen Anziehungskraft aus, die an narzisstischer Persönlichkeitsstörung leiden. Es findet eine Abkehr von Idealen statt, denen sie eigentlich verpflichtet sind.

Einleitung

Keine Macht für niemand", lautete einer der Slogans der 68er-Bewegung. Jacob Burckhardt schrieb schon exakt 100 Jahre früher in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen": "Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe." Aber die Studenten des Pariser Mai '68 forderten nicht nur die Abschaffung der Macht, sondern formulierten auch: "Die Phantasie an die Macht!" und "Alle Macht dem Volke!" Macht ist ein schillerndes Phänomen, das höchst ambivalente Gefühle, Phantasien und Wertungen wachruft. Macht wird einerseits entwertet, verdammt, gar verteufelt; andererseits löst sie Faszination aus. Viele Menschen bewundern und beneiden diejenigen, die sie ausüben, und träumen heimlich davon, selbst über unendlich viel Macht zu verfügen.



Interessanterweise ergeht es dem Begriff des Narzissmus ähnlich wie dem der Macht: Auch ihm haftet eine höchst ambivalente Tönung an. Sigmund Freud stellt dem Narzissmus die Objektliebe diametral gegenüber. Je mehr man seine begrenzte libidinöse Energie an andere Menschen als Liebe und Zuneigung verschenke, umso weniger bleibe sozusagen dafür übrig, sich selbst zu lieben. Wer umgekehrt in erster Linie an sich selbst denke, dem stünden für den Mitmenschen keine Liebes-Reserven mehr zur Verfügung.

Der Narzissmus erscheint mit dem Egoismus assoziiert und demnach als eine antisoziale Eigenschaft. Wenn wir einen Menschen als narzisstisch bezeichnen, werten wir ihn ab und charakterisieren ihn als egoistisch, ich-bezogen und in seinen sozialen Beziehungen beeinträchtigt. Narzisstisch gestörte Persönlichkeiten gelten als psychotherapeutisch schwer behandelbar, und die von manchen Autoren postulierte Zunahme narzisstischer Störungen im "Zeitalter des Narzissmus" wird als Zeichen eines tiefgreifenden sozialen Verfalls gedeutet. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett erklärt den Narzissmus gar zur "protestantischen Ethik von heute" und lässt keinen Zweifel daran, dass er den Terror der Intimität für ein Grundübel der an narzisstischen Zielen und Werten orientierten Gesellschaft hält.

Suchtartige Machtprozesse

Narzisstisch gestörte Menschen streben nach Macht, weil sie damit ihr mangelhaftes Selbstwertgefühl kompensieren wollen. Umgekehrt nährt die Möglichkeit, Macht auszuüben, Größen- und Allmachtsphantasien. Macht wirkt wie eine Droge: Die Selbstzweifel verfliegen, das Selbstbewusstsein steigt. Machtphantasien dienen häufig der Überwindung unerträglicher Ohnmachtgefühle. Gehen Narzissmus, Macht und Aggression eine enge Verbindung ein, kommt es zu destruktiven und selbstdestruktiven Entladungen. Liebespartner, aber auch andere Interaktionspartner verzahnen sich häufig in einem Macht-Ohnmacht-Kampf, den Paartherapeut Jürg Willi beziehungsdynamisch als "unbewusste narzisstische Kollusion" beschrieben hat.

Das Problem der Macht hängt einerseits mit der existenziellen Abhängigkeit des Menschen und andererseits mit seinem ebenso existenziellen Bedürfnis nach Souveränität zusammen. Der Mensch bleibt sein ganzes Leben lang auf Anerkennung durch andere angewiesen. Schon der Säugling hat ein primäres Interesse am Kontakt mit anderen Menschen. Damit sich ein Gefühl der Identität entwickeln kann, bedarf es eines Gegenübers, das durch Liebe, Vertrauen und Anerkennung das Selbst-Gefühl bestätigt - oder genauer: überhaupt erst konstituiert. Die Erfahrung, auf den anderen und sein Wohlwollen und sein Vertrauen in fundamentaler Weise angewiesen zu sein, gehört zu den schmerzlichsten, aber auch beglückendsten Erfahrungen, denen jeder Mensch vom Beginn seines Lebens an immer wieder ausgesetzt ist.

Die Ausübung von Macht, der pathologische Narzissmus und der irrationale fanatische Glaube stellen Strategien dar, um diese Abhängigkeit zu verleugnen. Indem man andere mit Hilfe der Macht unterjocht, versklavt oder sich in anderer Form gefügig macht, kann man sich die Illusion verschaffen, unabhängig zu sein. Der andere soll gezwungen werden, seine Anerkennung auszudrücken, ohne selbst Anerkennung zu ernten. Die Anhäufung von noch so viel Macht kann das menschliche "Urbedürfnis" nach Liebe und Anerkennung jedoch nicht ersetzen, sondern nur umformen. Wer Macht hat, kann sich Liebe und Anerkennung zwar erzwingen und erkaufen, er verschleiert damit jedoch nur seine fundamentale Abhängigkeit, ohne sie wirklich aufheben zu können: "Damit beginnt ein Circulus vitiosus: Je mehr der andere versklavt wird, desto weniger wird er als menschliches Subjekt erfahren", und desto mehr Gewalt muss das Selbst gegen ihn einsetzen, um die erhoffte Anerkennung zu erhalten. Denn je größer die Gewalt ist, mit der Anerkennung erzwungen wird, umso weniger ist sie wert. Aus dieser Dynamik leitet sich der suchtartige Charakter von Machtprozessen ab.

Das dynamische Wechselspiel zwischen Narzissmus und Macht wird auf der einen Seite durch die Machtgelüste des Herrschers geprägt, die auf der anderen Seite durch die Bedürfnisse der Beherrschten nach Unterwerfung, Schutz und blinder Gefolgschaft ergänzt werden und dessen Macht überhaupt erst ermöglichen. Gesellschaftliche Macht wird gesucht, um innere Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Minderwertigkeit zu kompensieren. Im fanatischen Glauben an die übermenschliche Macht der Führerfigur versucht das Subjekt, die eigene Omnipotenz durch eine Unterwerfung zu sichern, die mit der heimlichen Phantasie verbunden ist, durch Über-Identifikation mit der als übermächtig erlebten Autorität an deren Macht zu partizipieren.

Macht und Machtmissbrauch

Moderne psychoanalytische Konzepte wie die "relationale Psychoanalyse" betrachten den Narzissmus nicht mehr als "einsame Beschäftigung des Subjekts mit sich selbst", sondern als Ausdruck und Medium des Bedürfnisses, von anderen geliebt und anerkannt zu werden. Einerseits sind wir bestrebt, uns als Individuen unserer Einzigartigkeit und Individualität zu vergewissern, andererseits sind wir dazu aber - paradoxerweise - auf die spiegelnde Anerkennung (und Liebe) der anderen angewiesen. Im Unterschied zur Freud'schen Auffassung bildet der Narzissmus demnach "keinen Gegensatz zur Objektbeziehung, er ist in einem Zwischenbereich angesiedelt, welcher das Selbst mit dem anderen verbindet."

So wie der Narzissmus ein allgegenwärtiger Aspekt des Seelenlebens ist, stellt auch die Macht einen unvermeidlichen Bestandteil des sozialen Lebens dar. Sowohl Narzissmus als auch Macht lassen sich nur über ihren Beziehungsaspekt erschließen. Macht existiert nicht schlechthin, sondern man übt sie über etwas oder über jemanden aus. Niklas Luhmann versteht Macht als ein "Kommunikationsmedium", das dazu dient, "auf einen Partner, der in seinen Selektionen dirigiert werden soll", Einfluss zu nehmen. Der Soziologe Max Weber definiert Macht als "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht". In seinem berühmten Essay "Politik als Beruf" richtet er im Zusammenhang mit den negativen Wirkungen der Macht seinen soziologischen Blick auf "einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind (...): die ganz gemeine Eitelkeit". Er bezeichnet sie als "Berufskrankheit" der Politiker (und der Wissenschaftler) und vermutet, sie sei eine Eigenschaft, von der sich niemand ganz frei wähnen könne. Bei Weber findet sich auch eine implizite Definition von Machtmissbrauch: "Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der 'Sache' zu treten." Interessanterweise thematisiert Weber hier implizit bereits den engen Zusammenhang zwischen Narzissmus und Macht, auch wenn ihm der Begriff des Narzissmus als Soziologe nicht geläufig war.

Die Ausübung von Macht wird problematisch, wenn die Leitungsfunktion vom pathologischen Narzissmus der Führungsperson bestimmt wird, wenn der Führer seine Macht dazu benutzt, seine unbewussten narzisstischen Konflikte auszuagieren oder abzuwehren. Es ist einer Führungsperson durchaus erlaubt, ihre gesunden narzisstischen und auch ihre aggressiven Strebungen in ihre Arbeit einfließen zu lassen: "Die Machtausübung ist ein wesentlicher, unvermeidbarer Teil der Führung und verlangt von der Führungskraft, dass sie sich die aggressiven Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit problemlos zunutze machen kann." Auch sind die gesunden narzisstischen Wünsche und Bedürfnisse eine wichtige Stimulanz für die Führungsaufgabe. So ist es unproblematisch, wenn ein Führer stolz auf seine Arbeit und die Erfolge ist, die er selbst und die von ihm geleitete Gemeinschaft erreicht haben. Sein Selbstwertgefühl sollte sich durch solche Erfolge steigern, er sollte sich auch gerne mit seiner Arbeit in der Öffentlichkeit zeigen und sich dafür anerkennen, feiern und ggf. auch wählen lassen. Das alles sind Ausdrucksformen eines gesunden Narzissmus, die der sachlichen Arbeit und auch der Entwicklung der Persönlichkeit des Führers und der Weiterentwicklung der Gruppen-Identität förderlich sind.

Wir können jedoch dann von Machtmissbrauch sprechen, wenn der Mächtige seine Stellung dazu benutzt, Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, die mit der sachlichen Aufgabe, die mit seiner sozialen Rolle verknüpft sind, nichts zu tun haben, sondern primär oder ausschließlich seiner "persönlichen Selbstberauschung", seiner "Eitelkeit", also seinem pathologischen Narzissmus dienen. Entsprechend könnte man den pathologischen Narzissmus (im Unterschied zum gesunden) dadurch kennzeichnen, dass andere Menschen (mit Hilfe von Macht) funktionalisiert werden, um das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Besonders problematisch wird der Machtmissbrauch dann, wenn sich die Gemeinschaft in ihrer kollektiven Identität bedroht fühlt, ein narzisstisch gestörter Führer die Macht erringen kann und dieser ein "gewähltes Trauma" und einen gemeinsamen Außenfeind aussucht, um die emotionalen Konflikte der Großgruppe dort auszuagieren.

Der Wille zur Macht und die Sehnsucht nach dem Führer

Narzissmus ist nicht nur eine der zentralen psychischen Voraussetzungen zur Ausübung von Macht, sondern die Ausübung von Macht ist auch eine wirkungsvolle Stimulanz für das narzisstische Selbsterleben. Wer erfolgreich seinen Willen durchzusetzen vermag, fühlt sich narzisstisch gestärkt. Menschen, die unter einem gestörten Selbstwertgefühl leiden, entwickeln häufig als Bewältigungsstrategie ein übersteigertes Selbstbild, das durch die Ausübung von Macht eine Stärkung erfährt. Beispielsweise kommt es in Paarbeziehungen häufig vor, dass der eine Partner - von untergründigen Selbstwertzweifeln geplagt - ständig versucht, den anderen zu dominieren. Er zwingt ihm seinen Willen auf, um sich selbst zu beweisen, dass er der Wertvollere, Klügere, Überlegene ist. Bei solchen paardynamischen Machtkämpfen tritt der inhaltliche Aspekt - welche Entscheidungen und Handlungen nun im Einzelnen gefällt werden sollen - mehr und mehr in den Hintergrund zugunsten der bloßen Tatsache, den eigenen Willen wieder einmal durchgesetzt zu haben. Die Machtausübung dient der narzisstischen Gratifikation. Ein Mensch, der stark darauf angewiesen ist, sein labiles Selbstwertgefühl laufend durch demonstrative Beweise seiner Großartigkeit zu stabilisieren, wird sich an die einmal erreichten Positionen klammern, die ihm die Ausübung von Macht gestatten.

Konstellationen, welche die Ausübung von Macht begünstigen, können darin bestehen, dass die Partner besonders bereitwillig sind, sich auf die Bedürfnisse eines pathologischen Narzissten einzulassen, weil dies ihren eigenen pathologischen Wünschen nach Anpassung und Unterwerfung entgegenkommt. Schon Wilhelm Reich hat "zwei narzisstische Typen" unterschieden: Der Typus des phallischen Narzissten zeichnet sich durch eine übersteigerte und demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit aus, um damit sein latentes Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Ihm könnte man raten: "Mach dich nicht so groß, so klein bist du doch gar nicht." Beim zweiten Typus des Narzissten ist es genau umgekehrt: Er leidet unter einem manifesten Minderwertigkeitsgefühl, hinter dem sich latente Größenphantasien verbergen. Auf ihn trifft das Motto zu: "Mach dich nicht so klein, so groß bist du doch gar nicht." In der Terminologie des Paartherapeuten Willi würde man vom phallischen Narzissten und vom Komplementär-Narzissten sprechen, die sich in einer Kollusion ergänzen können. Das Modell der Kollusion, also des unbewussten Zusammenspiels zweier sich unbewusst ergänzender Partner, trifft auch für die Interaktion zwischen Führer und Großgruppe (Freud spricht von "Masse") zu. Der geltungsbedürftige Führer ist nur dann erfolgreich, wenn er auf ein Publikum trifft, das bereit ist, sein Spiel mitzumachen. Der pathologische Narzissmus des Führers verzahnt sich mit der wie auch immer gearteten Pathologie seiner Interaktionspartner.

Die Sehnsucht nach einem guten, weisen Führer stellt eine Regression, ein Zurückfallen auf eine kindliche Stufe der psychischen Entwicklung dar. In der Kinderzeit waren es die Eltern, die das Leben geordnet haben, die man um Rat fragen und denen man Vertrauen schenken konnte. Wenn es nun in der Gesellschaft der Erwachsenen jemanden gäbe, der, mit natürlicher Autorität ausgestattet, das Leben ordnen würde, dann wäre das aus dieser kindlichen Sicht ein idealer Zustand. Viele Menschen fühlen sich von den Anforderungen und der Komplexität der modernen Gesellschaft überfordert und sehnen sich danach, in einer kindlichen Position zu verharren und Elternfiguren zu haben, einen König, einen guten Führer, die scheinbar wissen, "wo es lang geht", die Entscheidungen fällen und dabei verantwortungsvoll und wohlwollend vorgehen. Der kindliche Wunsch, so verständlich er ist, funktioniert jedoch aus verschiedenen Gründen nicht. So besteht immer die Gefahr, dass die Herrscher ihre Machtposition ausnutzen und gar keine so guten Eltern sind. Auch reale Eltern sind ja nicht immer weise und gütig, sondern häufig auch fehlerhaft und unfähig zu erziehen; in Extremfällen missbrauchen sie ihre Kinder sogar.

In demokratischen Gesellschaften sollte sich die Beziehung zwischen den gewählten Politikern und dem Volk nicht nach dem Muster von Eltern-Kind-Beziehungen strukturieren, sondern ein Verhältnis unter erwachsenen Partner sein. Dies erfordert auch bei der Bevölkerung ein hohes Maß an Mitverantwortung, d.h. auch Geduld, Frustrationstoleranz und Kompromissfähigkeit. Ein Teil der Politikverdrossenheit ist nicht auf das reale Versagen von Politikern zurückzuführen, sondern auf die Enttäuschung, dass demokratische Prozesse grundsätzlich durch langwierige Entscheidungsfindung und Kompromisse charakterisiert sind. Kompromiss- und Konsensbildung haftet immer das negative Image der Halbherzigkeit an. Die Wunschfantasie vom weisen Führer, der mit harter, aber gerechter und klarer Hand eindeutig seine Entscheidungen fällt, entspringt dem Bedürfnis, unter dem Schutz einer allmächtigen Elternfigur gut aufgehoben zu sein.

Wenn das Bedürfnis, sich mächtigen Elternfiguren zu unterwerfen, übergroß wird, kann es sogar dazu kommen, dass sadistische und brutale Diktatoren geliebt und bewundert werden. So wie Kinder ihre Eltern auch dann lieben, wenn diese sie missbraucht oder misshandelt haben, werden auch sadistische Herrscher geliebt. Aus der seelischen Sicht von Kleinkindern ist es immer noch besser, schlechte Eltern zu haben als gar keine. Die Eltern werden von Schuld entlastet, indem die Kinder die Verantwortung für die Schandtaten der Eltern auf sich nehmen und die Eltern von Schuld reinwaschen und idealisieren. Der gleiche Prozess spielt sich zwischen politischen Führerfiguren und ihren Anhängern ab - eine masochistische Unterwerfung, mit der eigene Ängste und Unsicherheiten kompensiert werden.

Pathologische Narzissten sind häufig besonders erfolgreich bei der Durchsetzung ihres eigenen Willens, weil ihnen die Ausübung von Macht innere Stabilität verleiht. Es kommt hinzu, dass die soziale Pathologie, die die narzisstisch gestörte Führerpersönlichkeit im sozialen Feld induziert, von den Spaltungen profitiert, "die innerhalb dieses Feldes bereits vorhanden sind und die Konflikte in der administrativen Struktur der sozialen Organisation widerspiegeln. Intrapsychischer Konflikt und sozialer Konflikt verstärken einander auf diese Weise gegenseitig." Der Mächtige dominiert und unterdrückt die Gruppe, über die er Macht ausübt, nicht nur, sondern umgekehrt befindet sich der Mächtige auch in psychischer Abhängigkeit von den Untergebenen. Wenn er auf die narzisstische Zufuhr, auf die Liebe und Anerkennung durch die Beherrschten angewiesen ist, haben diese unzählige Möglichkeiten, ihn zu manipulieren und auszunutzen. Das starke Bedürfnis des Mächtigen, geliebt und bewundert zu werden, zwingt ihn, den Wünschen der Gruppe nachzukommen und ihre Erwartungen zu erfüllen. Dies gilt sowohl für den Kontakt des Mächtigen mit seinen engsten Mitarbeitern als auch für den mit den Mitgliedern seiner Partei, mit den verschiedenstenLobbyisten bis hin zum Kontakt mit den"verehrten Wählerinnen und Wählern". Eigentlich müsste er überall die Ich-Stärke haben, sich abzugrenzen und seine Entscheidungen unter sachlichen Gesichtspunkten zu treffen, die das Wohl des Ganzen im Auge haben. Seine narzisstische Bedürftigkeit hindert ihn häufig daran.

Fremdenangst und Fremdenhass

Macht übt gerade auf solche Personen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Ungezügelte Selbstbezogenheit, Siegermentalität, Karrierebesessenheit und Größenphantasien sind Eigenschaften, die der narzisstisch gestörten Persönlichkeit den Weg in die Schaltzentralen der Macht ebnen. Indem sich der narzisstisch gestörte Führer vorzugsweise mit Jasagern, Bewunderern und gewitzten Manipulatoren umgibt, verschafft er sich eine Bestätigung seines Selbstbildes, untergräbt jedoch zugleich seine realistische Selbstwahrnehmung und verfestigt seinen illusionären und von Feindbildern geprägten Weltbezug. Fremdenhass und Gewalt gegen Sündenböcke zu schüren, die Spaltung in absolut böse und absolut gute Objekte und die Berufung auf einen allmächtigen Gott, in dessen Auftrag man handele, gehören zu den bevorzugten Herrschaftstechniken narzisstisch gestörter Führerpersönlichkeiten. Geblendet von seinen eigenen Größen- und Allmachtsphantasien und von der Bewunderung, die ihm seine Anhänger entgegenbringen, verliert der Narzisst den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität und muss letztlich scheitern, auch wenn er zeitweise noch so grandiose Erfolge feiern kann. Häufig folgt nach glänzenden Siegen ein jäher und unerwarteter Absturz, weil der narzisstische Herrscher im Vollgefühl seiner Omnipotenz den Bogen überspannt hat.

Die Kehrseite von Omnipotenzphantasien sind paranoide Verfolgungsängste. Weil gut und böse aufgespalten sind, wird die eigene Großartigkeit ebenso überschätzt wie die Bösartigkeit der als feindlich wahrgenommenen Fremden. Man kann zwei Typen der Fremdenfeindlichkeit unterscheiden: einen ängstlichen und einen hasserfüllten Typus. Bei beiden ist der Abwehrmechanismus der Projektion von zentraler Bedeutung. Bei der Fremdenangst (Xenophobie) werden die verpönten Anteile zunächst verdrängt und dann auf den Fremden projiziert. Nun werden sie nur noch dort wahrgenommen und sind aus dem eigenen bewussten Erleben ausgeklammert. Um relativ angstfrei leben zu können, muss der Phobiker nur noch dem ängstigenden Fremden aus dem Wege gehen.

Ganz anders jedoch der Typus des narzisstisch gestörten Fremdenhassers: Bei ihm liegt eine besondere Form der Projektion vor, die "projektive Identifizierung". Dabei werden die verpönten Anteile - insbesondere aggressive Impulse - nur unvollständig oder gar nicht verdrängt. Sie bleiben im Bewusstsein präsent. Ihre Projektion auf äußere Feinde bringt deshalb nur unzureichende Entlastung. Daraus entsteht das Bedürfnis, das Objekt, auf welches die aggressiven Impulse projiziert wurden und das deshalb gefürchtet wird, ständig zu kontrollieren. Der Feind wird nicht phobisch gemieden, sondern es wird ein kontrollierender, aggressiver und verfolgender Kontakt mit ihm gesucht. Der Feind soll bestraft oder gar vernichtet werden. Der Fremdenhasser bleibt mit seinen eigenen aggressiven Impulsen bewusst identifiziert, obwohl er sie projiziert hat - daher der Begriff "projektive Identifizierung". Die vollständige Dämonisierung des Gegners wird zur Rechtfertigung für den eigenen Hass, der als reine "Gegenaggression" rationalisiert wird. Typischerweise geht die projektive Identifizierung mit einer misstrauisch-wahnhaften Umgestaltung der Realität einher. Das Feindbild erhält eine paranoide Komponente, es wird zur überwertigen fixen Idee bzw. Ideologie, die fanatisch gegen alle Zweifler verteidigt wird. Schließlich kommt es zur "totalen Fixierung auf den Kampf gegen den Verfolger bis zu blinder Selbstgefährdung", wie dies aus politischen Konflikten bekannt ist.

Der bis zur Selbstvergötterung gesteigerte Narzissmus, die Vorstellung, Gott gleich Herrscher über Leben und Tod zu sein, liefert die psychische Grundlage für die Missachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten. Der Eindruck, eine göttliche Macht über Leben und Tod auszuüben, lässt die Vorstellung entstehen, "ein über alle Menschen durch die Natur selbst erhobenes Wesen zu sein", eine Allmachtsphantasie, die Horst-Eberhard Richter als "Gotteskomplex" beschrieben hat. Der mörderische Sadismus entspringt nicht einer sexuellen Lust, sondern dem Bedürfnis, absolute Kontrolle über ein anderes lebendes Wesen zu erhalten.

Eng verknüpft mit dem Realitätsverlust der narzisstisch gestörten Führungspersönlichkeit ist ihre Abkehr von den Normen, Werten und Idealen, denen sie selbst und ihre Institution eigentlich verpflichtet sind. Der Verrat der kommunistischen Ideale durch die inzwischen gestürzten Despoten des real existierenden Sozialismus ist ein eindrucksvolles Beispiel für diese Tatsache. Beim Typus des paranoiden Führers steigern sich Skrupellosigkeit, Zynismus und Menschenverachtung in einem Ausmaß, dass sich eine Verfolgungsmentalität und ein Terrorsystem herausbilden.

Dem paranoiden Führer geht es im Gegensatz zum narzisstischen Führer nicht darum, geliebt zu werden, "sondern er ist vielmehr sehr misstrauisch gegenüber denjenigen, die ihn zu mögen vorgeben, und er fühlt sich nur dann sicher, wenn er mit Hilfe von Angst die anderen omnipotent kontrollieren und unterwerfen kann". Werden große gesellschaftliche, politische oder nationale Gruppierungen von einem paranoiden Anführer geleitet, entwickelt sich häufig eine politische Konstellation, in der reale Gefahren zum Beweis dafür werden, dass die paranoiden Feindbilder wirklich gerechtfertigt sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jacob Burckhardt (1868), Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: Gesamtausgabe, Bd. VII, Basel 1929, S. 1 - 208, hier S. 73.

  2. Vgl. Sigmund Freud (1914), Zur Einführung des Narzissmus, in: Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt/M. 1999, S. 137 - 170.

  3. Vgl. Christopher Lasch (1979), Das Zeitalter des Narzissmus, München 1982.

  4. Vgl. Richard Sennett (1977), Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1983.

  5. Jürg Willi, Die Zweierbeziehung, Reinbek 1975.

  6. Jessica Benjamin (1988), Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt/M. 1996, S. 213.

  7. Vgl. Hans-Jürgen Wirth, Narzissmus und Macht: Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik, Gießen 2002.

  8. Vgl. Stephen A. Mitchell, Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, Gießen 2003; ders., Kann denn Liebe ewig sein? Psychoanalytische Erkundungen über Liebe, Begehren und Beständigkeit, Gießen 2004.

  9. Martin Altmeyer, Narzissmus und Objekt. Ein intersubjektives Verständnis der Selbstbezogenheit, Göttingen 2000, S. 228.

  10. Ebd., S. 22.

  11. Vgl. Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997.

  12. Niklas Luhmann, Macht, Stuttgart 1975, S. 8.

  13. Max Weber (1921), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, S. 28.

  14. Ders. (1919), Politik als Beruf, Tübingen 1994, S. 74.

  15. Ebd., S. 75.

  16. Otto F. Kernberg (1998), Ideologie, Konflikt und Führung. Psychoanalyse von Gruppenprozessen und Persönlichkeitsstruktur, Stuttgart 2000, S. 139.

  17. Vamik D. Volkan, Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte, Gießen 1999.

  18. Vgl. Wilhelm Reich (1922), Zwei narzisstische Typen, in: ders., Frühe Schriften I. Aus den Jahren 1920 bis 1925, Frankfurt/M. 1977, S. 144 - 152.

  19. Vgl. J. Willi (Anm. 5).

  20. O. F. Kernberg (Anm. 16), S. 27f.

  21. Vgl. Hans-Jürgen Wirth, Fremdenhass und Gewalt als psychosoziale Krankheit, in: Psyche, 55 (2001) 11, S. 1217 - 1244.

  22. Horst-Eberhard Richter (1978), Zur Psychologie des Friedens. Neuauflage, Gießen 2005, S. 121.

  23. Horst-Eberhard Richter (1979), Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Neuauflage, Gießen 2005.

  24. Otto F. Kernberg, Affekt, Objekt und Übertragung. Aktuelle Entwicklungen der psychoanalytischen Theorie und Technik, Gießen 2002, S. 153.

Dr. rer. soc., Dipl.-Psych., geb. 1951; psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker; apl. Professor für Psychoanalyse an der Universität Bremen; Verleger des Psychosozial-Verlages, Goethestraße 29, 35390 Gießen.
E-Mail: E-Mail Link: hjw@psychosozial-verlag.de