Einleitung
Keine Macht für niemand", lautete einer der Slogans der 68er-Bewegung. Jacob Burckhardt schrieb schon exakt 100 Jahre früher in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen": "Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe."
Interessanterweise ergeht es dem Begriff des Narzissmus ähnlich wie dem der Macht: Auch ihm haftet eine höchst ambivalente Tönung an. Sigmund Freud stellt dem Narzissmus die Objektliebe diametral gegenüber.
Der Narzissmus erscheint mit dem Egoismus assoziiert und demnach als eine antisoziale Eigenschaft. Wenn wir einen Menschen als narzisstisch bezeichnen, werten wir ihn ab und charakterisieren ihn als egoistisch, ich-bezogen und in seinen sozialen Beziehungen beeinträchtigt. Narzisstisch gestörte Persönlichkeiten gelten als psychotherapeutisch schwer behandelbar, und die von manchen Autoren postulierte Zunahme narzisstischer Störungen im "Zeitalter des Narzissmus"
Suchtartige Machtprozesse
Narzisstisch gestörte Menschen streben nach Macht, weil sie damit ihr mangelhaftes Selbstwertgefühl kompensieren wollen. Umgekehrt nährt die Möglichkeit, Macht auszuüben, Größen- und Allmachtsphantasien. Macht wirkt wie eine Droge: Die Selbstzweifel verfliegen, das Selbstbewusstsein steigt. Machtphantasien dienen häufig der Überwindung unerträglicher Ohnmachtgefühle. Gehen Narzissmus, Macht und Aggression eine enge Verbindung ein, kommt es zu destruktiven und selbstdestruktiven Entladungen. Liebespartner, aber auch andere Interaktionspartner verzahnen sich häufig in einem Macht-Ohnmacht-Kampf, den Paartherapeut Jürg Willi beziehungsdynamisch als "unbewusste narzisstische Kollusion" beschrieben hat.
Das Problem der Macht hängt einerseits mit der existenziellen Abhängigkeit des Menschen und andererseits mit seinem ebenso existenziellen Bedürfnis nach Souveränität zusammen. Der Mensch bleibt sein ganzes Leben lang auf Anerkennung durch andere angewiesen. Schon der Säugling hat ein primäres Interesse am Kontakt mit anderen Menschen. Damit sich ein Gefühl der Identität entwickeln kann, bedarf es eines Gegenübers, das durch Liebe, Vertrauen und Anerkennung das Selbst-Gefühl bestätigt - oder genauer: überhaupt erst konstituiert. Die Erfahrung, auf den anderen und sein Wohlwollen und sein Vertrauen in fundamentaler Weise angewiesen zu sein, gehört zu den schmerzlichsten, aber auch beglückendsten Erfahrungen, denen jeder Mensch vom Beginn seines Lebens an immer wieder ausgesetzt ist.
Die Ausübung von Macht, der pathologische Narzissmus und der irrationale fanatische Glaube stellen Strategien dar, um diese Abhängigkeit zu verleugnen. Indem man andere mit Hilfe der Macht unterjocht, versklavt oder sich in anderer Form gefügig macht, kann man sich die Illusion verschaffen, unabhängig zu sein. Der andere soll gezwungen werden, seine Anerkennung auszudrücken, ohne selbst Anerkennung zu ernten. Die Anhäufung von noch so viel Macht kann das menschliche "Urbedürfnis" nach Liebe und Anerkennung jedoch nicht ersetzen, sondern nur umformen. Wer Macht hat, kann sich Liebe und Anerkennung zwar erzwingen und erkaufen, er verschleiert damit jedoch nur seine fundamentale Abhängigkeit, ohne sie wirklich aufheben zu können: "Damit beginnt ein Circulus vitiosus: Je mehr der andere versklavt wird, desto weniger wird er als menschliches Subjekt erfahren",
Das dynamische Wechselspiel zwischen Narzissmus und Macht wird auf der einen Seite durch die Machtgelüste des Herrschers geprägt, die auf der anderen Seite durch die Bedürfnisse der Beherrschten nach Unterwerfung, Schutz und blinder Gefolgschaft ergänzt werden und dessen Macht überhaupt erst ermöglichen. Gesellschaftliche Macht wird gesucht, um innere Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Minderwertigkeit zu kompensieren. Im fanatischen Glauben an die übermenschliche Macht der Führerfigur versucht das Subjekt, die eigene Omnipotenz durch eine Unterwerfung zu sichern, die mit der heimlichen Phantasie verbunden ist, durch Über-Identifikation mit der als übermächtig erlebten Autorität an deren Macht zu partizipieren.
Macht und Machtmissbrauch
Moderne psychoanalytische Konzepte wie die "relationale Psychoanalyse"
So wie der Narzissmus ein allgegenwärtiger Aspekt des Seelenlebens ist, stellt auch die Macht einen unvermeidlichen Bestandteil des sozialen Lebens dar. Sowohl Narzissmus als auch Macht lassen sich nur über ihren Beziehungsaspekt erschließen. Macht existiert nicht schlechthin, sondern man übt sie über etwas oder über jemanden aus.
Die Ausübung von Macht wird problematisch, wenn die Leitungsfunktion vom pathologischen Narzissmus der Führungsperson bestimmt wird, wenn der Führer seine Macht dazu benutzt, seine unbewussten narzisstischen Konflikte auszuagieren oder abzuwehren. Es ist einer Führungsperson durchaus erlaubt, ihre gesunden narzisstischen und auch ihre aggressiven Strebungen in ihre Arbeit einfließen zu lassen: "Die Machtausübung ist ein wesentlicher, unvermeidbarer Teil der Führung und verlangt von der Führungskraft, dass sie sich die aggressiven Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit problemlos zunutze machen kann."
Wir können jedoch dann von Machtmissbrauch sprechen, wenn der Mächtige seine Stellung dazu benutzt, Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, die mit der sachlichen Aufgabe, die mit seiner sozialen Rolle verknüpft sind, nichts zu tun haben, sondern primär oder ausschließlich seiner "persönlichen Selbstberauschung", seiner "Eitelkeit", also seinem pathologischen Narzissmus dienen. Entsprechend könnte man den pathologischen Narzissmus (im Unterschied zum gesunden) dadurch kennzeichnen, dass andere Menschen (mit Hilfe von Macht) funktionalisiert werden, um das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Besonders problematisch wird der Machtmissbrauch dann, wenn sich die Gemeinschaft in ihrer kollektiven Identität bedroht fühlt, ein narzisstisch gestörter Führer die Macht erringen kann und dieser ein "gewähltes Trauma"
Der Wille zur Macht und die Sehnsucht nach dem Führer
Narzissmus ist nicht nur eine der zentralen psychischen Voraussetzungen zur Ausübung von Macht, sondern die Ausübung von Macht ist auch eine wirkungsvolle Stimulanz für das narzisstische Selbsterleben. Wer erfolgreich seinen Willen durchzusetzen vermag, fühlt sich narzisstisch gestärkt. Menschen, die unter einem gestörten Selbstwertgefühl leiden, entwickeln häufig als Bewältigungsstrategie ein übersteigertes Selbstbild, das durch die Ausübung von Macht eine Stärkung erfährt. Beispielsweise kommt es in Paarbeziehungen häufig vor, dass der eine Partner - von untergründigen Selbstwertzweifeln geplagt - ständig versucht, den anderen zu dominieren. Er zwingt ihm seinen Willen auf, um sich selbst zu beweisen, dass er der Wertvollere, Klügere, Überlegene ist. Bei solchen paardynamischen Machtkämpfen tritt der inhaltliche Aspekt - welche Entscheidungen und Handlungen nun im Einzelnen gefällt werden sollen - mehr und mehr in den Hintergrund zugunsten der bloßen Tatsache, den eigenen Willen wieder einmal durchgesetzt zu haben. Die Machtausübung dient der narzisstischen Gratifikation. Ein Mensch, der stark darauf angewiesen ist, sein labiles Selbstwertgefühl laufend durch demonstrative Beweise seiner Großartigkeit zu stabilisieren, wird sich an die einmal erreichten Positionen klammern, die ihm die Ausübung von Macht gestatten.
Konstellationen, welche die Ausübung von Macht begünstigen, können darin bestehen, dass die Partner besonders bereitwillig sind, sich auf die Bedürfnisse eines pathologischen Narzissten einzulassen, weil dies ihren eigenen pathologischen Wünschen nach Anpassung und Unterwerfung entgegenkommt. Schon Wilhelm Reich hat "zwei narzisstische Typen" unterschieden:
Die Sehnsucht nach einem guten, weisen Führer stellt eine Regression, ein Zurückfallen auf eine kindliche Stufe der psychischen Entwicklung dar. In der Kinderzeit waren es die Eltern, die das Leben geordnet haben, die man um Rat fragen und denen man Vertrauen schenken konnte. Wenn es nun in der Gesellschaft der Erwachsenen jemanden gäbe, der, mit natürlicher Autorität ausgestattet, das Leben ordnen würde, dann wäre das aus dieser kindlichen Sicht ein idealer Zustand. Viele Menschen fühlen sich von den Anforderungen und der Komplexität der modernen Gesellschaft überfordert und sehnen sich danach, in einer kindlichen Position zu verharren und Elternfiguren zu haben, einen König, einen guten Führer, die scheinbar wissen, "wo es lang geht", die Entscheidungen fällen und dabei verantwortungsvoll und wohlwollend vorgehen. Der kindliche Wunsch, so verständlich er ist, funktioniert jedoch aus verschiedenen Gründen nicht. So besteht immer die Gefahr, dass die Herrscher ihre Machtposition ausnutzen und gar keine so guten Eltern sind. Auch reale Eltern sind ja nicht immer weise und gütig, sondern häufig auch fehlerhaft und unfähig zu erziehen; in Extremfällen missbrauchen sie ihre Kinder sogar.
In demokratischen Gesellschaften sollte sich die Beziehung zwischen den gewählten Politikern und dem Volk nicht nach dem Muster von Eltern-Kind-Beziehungen strukturieren, sondern ein Verhältnis unter erwachsenen Partner sein. Dies erfordert auch bei der Bevölkerung ein hohes Maß an Mitverantwortung, d.h. auch Geduld, Frustrationstoleranz und Kompromissfähigkeit. Ein Teil der Politikverdrossenheit ist nicht auf das reale Versagen von Politikern zurückzuführen, sondern auf die Enttäuschung, dass demokratische Prozesse grundsätzlich durch langwierige Entscheidungsfindung und Kompromisse charakterisiert sind. Kompromiss- und Konsensbildung haftet immer das negative Image der Halbherzigkeit an. Die Wunschfantasie vom weisen Führer, der mit harter, aber gerechter und klarer Hand eindeutig seine Entscheidungen fällt, entspringt dem Bedürfnis, unter dem Schutz einer allmächtigen Elternfigur gut aufgehoben zu sein.
Wenn das Bedürfnis, sich mächtigen Elternfiguren zu unterwerfen, übergroß wird, kann es sogar dazu kommen, dass sadistische und brutale Diktatoren geliebt und bewundert werden. So wie Kinder ihre Eltern auch dann lieben, wenn diese sie missbraucht oder misshandelt haben, werden auch sadistische Herrscher geliebt. Aus der seelischen Sicht von Kleinkindern ist es immer noch besser, schlechte Eltern zu haben als gar keine. Die Eltern werden von Schuld entlastet, indem die Kinder die Verantwortung für die Schandtaten der Eltern auf sich nehmen und die Eltern von Schuld reinwaschen und idealisieren. Der gleiche Prozess spielt sich zwischen politischen Führerfiguren und ihren Anhängern ab - eine masochistische Unterwerfung, mit der eigene Ängste und Unsicherheiten kompensiert werden.
Pathologische Narzissten sind häufig besonders erfolgreich bei der Durchsetzung ihres eigenen Willens, weil ihnen die Ausübung von Macht innere Stabilität verleiht. Es kommt hinzu, dass die soziale Pathologie, die die narzisstisch gestörte Führerpersönlichkeit im sozialen Feld induziert, von den Spaltungen profitiert, "die innerhalb dieses Feldes bereits vorhanden sind und die Konflikte in der administrativen Struktur der sozialen Organisation widerspiegeln. Intrapsychischer Konflikt und sozialer Konflikt verstärken einander auf diese Weise gegenseitig."
Fremdenangst und Fremdenhass
Macht übt gerade auf solche Personen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Ungezügelte Selbstbezogenheit, Siegermentalität, Karrierebesessenheit und Größenphantasien sind Eigenschaften, die der narzisstisch gestörten Persönlichkeit den Weg in die Schaltzentralen der Macht ebnen. Indem sich der narzisstisch gestörte Führer vorzugsweise mit Jasagern, Bewunderern und gewitzten Manipulatoren umgibt, verschafft er sich eine Bestätigung seines Selbstbildes, untergräbt jedoch zugleich seine realistische Selbstwahrnehmung und verfestigt seinen illusionären und von Feindbildern geprägten Weltbezug. Fremdenhass und Gewalt gegen Sündenböcke zu schüren, die Spaltung in absolut böse und absolut gute Objekte und die Berufung auf einen allmächtigen Gott, in dessen Auftrag man handele, gehören zu den bevorzugten Herrschaftstechniken narzisstisch gestörter Führerpersönlichkeiten. Geblendet von seinen eigenen Größen- und Allmachtsphantasien und von der Bewunderung, die ihm seine Anhänger entgegenbringen, verliert der Narzisst den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität und muss letztlich scheitern, auch wenn er zeitweise noch so grandiose Erfolge feiern kann. Häufig folgt nach glänzenden Siegen ein jäher und unerwarteter Absturz, weil der narzisstische Herrscher im Vollgefühl seiner Omnipotenz den Bogen überspannt hat.
Die Kehrseite von Omnipotenzphantasien sind paranoide Verfolgungsängste. Weil gut und böse aufgespalten sind, wird die eigene Großartigkeit ebenso überschätzt wie die Bösartigkeit der als feindlich wahrgenommenen Fremden. Man kann zwei Typen der Fremdenfeindlichkeit unterscheiden: einen ängstlichen und einen hasserfüllten Typus.
Ganz anders jedoch der Typus des narzisstisch gestörten Fremdenhassers: Bei ihm liegt eine besondere Form der Projektion vor, die "projektive Identifizierung". Dabei werden die verpönten Anteile - insbesondere aggressive Impulse - nur unvollständig oder gar nicht verdrängt. Sie bleiben im Bewusstsein präsent. Ihre Projektion auf äußere Feinde bringt deshalb nur unzureichende Entlastung. Daraus entsteht das Bedürfnis, das Objekt, auf welches die aggressiven Impulse projiziert wurden und das deshalb gefürchtet wird, ständig zu kontrollieren. Der Feind wird nicht phobisch gemieden, sondern es wird ein kontrollierender, aggressiver und verfolgender Kontakt mit ihm gesucht. Der Feind soll bestraft oder gar vernichtet werden. Der Fremdenhasser bleibt mit seinen eigenen aggressiven Impulsen bewusst identifiziert, obwohl er sie projiziert hat - daher der Begriff "projektive Identifizierung". Die vollständige Dämonisierung des Gegners wird zur Rechtfertigung für den eigenen Hass, der als reine "Gegenaggression" rationalisiert wird. Typischerweise geht die projektive Identifizierung mit einer misstrauisch-wahnhaften Umgestaltung der Realität einher. Das Feindbild erhält eine paranoide Komponente, es wird zur überwertigen fixen Idee bzw. Ideologie, die fanatisch gegen alle Zweifler verteidigt wird. Schließlich kommt es zur "totalen Fixierung auf den Kampf gegen den Verfolger bis zu blinder Selbstgefährdung",
Der bis zur Selbstvergötterung gesteigerte Narzissmus, die Vorstellung, Gott gleich Herrscher über Leben und Tod zu sein, liefert die psychische Grundlage für die Missachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten. Der Eindruck, eine göttliche Macht über Leben und Tod auszuüben, lässt die Vorstellung entstehen, "ein über alle Menschen durch die Natur selbst erhobenes Wesen zu sein", eine Allmachtsphantasie, die Horst-Eberhard Richter als "Gotteskomplex" beschrieben hat.
Eng verknüpft mit dem Realitätsverlust der narzisstisch gestörten Führungspersönlichkeit ist ihre Abkehr von den Normen, Werten und Idealen, denen sie selbst und ihre Institution eigentlich verpflichtet sind. Der Verrat der kommunistischen Ideale durch die inzwischen gestürzten Despoten des real existierenden Sozialismus ist ein eindrucksvolles Beispiel für diese Tatsache. Beim Typus des paranoiden Führers steigern sich Skrupellosigkeit, Zynismus und Menschenverachtung in einem Ausmaß, dass sich eine Verfolgungsmentalität und ein Terrorsystem herausbilden.
Dem paranoiden Führer geht es im Gegensatz zum narzisstischen Führer nicht darum, geliebt zu werden, "sondern er ist vielmehr sehr misstrauisch gegenüber denjenigen, die ihn zu mögen vorgeben, und er fühlt sich nur dann sicher, wenn er mit Hilfe von Angst die anderen omnipotent kontrollieren und unterwerfen kann".