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Zum Verhältnis von Mensch und Natur | Natur- und Artenschutz | bpb.de

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Zum Verhältnis von Mensch und Natur

Thomas Kirchhoff

/ 14 Minuten zu lesen

Welcher Wert wird Natur beigemessen? Entsprechende Positionen und Argumentationen im Natur- und Artenschutz hängen im Wesentlichen davon ab, welche Auffassung des ("richtigen") Verhältnisses von Mensch und Natur jeweils zugrunde gelegt wird.

Der Begriff "Natur" hat Bedeutung nur in abgrenzender Gegenüberstellung zu einem anderen Begriff, wobei seine Bedeutung mit dem Gegenbegriff – etwa "Kultur", "Technik", "Gesellschaft", "Kunst", "Vernunft" – variiert. Die in modernen Gesellschaften westlichen Typs lebensweltlich und für den Natur- und Artenschutz entscheidenden Bedeutungen von "Natur" ergeben sich aus der Gegenüberstellung zu "Kultur" und "Technik".

"Kultur" im engeren Sinne soll hier einen Komplex von dynamischen, revidierbaren, wenngleich nicht beliebig veränderbaren Sinnsystemen, symbolischen Ordnungen und Wissensordnungen bezeichnen, mit denen sich Menschen ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und sich so Handeln ermöglichen. "Technik" soll fungieren als Inbegriff für Fertigkeiten, Verfahren und Routinen, für das Wissen über diese, für deren Anwendung als Mittel und für die Gesamtheit der mit ihrer Hilfe produzierten Gebilde. "Kultur" im weiteren Sinne umfasst beides.

In Abgrenzung dazu meint "Natur" all das, was ohne menschlichen Einfluss, ohne menschliches Zutun abläuft oder entstanden ist: alle nicht-menschlichen Kräfte und deren Resultate, insbesondere Wachstum und Gewachsenes. Aufbauend darauf kann "Natur" auch das verwirklichte oder wirksame Wesen von etwas bezeichnen, die innere Ursache eines genetischen und qualitativen Soseins ohne menschliches Zutun.

Die so bestimmte "Natur" ist vor allem eine Gegenwelt zur Welt der Kultur und Technik. Diese Gegenwelt wird positiv und negativ bewertet, wie Kontroversen um Wildnis und Wölfe oder allgemeiner um Naturbeherrschung versus Naturschutz zeigen. Als geschichtliche Tendenz lässt sich in modernen Gesellschaften westlichen Typs eine zunehmende Wertschätzung von Natur konstatieren, insbesondere von Wildnis, ein "Natürlichkeitsbonus" ist kulturell fest verankert. Diese Tendenz dürfte – in Verbindung mit einer faktisch zunehmenden Zurückdrängung von Natur – Ausdruck eines zunehmenden Unbehagens in der Kultur sein. Dieses geht so weit, dass der Bestimmung von Natur als Gegenwelt beziehungsweise als Umwelt des Menschen ihre Bestimmung als "Mitwelt" gegenübergestellt oder sogar gefordert wird, die Unterscheidung Natur/Kultur beziehungsweise Natur/Mensch ganz aufzugeben.

Werte von Natur

In der Natur- beziehungsweise Umweltethik werden üblicherweise vier Grundtypen von Werten von Natur unterschieden:

Anthropozentrischen instrumentellen Wert (Nutzwert) haben natürliche Produkte beziehungsweise Prozesse, wenn sie als Mittel für menschliche Zwecke fungieren – wenn etwa ein Waldökosystem Holz produziert und Schadstoffe bindet. Eine bestimmte Natur wird geschützt, weil Menschen zum materiellen Überleben auf deren Prozesse oder Produkte angewiesen sind, da ihre technische Substitution (noch) nicht (ökonomisch sinnvoll) möglich ist. Das schließt das Prinzip nachhaltiger Nutzung von Natur unter Beachtung "ökologischer" Grenzen ein, wobei Nachhaltigkeit ein Prinzip nicht nur ökonomischer Klugheit, sondern auch humanethischer Umwelt- und Generationengerechtigkeit ist.

Anthropozentrischen nicht-instrumentellen Wert (relativen Eigenwert) haben Naturphänomene, wenn sie nicht als Mittel, sondern un-mittelbar als solche wertgeschätzt werden, dies jedoch nur relativ zu menschlichen Interessen, Sinnsystemen und Wertvorstellungen. Darunter fallen vor allem ästhetische und symbolische Werte von Natur – etwa eine schillernde Wasserfläche oder ein schönes Tier als Objekt ästhetischen Wohlgefallens, eine als identitätsstiftend erlebte Kulturlandschaft oder eine mit Freiheitsgefühlen verbundene Wildnis. Insofern der Wert von Natur hier darin besteht, jenseits von Überlebensnotwendigkeiten einem guten Leben zu dienen, wird von eudaimonistischen Werten gesprochen.

Theozentrischen Wert haben Naturphänomene, wenn sie als göttlicher Besitz, (Wohn-)Ort eines göttlichen Wesens oder göttlicher Kräfte, als göttliche Schöpfung angesehen werden. Theozentrische Werte sind, wie anthropozentrische Werte, relative Werte: Natur hat Wert nicht aus sich heraus, nicht absolut, sondern weil sie auf etwas Göttliches verweist.

Physiozentrischen Wert (absoluten/moralischen Selbstwert) haben natürliche Entitäten, wenn ihnen Wert unabhängig von allen menschlichen Interessen, Sinnsystemen und Wertvorstellungen zugeschrieben wird: wenn sie als subjektähnliche Entitäten angesehen werden, die um ihrer selbst willen zu schützen und in die Moralgemeinschaft aufzunehmen sind, der im Anthropozentrismus nur Menschen zugehören. Je nachdem, wie weit der Kreis moralisch zu berücksichtigender Natur-"Subjekte" gezogen wird, spezifiziert sich der Physiozentrismus zum Sentientismus/Pathozentrismus, der nur empfindungs- beziehungsweise leidensfähige Lebewesen umfasst, zum Biozentrismus, der sich auf alle Lebewesen bezieht, zum Ökozentrismus, der zudem ökologische Systeme berücksichtigt, oder zum naturethischen Holismus, der die gesamte Natur umfasst.

Geltungsstatus der Werttypen

Welcher normativ-regulative Geltungsanspruch kann für die Werttypen jeweils berechtigterweise erhoben werden? Wie sind auf ihrer Basis jeweils konkrete Ziele des Natur- und Artenschutzes ableitbar?

Begründungen von Natur- und Artenschutz mit instrumentellen Werten können, insofern sie sich auf das Überleben von Menschen beziehen, allgemeine Zustimmung beanspruchen. Offen und in gesellschaftlichen Diskursen zu klären bleibt jedoch, was dies konkret bedeuten soll. Denn aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften ergeben sich keine Vernunftnotwendigkeiten, in genau welchem Zustand die Erde erhalten werden muss, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Vielmehr besteht ein relativ großer Spielraum, etwa weil ein und derselbe instrumentelle Nutzen von Natur durch ganz unterschiedliche Arten(kombinationen) und ökologische Systeme erbracht werden kann. Einige Autoren halten den menschlichen Spielraum für sehr gering und reklamieren die Unersetzbarkeit natürlicher Ökosysteme. Diese Ansicht hat jedoch Prämissen, die in der Ökologie seit längerer Zeit weithin als widerlegt gelten: dass die Biosphäre aus organismenähnlich organisierten Ökosystemen bestehe, die in Jahrtausenden evolutionärer Selbstorganisation entstanden seien, sodass die Menschen sie nicht (wesentlich) verändern könnten, ohne ihre Funktionsfähigkeit zu zerstören; dass diese natürlichen Ökosysteme auch optimal organisiert seien hinsichtlich menschlicher Interessen. Vertreter einer sogenannten Schwachen Nachhaltigkeit gehen von einer grundsätzlichen Substituierbarkeit "natürlichen Kapitals" (fruchtbare Böden, Wasserkreisläufe, Klimastabilität, Artendiversität) durch "menschengemachtes Kapital" (Wissen, technische Errungenschaften/Anlagen) aus, wohingegen Vertreter einer sogenannten Starken Nachhaltigkeit die Erhaltung des natürlichen Kapitals fordern. Wo eine dauerhafte Substitution nicht gesichert ist, spricht das Sicherheitsargument für Starke Nachhaltigkeit, sofern diese nicht untragbare Kosten verursacht – was beispielsweise für die Erhaltung der Artenvielfalt in der deutschen Agrarlandschaft mit Kosten von jährlich unter zwei Milliarden Euro keineswegs der Fall wäre.

Begründungen für Natur- und Artenschutz mit anthropozentrischen nicht-instrumentellen Werten können zwar keinen Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben, weil sie auf kulturell geprägten ästhetischen und symbolischen Wahrnehmungsweisen von Natur beruhen, die sich inner- und interkulturell stark unterscheiden können. Sie sind aber zumeist intersubjektiv nachvollziehbar: In vielen Kulturen hat sich eine Wertschätzung von Wildnis als Gegenwelt zur Welt der Kultur herausgebildet, fungieren Naturphänomene wie der Springbock, der Weißkopfseeadler oder das Matterhorn als regionale oder nationale Symbole, gelten einzigartige Kulturlandschaften wie die Lüneburger Heide, die Camargue oder der Lake District als Ausdruck schützenswerter Eigenart und Identität. Die Ansicht, rein instrumentelle Argumentationen seien zu eng, impliziert demnach nicht, für einen Physiozentrismus eintreten zu müssen; denn ein umfassender Anthropozentrismus berücksichtigt auch die nicht-instrumentellen ästhetisch-symbolischen Werte von Natur. Er kann sogar den Schutz leidensfähiger Tiere umfassen, begründet als moralische Pflicht des Menschen gegen sich selbst.

Theozentrische Begründungen von Natur- und Artenschutz können zwar keinen Anspruch auf Geltung über den Kreis der jeweiligen Glaubensgemeinschaft hinaus beanspruchen, wohl aber auf angemessene Berücksichtigung im gesellschaftlichen Diskurs, wobei nicht nur Prinzipien des Minderheitenschutzes zu beachten sind, sondern auch, dass als heilig angesehene Naturphänomene in der Regel nicht ersetzbar sind – siehe aktuell die Unterschutzstellung des Uluru/Ayers Rock in Australien. "Bewahrung der Schöpfung" ist eine umweltethische Forderung, die seit den 1980er Jahren von zahlreichen christlichen Friedens- und Umweltinitiativen erhoben wird. Diese Forderung lässt sich spezifisch religiös fundieren durch eine "ökologische Schöpfungsethik" und Prinzipien einer "Rationalität der Sorge" für die Natur und die natürliche Umwelt des Menschen. Inhaltlich konvergieren diese mit den Prinzipien Starker Nachhaltigkeit.

Weil sich patho- und biozentrische Argumente auf einzelne Organismen beziehen, lässt sich mit ihnen allenfalls Tier-, nicht aber Artenschutz begründen. Einflussreich im Natur- und Artenschutz sind ökozentrische Positionen, die fordern, natürliche Ökosysteme (Wildnis) in möglichst großen Teilen der Biosphäre zu erhalten: primär wegen ihres Selbstwertes, sekundär wegen ihrer Nützlichkeit und Schönheit für Menschen. Ökozentrische Positionen sind jedoch mit mindestens zwei gravierenden Einwänden konfrontiert: Zum einen ist fraglich, ob Entitäten wie Ökosysteme, die prinzipiell keine Moralfähigkeit besitzen, Mitglieder einer Moralgemeinschaft sein können. Zum anderen kann ein Selbstwert nur Entitäten zugeschrieben werden, die in dem strengen Sinne real sind, dass sie beobachterunabhängig existieren. Diese Voraussetzung wäre für Ökosysteme jedoch nur erfüllt, wenn sie ein inneres Einheitsprinzip besäßen und wie individuelle Organismen organisiert wären – das gilt in der Ökologie weithin als widerlegt, sodass Ökosysteme als vom Beobachter konstruierte Einheiten anzusehen sind. In der Praxis muss entschieden werden, welche Naturphänomene zulasten welcher anderen Naturphänomene geschützt werden sollen – wobei alles dafür spricht, dass die dabei herangezogenen Auswahlkriterien immer menschliche sind. Damit wird der Physiozentrismus zu einem verkappten Anthropo- oder Theozentrismus, der seine Partikularinteressen hinter einer scheinbar selbstlosen Naturethik verbirgt. Zudem lenkt er davon ab, dass nicht nachhaltige Naturnutzungen gravierende negative Auswirkungen auf die Umwelt anderer Menschen haben, wie zum Beispiel beim anthropogenen Klimawandel, und deshalb als humanethisches Problem mangelnder Umweltgerechtigkeit zu adressieren sind.

Pluralität menschlicher Naturwahrnehmungen

Natur hat für Menschen nicht nur kategorial verschiedene Werte, sondern wird von ihnen auch auf kategorial verschiedene Weisen wahrgenommen. Insbesondere ist zu unterscheiden zwischen naturwissenschaftlich-technischen und lebensweltlichen, ästhetisch-symbolischen Wahrnehmungen von Natur.

Naturwissenschaftlich, etwa in der Ökologie, ist Natur methodisch objektivierte Natur. Es werden theoriegeleitet mithilfe von Beobachtung, Messung und Experiment Ursache-Wirkungs-Beziehungen erforscht, um Naturphänomene wie Populationswachstum und Artenverbreitung zu modellieren, zu erklären und zu prognostizieren. Natur wird dabei seit einigen Jahrzehnten zumeist als "Ökosystem" modelliert: als dynamisches Wirkungsgefüge aus Populationen mehrerer Arten und deren unbelebter Umwelt. So wird Wald als Waldökosystem mit Begriffen wie "Stoff-" und "Energiefluss", "Primärproduktion", "Destruent", "Entropie" und "Biomasse" beschrieben.

Lebensweltlich wird Natur auf kategorial andere Weise(n) wahrgenommen. Deshalb hat etwa ein lebensweltlich wahrgenommener Wald Eigenschaften, die Wald als Ökosystem nicht haben kann, nämlich schön, erhaben, wild, geheimnisvoll, national, natürlich zu sein oder Beständigkeit, Identität, Freiheit, Authentizität, Ordnung oder Chaos zu symbolisieren. Solche lebensweltlichen ästhetisch-symbolischen Naturwahrnehmungen sind immer subjektiv-individuell, erfolgen jedoch im Rahmen intersubjektiver Wahrnehmungsmuster, die überwiegend nicht biologisch, sondern kulturell geprägt sind; sie sind deshalb Gegenstand naturästhetischer oder kulturwissenschaftlichen Analysen.

Ob es irgendwann eine einzige Konzeptualisierung geben wird, die alle unterschiedlichen Wahrnehmungen von Natur angemessen erfasst, ist umstritten. Daher ist ein konzeptioneller Pluralismus erforderlich, und der Natur- und Artenschutz muss die kategoriale Differenz zwischen naturwissenschaftlich-technischen und lebensweltlichen ästhetisch-symbolischen Naturwahrnehmungen berücksichtigen, wenn er das gesamte Spektrum der Werte von Natur angemessen erfassen und geeignete Maßnahmen zu deren Schutz ergreifen will. Das mag allzu selbstverständlich klingen. Anderes vermuten lässt aber zum Beispiel das verbreitete Erstaunen darüber, dass zur Aufrechterhaltung der instrumentellen Funktionen von Ökosystemen ein erheblicher Teil gerade derjenigen Biodiversität, die ästhetisch-symbolisch wertgeschätzt wird, nicht erforderlich zu sein scheint. Wenn man zwischen Arten als Funktionsträgern in Ökosystemen und Arten als ästhetisch-symbolischen Objekten unterscheidet, wird diese Inkongruenz verständlich.

Theorien des Natur-Kultur-Verhältnisses

Die bisherigen Unterscheidungen und Charakterisierungen von Werten, Wahrnehmungsweisen und Konzeptualisierungen von Natur erscheinen in unterschiedlichem Licht, je nachdem, was für eine Theorie darüber zugrunde gelegt wird, wie sich Kultur zu Natur verhält beziehungsweise verhalten sollte. Drei Typen solcher Theorien sollen im Folgenden unterschieden und in groben Zügen idealtypisch charakterisiert werden.

Kultur als Emanzipation von Natur

Zentral für das aufklärerische Denken ist die Annahme, dass es allen Menschen gemeinsame, ahistorische und universelle Vernunftprinzipien gibt. Menschliche Gesellschaften sollen überall auf der Welt nach diesen Prinzipien organisiert werden, sodass sich überall auf der Welt dieselbe Form von Zivilisation verbreitet. Gesellschaftlicher Fortschritt erfordere sowohl Emanzipation von unvernünftigen Traditionen, Diskriminierungen und hegemonialen Strukturen zugunsten von Freiheit und Gleichberechtigung als auch Loslösung von Natur(zwängen) mittels Naturwissenschaft und Technik. Soziale und kulturelle Phänomene bildeten sich unabhängig von den Bedingungen der natürlichen Umwelt aus oder sollten es zumindest.

Das heißt allerdings nicht, dass Natur keine kulturelle Bedeutung haben kann oder soll. Zwar ist sie im aufklärerischen Denken vor allem ein Objekt der Eroberung, Kontrolle und Nutzung durch den Menschen. Natur beziehungsweise Natürlichkeit hat jedoch von Anfang an auch positive symbolische Bedeutungen. Beispielsweise symbolisieren bestimmte Varianten des Landschaftsgartens und ähnlich aussehende (pastorale) Kulturlandschaften – gegen die Dekadenz des absolutistischen Hofes und den unnatürlichen Barockgarten – eine harmonische, von den Menschen nach Vernunftprinzipien konstruierte Gesellschaftsordnung. Beispielsweise symbolisiert wilde, unkontrollierte Natur Freiheit von – zugleich als notwendig angesehenen – gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien. Beispielsweise faszinieren bestimmte Arten Menschen aufgrund ihres Aussehens. Wegen dieser nicht-instrumentellen Werte gelten derartige Kulturlandschaften, Wildnisse oder Arten als schützenswert.

Insofern Kultur als im Wesentlichen unabhängig von Natur und diese wiederum in ihren konkreten Bestimmungen als kulturelles Konstrukt angesehen wird, kann man von Theorien einer Einheit von Natur und Kultur in Kultur sprechen.

Kultur als Anpassung an Natur

Gemäß adaptationistischen Kulturtheorien sind Kultur und Technik, zumindest in ihren Grundzügen, Ergebnisse evolutionärer Anpassungsprozesse an Natur, die es Menschen beziehungsweise Gesellschaften ermöglichen, in ihrer jeweiligen natürlichen Umwelt (besser) zu überleben. Die technischen Fähigkeiten und kulturellen Verhaltensweisen, die Menschen entwickelt haben, seien diejenigen, die ihrer biologischen Fitness am zuträglichsten gewesen seien. Weil diese phylogenetischen Fitnessmaximierungen weitestgehend unbewusst abgelaufen seien und die fitnessmaximierende Funktion bestimmter Verhaltensweisen nicht bekannt sei (Instinktblindheit), werde oftmals zu Unrecht eine naturunabhängige religiöse oder moralische Genese vermutet.

Insofern Kultur als Anpassung an Natur begriffen wird, Kulturphänomene als biologische Epiphänomene gedeutet werden, sind adaptationistische Kulturtheorien Theorien einer Einheit von Kultur und Natur in Natur. Dies impliziert, dass die Naturwissenschaften zu denjenigen – und zu den einzigen – Wissenschaften werden, die die letztendliche Erklärung für kulturelle Phänomene zu geben vermögen (szientifischer Naturalismus).

Einflussreich im Natur- und Artenschutz sind insbesondere zwei naturalistische Theoriegruppen: Erstens zu nennen sind Theorien, denen zufolge Menschen Teile der Natur sind und sich als solche mit ihrem gesellschaftlichen Stoffwechsel in die jeweiligen regionalen und lokalen natürlichen Gegebenheiten einfügen müssen, um dauerhaft überleben zu können.

Zweitens zu nennen sind funktionalistische Ästhetiktheorien, die Schönheit als Zeichen von Zweckmäßigkeit interpretieren und im Naturschutz vor allem in zwei Varianten auftreten: Gemäß objektivistisch-funktionalistischen Ästhetiktheorien soll die weit verbreitete Präferenz für Wildnis und naturnahe Landschaften darin gründen, dass Menschen solche natürlichen Objekte als schön wahrnehmen, die objektive innere Zweckmäßigkeit besitzen, also entweder Organismen sind oder organismenähnlich organisiert sind. Gemäß evolutionären Ästhetiktheorien sollen die grundlegenden ästhetischen Intuitionen des Menschen sich vor Tausenden von Jahren durch natürliche Selektion ausgebildet haben, sodass sie noch heute diejenige Natur als schön empfinden, die einst besonders gute Überlebensmöglichkeiten bot – was die kulturübergreifende Präferenz für parkähnliche Landschaften erkläre.

Kultur als Einheit von Mensch und Natur

Der dritte Theorietyp steht zwischen den beiden bisher beschriebenen, insofern er Kulturentwicklung als doppelt determiniert durch zwei eigenständige Prinzipien begreift. Sein Ursprung liegt in aufklärungskritischen Kulturtheorien und Geschichtsphilosophien, denen zufolge Vernunft kein ahistorisches universelles Vermögen ist, sondern ein genetisch-kontextualistisches, und das Ziel der Menschheitsgeschichte nicht in der Verwirklichung universeller Vernunftprinzipien besteht, sondern darin, auf der Welt eine maximale Vielfalt als gleichberechtigt begriffener einzigartiger Kulturen auszubilden: Gelingende kulturelle Entwicklung sei das Resultat eines geschichtlichen Wechselspiels der besonderen natürlichen Bedingungen eines Gebietes einerseits und des besonderen Charakters der Menschen, die in diesem Gebiet leben, andererseits, wobei diese beiden Prinzipien – "Klima" und "Charakter/Genius eines Volkes" bei Johann Gottfried Herder, "Land" und "Leute" bei Wilhelm Heinrich Riehl, "man" und "nature" bei George Perkins Marsh – sich in diesem Prozess wechselseitig verändern, durchdringen und letztlich eine gewachsene Einheit bilden. Diese Einheit hat die Gestalt einer einzigartigen zweckmäßigen und deshalb zugleich schönen Kultur(landschaft) mit einer einzigartigen Vielfalt charakteristischer Traditionen, Landnutzungsformen, Bauwerkstypen und einer einzigartigen Konstitution, Empfindungs- und Denkart der dort lebenden Menschen. In heutiger Terminologie: Gelingende koevolutionäre Entwicklung von Mensch und Natur führe zu einzigartigen nachhaltigen sozial-ökologischen Systemen.

Dieser Theorietyp des Mensch- beziehungsweise Kultur-Natur-Verhältnisses hat den Natur- und Artenschutz in vielen europäischen Ländern und auch außerhalb Europas maßgeblich geprägt: von den um 1900 entstandenen Heimatschutzbewegungen über die Anforderung in Paragraf 1 Bundesnaturschutzgesetz, die Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft zu erhalten, bis zum Bioregionalismus. Hauptziel von Natur- und Artenschutz auf dieser Grundlage ist die Erhaltung der Vielfalt historisch gewachsener Kulturlandschaften mit den für sie charakteristischen Arten, zu denen auch assimilierte "fremde" Arten (Neobiota) gehören können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christoph Hubig, "Natur" und "Kultur". Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1/2011, S. 97–119; Thomas Kirchhoff, "Natur" als kulturelles Konzept, in: ebd., S. 69–96; Kristian Köchy, Naturalisierung der Kultur oder Kulturalisierung der Natur? Zur kulturphilosophischen Abwehr der Geltungsansprüche der Naturwissenschaft, in: ebd., S. 137–159.

  2. Vgl. Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, S. 64–90; Hubig (Anm. 1), S. 102–108.

  3. Vgl. Hubig (Anm. 1), S. 99, S. 103–108.

  4. Vgl. Thomas Kirchhoff/Vera Vicenzotti, Von der Sehnsucht nach Wildnis, in: ders. et al. (Hrsg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, S. 313–322.

  5. Vgl. Dieter Birnbacher, Natürlichkeit, 15.8.2019, Externer Link: https://doi.org/10.11588/oepn.2019.0.65541; Thomas Kirchhoff, "Natürlichkeit" – Bedeutungen und Bewertungen, in: Christiane Schell et al. (Hrsg.), Neue Gentechniken und Naturschutz – eine Verhältnisbestimmung, Bonn 2020, S. 43–66.

  6. Vgl. Thomas Kirchhoff, Sehnsucht nach Wald als Wildnis, in: APuZ 49–50/2017, S. 17–24, hier S. 21.

  7. Vgl. Klaus Michael Meyer-Abich, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt, München 1990; Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt/M. 1999.

  8. Vgl. Thomas Kirchhoff, "Kulturelle Ökosystemdienstleistungen". Eine begriffliche und methodische Kritik, Freiburg/Br. 2018, S. 32–41; Konrad Ott, Umweltethik, 19.1.2020, Externer Link: https://doi.org/10.11588/oepn.220.0.68742.

  9. Vgl. etwa James R. Karr/Daniel R. Dudley, Ecological Perspective on Water Quality Goals, in: Environmental Management 1/1981, S. 55–68; Laura Westra, An Environmental Proposal for Ethics: The Principle of Integrity, Lanham 1994.

  10. Vgl. Daniel B. Botkin, Discordant Harmonies. A New Ecology for the Twenty-First Century, Oxford 1990; Thomas Kirchhoff, Die Konzepte der Ökosystemgesundheit und Ökosystemintegrität. Zur Frage und Fragwürdigkeit normativer Setzungen in der Ökologie, in: Natur und Landschaft 9–10/2016, S. 464–469; ders. (Anm. 8), S. 81ff.

  11. Vgl. etwa Konrad Ott/Ralf Döring, Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg 2011.

  12. Vgl. Ulrich Hampicke, Fachgutachten über die Höhe von Ausgleichszahlungen für die naturnahe Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Nutzflächen in Deutschland, Hamburg 2014.

  13. Vgl. Kirchhoff/Vicenzotti (Anm. 4); Thomas Kirchhoff, Räumliche Eigenart. Sinn und Herkunft einer zentralen Denkfigur im Naturschutz, in: Schriftenreihe der Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie 103/2012, S. 11–22; ders. (Anm. 8), S. 54–76.

  14. Vgl. Hans Diefenbacher et al., Umweltkonzept für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Heidelberg 2014.

  15. Vgl. Kirchhoff (Anm. 10); ders. (Anm. 8), S. 81–85; Ott (Anm. 8), S. 1.

  16. Vgl. Paul Mohai/David Pellow/J. Timmons Roberts, Environmental Justice, in: Annual Review of Environment and Resources 1/2009, S. 405–430.

  17. Vgl. Thomas Kirchhoff et al. (Hrsg.), Naturphilosophie. Ein Lehr- und Studienbuch, Tübingen 2017, insb. Kapitel II.9–II.11 sowie Kapitel III.1–III.10; Kirchhoff (Anm. 8).

  18. Vgl. Monroe C. Beardsley, Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism, Indianapolis 1981, insb. S. 29–34; Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt/M. 1991, S. 20–25, S. 33–36; Köchy (Anm. 1); Kirchhoff (Anm. 8), insb. S. 65ff., S. 76f., S. 150f.

  19. Exemplarisch Denis E. Cosgrove, Social Formation and Symbolic Landscape, Madison 1998; Ludwig Trepl, Die Idee der Landschaft. Eine Kulturgeschichte von der Aufklärung bis zur Ökologiebewegung, Bielefeld 2012; Kirchhoff (Anm. 8).

  20. Vgl. John Dupré, Against Scientific Imperialism, in: Proceedings of the Biennial Meeting of the Philosophy of Science Association 2/1994, S. 374–381; Köchy (Anm. 1), S. 137–141; Kirchhoff (Anm. 8), S. 13–16, S. 20, S. 76f., S. 150f.

  21. Vgl. K.G. Lyons et al., Rare Species and Ecosystem Functioning, in: Conservation Biology 4/2005, S. 1019–1024, hier S. 1019.

  22. Ausführlich hierzu Kirchhoff (Anm. 8); ders., Abandoning the Concept of Cultural Ecosystem Services, or Against Natural-Scientific Imperialism, in: BioScience 3/2019, S. 220–227.

  23. Vgl. Ulrich Eisel, Die schöne Landschaft als kritische Utopie oder als konservatives Relikt, in: Soziale Welt 2/1982, S. 157–168.

  24. Vgl. Kirchhoff/Vicenzotti (Anm. 4), S. 316.

  25. Vgl. Bernhard Glaeser, Natur in der Krise? Ein kulturelles Mißverständnis, in: Gaia 4/1992, S. 195–203, hier S. 198–201.

  26. Vgl. Tim Lewens, Cultural Evolution: Conceptual Challenges, Oxford 2015; Thomas G. Harding, Adaptation and Stability, in: Marshall D. Sahlins/Elman R. Service (Hrsg.), Evolution and Culture. A Unified Interpretation of the Evolution of Species, Humanity, and Society, Ann Arbor 1970, S. 45–68, hier S. 48.

  27. Vgl. Glaeser (Anm. 25), S. 198ff.

  28. Vgl. Köchy (Anm. 1), S. 137–141.

  29. Zu deren Beschreibung und Kritik siehe Steven C. Bourassa, The Aesthetics of Landscape, London 1991, S. 66–89; Kirchhoff (Anm. 8), S. 85–95.

  30. Vgl. Ulrich Eisel, Individualität als Einheit der konkreten Natur: Das Kulturkonzept der Geographie, in: Bernhard Glaeser/Parto Teherani-Krönner (Hrsg.), Humanökologie und Kulturökologie, Opladen 1992, S. 107–151; Kirchhoff (Anm. 8), S. 60–64; ders. (Anm. 13).

  31. Vgl. ders., Naturschutz und rechtsextreme Ideologien. Abgrenzungen im Hinblick auf das Ideal landschaftlicher Eigenart, in: Gudrun Heinrich/Klaus-Dieter Kaiser/Norbert Wiersbinski (Hrsg.), Naturschutz und Rechtsradikalismus, Bonn 2015, S. 22–37, hier S. 28f.

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ist Post-Doc-Wissenschaftler an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, Privatdozent für Theorie der Landschaft an der Technischen Universität München und Mitglied des Heidelberg Center for the Environment. E-Mail Link: thomas.kirchhoff@fest-heidelberg.de