Der Begriff "Natur" hat Bedeutung nur in abgrenzender Gegenüberstellung zu einem anderen Begriff, wobei seine Bedeutung mit dem Gegenbegriff – etwa "Kultur", "Technik", "Gesellschaft", "Kunst", "Vernunft" – variiert. Die in modernen Gesellschaften westlichen Typs lebensweltlich und für den Natur- und Artenschutz entscheidenden Bedeutungen von "Natur" ergeben sich aus der Gegenüberstellung zu "Kultur" und "Technik".
"Kultur" im engeren Sinne soll hier einen Komplex von dynamischen, revidierbaren, wenngleich nicht beliebig veränderbaren Sinnsystemen, symbolischen Ordnungen und Wissensordnungen bezeichnen, mit denen sich Menschen ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und sich so Handeln ermöglichen. "Technik" soll fungieren als Inbegriff für Fertigkeiten, Verfahren und Routinen, für das Wissen über diese, für deren Anwendung als Mittel und für die Gesamtheit der mit ihrer Hilfe produzierten Gebilde.
In Abgrenzung dazu meint "Natur" all das, was ohne menschlichen Einfluss, ohne menschliches Zutun abläuft oder entstanden ist: alle nicht-menschlichen Kräfte und deren Resultate, insbesondere Wachstum und Gewachsenes.
Die so bestimmte "Natur" ist vor allem eine Gegenwelt zur Welt der Kultur und Technik. Diese Gegenwelt wird positiv und negativ bewertet, wie Kontroversen um Wildnis und Wölfe oder allgemeiner um Naturbeherrschung versus Naturschutz zeigen. Als geschichtliche Tendenz lässt sich in modernen Gesellschaften westlichen Typs eine zunehmende Wertschätzung von Natur konstatieren, insbesondere von Wildnis,
Werte von Natur
In der Natur- beziehungsweise Umweltethik werden üblicherweise vier Grundtypen von Werten von Natur unterschieden:
Anthropozentrischen instrumentellen Wert (Nutzwert) haben natürliche Produkte beziehungsweise Prozesse, wenn sie als Mittel für menschliche Zwecke fungieren – wenn etwa ein Waldökosystem Holz produziert und Schadstoffe bindet. Eine bestimmte Natur wird geschützt, weil Menschen zum materiellen Überleben auf deren Prozesse oder Produkte angewiesen sind, da ihre technische Substitution (noch) nicht (ökonomisch sinnvoll) möglich ist. Das schließt das Prinzip nachhaltiger Nutzung von Natur unter Beachtung "ökologischer" Grenzen ein, wobei Nachhaltigkeit ein Prinzip nicht nur ökonomischer Klugheit, sondern auch humanethischer Umwelt- und Generationengerechtigkeit ist.
Anthropozentrischen nicht-instrumentellen Wert (relativen Eigenwert) haben Naturphänomene, wenn sie nicht als Mittel, sondern un-mittelbar als solche wertgeschätzt werden, dies jedoch nur relativ zu menschlichen Interessen, Sinnsystemen und Wertvorstellungen. Darunter fallen vor allem ästhetische und symbolische Werte von Natur – etwa eine schillernde Wasserfläche oder ein schönes Tier als Objekt ästhetischen Wohlgefallens, eine als identitätsstiftend erlebte Kulturlandschaft oder eine mit Freiheitsgefühlen verbundene Wildnis. Insofern der Wert von Natur hier darin besteht, jenseits von Überlebensnotwendigkeiten einem guten Leben zu dienen, wird von eudaimonistischen Werten gesprochen.
Theozentrischen Wert haben Naturphänomene, wenn sie als göttlicher Besitz, (Wohn-)Ort eines göttlichen Wesens oder göttlicher Kräfte, als göttliche Schöpfung angesehen werden. Theozentrische Werte sind, wie anthropozentrische Werte, relative Werte: Natur hat Wert nicht aus sich heraus, nicht absolut, sondern weil sie auf etwas Göttliches verweist.
Physiozentrischen Wert (absoluten/moralischen Selbstwert) haben natürliche Entitäten, wenn ihnen Wert unabhängig von allen menschlichen Interessen, Sinnsystemen und Wertvorstellungen zugeschrieben wird: wenn sie als subjektähnliche Entitäten angesehen werden, die um ihrer selbst willen zu schützen und in die Moralgemeinschaft aufzunehmen sind, der im Anthropozentrismus nur Menschen zugehören. Je nachdem, wie weit der Kreis moralisch zu berücksichtigender Natur-"Subjekte" gezogen wird, spezifiziert sich der Physiozentrismus zum Sentientismus/Pathozentrismus, der nur empfindungs- beziehungsweise leidensfähige Lebewesen umfasst, zum Biozentrismus, der sich auf alle Lebewesen bezieht, zum Ökozentrismus, der zudem ökologische Systeme berücksichtigt, oder zum naturethischen Holismus, der die gesamte Natur umfasst.
Geltungsstatus der Werttypen
Welcher normativ-regulative Geltungsanspruch kann für die Werttypen jeweils berechtigterweise erhoben werden? Wie sind auf ihrer Basis jeweils konkrete Ziele des Natur- und Artenschutzes ableitbar?
Begründungen von Natur- und Artenschutz mit instrumentellen Werten können, insofern sie sich auf das Überleben von Menschen beziehen, allgemeine Zustimmung beanspruchen. Offen und in gesellschaftlichen Diskursen zu klären bleibt jedoch, was dies konkret bedeuten soll. Denn aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften ergeben sich keine Vernunftnotwendigkeiten, in genau welchem Zustand die Erde erhalten werden muss, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Vielmehr besteht ein relativ großer Spielraum, etwa weil ein und derselbe instrumentelle Nutzen von Natur durch ganz unterschiedliche Arten(kombinationen) und ökologische Systeme erbracht werden kann. Einige Autoren halten den menschlichen Spielraum für sehr gering und reklamieren die Unersetzbarkeit natürlicher Ökosysteme.
Begründungen für Natur- und Artenschutz mit anthropozentrischen nicht-instrumentellen Werten können zwar keinen Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben, weil sie auf kulturell geprägten ästhetischen und symbolischen Wahrnehmungsweisen von Natur beruhen, die sich inner- und interkulturell stark unterscheiden können. Sie sind aber zumeist intersubjektiv nachvollziehbar: In vielen Kulturen hat sich eine Wertschätzung von Wildnis als Gegenwelt zur Welt der Kultur herausgebildet, fungieren Naturphänomene wie der Springbock, der Weißkopfseeadler oder das Matterhorn als regionale oder nationale Symbole, gelten einzigartige Kulturlandschaften wie die Lüneburger Heide, die Camargue oder der Lake District als Ausdruck schützenswerter Eigenart und Identität.
Theozentrische Begründungen von Natur- und Artenschutz können zwar keinen Anspruch auf Geltung über den Kreis der jeweiligen Glaubensgemeinschaft hinaus beanspruchen, wohl aber auf angemessene Berücksichtigung im gesellschaftlichen Diskurs, wobei nicht nur Prinzipien des Minderheitenschutzes zu beachten sind, sondern auch, dass als heilig angesehene Naturphänomene in der Regel nicht ersetzbar sind – siehe aktuell die Unterschutzstellung des Uluru/Ayers Rock in Australien. "Bewahrung der Schöpfung" ist eine umweltethische Forderung, die seit den 1980er Jahren von zahlreichen christlichen Friedens- und Umweltinitiativen erhoben wird. Diese Forderung lässt sich spezifisch religiös fundieren durch eine "ökologische Schöpfungsethik" und Prinzipien einer "Rationalität der Sorge" für die Natur und die natürliche Umwelt des Menschen.
Weil sich patho- und biozentrische Argumente auf einzelne Organismen beziehen, lässt sich mit ihnen allenfalls Tier-, nicht aber Artenschutz begründen. Einflussreich im Natur- und Artenschutz sind ökozentrische Positionen, die fordern, natürliche Ökosysteme (Wildnis) in möglichst großen Teilen der Biosphäre zu erhalten: primär wegen ihres Selbstwertes, sekundär wegen ihrer Nützlichkeit und Schönheit für Menschen. Ökozentrische Positionen sind jedoch mit mindestens zwei gravierenden Einwänden konfrontiert: Zum einen ist fraglich, ob Entitäten wie Ökosysteme, die prinzipiell keine Moralfähigkeit besitzen, Mitglieder einer Moralgemeinschaft sein können. Zum anderen kann ein Selbstwert nur Entitäten zugeschrieben werden, die in dem strengen Sinne real sind, dass sie beobachterunabhängig existieren. Diese Voraussetzung wäre für Ökosysteme jedoch nur erfüllt, wenn sie ein inneres Einheitsprinzip besäßen und wie individuelle Organismen organisiert wären – das gilt in der Ökologie weithin als widerlegt, sodass Ökosysteme als vom Beobachter konstruierte Einheiten anzusehen sind.
Pluralität menschlicher Naturwahrnehmungen
Natur hat für Menschen nicht nur kategorial verschiedene Werte, sondern wird von ihnen auch auf kategorial verschiedene Weisen wahrgenommen.
Naturwissenschaftlich, etwa in der Ökologie, ist Natur methodisch objektivierte Natur. Es werden theoriegeleitet mithilfe von Beobachtung, Messung und Experiment Ursache-Wirkungs-Beziehungen erforscht, um Naturphänomene wie Populationswachstum und Artenverbreitung zu modellieren, zu erklären und zu prognostizieren. Natur wird dabei seit einigen Jahrzehnten zumeist als "Ökosystem" modelliert: als dynamisches Wirkungsgefüge aus Populationen mehrerer Arten und deren unbelebter Umwelt. So wird Wald als Waldökosystem mit Begriffen wie "Stoff-" und "Energiefluss", "Primärproduktion", "Destruent", "Entropie" und "Biomasse" beschrieben.
Lebensweltlich wird Natur auf kategorial andere Weise(n) wahrgenommen. Deshalb hat etwa ein lebensweltlich wahrgenommener Wald Eigenschaften, die Wald als Ökosystem nicht haben kann, nämlich schön, erhaben, wild, geheimnisvoll, national, natürlich zu sein oder Beständigkeit, Identität, Freiheit, Authentizität, Ordnung oder Chaos zu symbolisieren. Solche lebensweltlichen ästhetisch-symbolischen Naturwahrnehmungen sind immer subjektiv-individuell, erfolgen jedoch im Rahmen intersubjektiver Wahrnehmungsmuster, die überwiegend nicht biologisch, sondern kulturell geprägt sind; sie sind deshalb Gegenstand naturästhetischer oder kulturwissenschaftlichen Analysen.
Ob es irgendwann eine einzige Konzeptualisierung geben wird, die alle unterschiedlichen Wahrnehmungen von Natur angemessen erfasst, ist umstritten. Daher ist ein konzeptioneller Pluralismus erforderlich,
Theorien des Natur-Kultur-Verhältnisses
Die bisherigen Unterscheidungen und Charakterisierungen von Werten, Wahrnehmungsweisen und Konzeptualisierungen von Natur erscheinen in unterschiedlichem Licht, je nachdem, was für eine Theorie darüber zugrunde gelegt wird, wie sich Kultur zu Natur verhält beziehungsweise verhalten sollte. Drei Typen solcher Theorien sollen im Folgenden unterschieden und in groben Zügen idealtypisch charakterisiert werden.
Kultur als Emanzipation von Natur
Zentral für das aufklärerische Denken ist die Annahme, dass es allen Menschen gemeinsame, ahistorische und universelle Vernunftprinzipien gibt. Menschliche Gesellschaften sollen überall auf der Welt nach diesen Prinzipien organisiert werden, sodass sich überall auf der Welt dieselbe Form von Zivilisation verbreitet. Gesellschaftlicher Fortschritt erfordere sowohl Emanzipation von unvernünftigen Traditionen, Diskriminierungen und hegemonialen Strukturen zugunsten von Freiheit und Gleichberechtigung als auch Loslösung von Natur(zwängen) mittels Naturwissenschaft und Technik. Soziale und kulturelle Phänomene bildeten sich unabhängig von den Bedingungen der natürlichen Umwelt aus oder sollten es zumindest.
Das heißt allerdings nicht, dass Natur keine kulturelle Bedeutung haben kann oder soll. Zwar ist sie im aufklärerischen Denken vor allem ein Objekt der Eroberung, Kontrolle und Nutzung durch den Menschen. Natur beziehungsweise Natürlichkeit hat jedoch von Anfang an auch positive symbolische Bedeutungen. Beispielsweise symbolisieren bestimmte Varianten des Landschaftsgartens und ähnlich aussehende (pastorale) Kulturlandschaften – gegen die Dekadenz des absolutistischen Hofes und den unnatürlichen Barockgarten – eine harmonische, von den Menschen nach Vernunftprinzipien konstruierte Gesellschaftsordnung.
Insofern Kultur als im Wesentlichen unabhängig von Natur und diese wiederum in ihren konkreten Bestimmungen als kulturelles Konstrukt angesehen wird, kann man von Theorien einer Einheit von Natur und Kultur in Kultur sprechen.
Kultur als Anpassung an Natur
Gemäß adaptationistischen Kulturtheorien sind Kultur und Technik, zumindest in ihren Grundzügen, Ergebnisse evolutionärer Anpassungsprozesse an Natur, die es Menschen beziehungsweise Gesellschaften ermöglichen, in ihrer jeweiligen natürlichen Umwelt (besser) zu überleben.
Insofern Kultur als Anpassung an Natur begriffen wird, Kulturphänomene als biologische Epiphänomene gedeutet werden, sind adaptationistische Kulturtheorien Theorien einer Einheit von Kultur und Natur in Natur.
Einflussreich im Natur- und Artenschutz sind insbesondere zwei naturalistische Theoriegruppen: Erstens zu nennen sind Theorien, denen zufolge Menschen Teile der Natur sind und sich als solche mit ihrem gesellschaftlichen Stoffwechsel in die jeweiligen regionalen und lokalen natürlichen Gegebenheiten einfügen müssen, um dauerhaft überleben zu können.
Zweitens zu nennen sind funktionalistische Ästhetiktheorien, die Schönheit als Zeichen von Zweckmäßigkeit interpretieren und im Naturschutz vor allem in zwei Varianten auftreten:
Kultur als Einheit von Mensch und Natur
Der dritte Theorietyp steht zwischen den beiden bisher beschriebenen, insofern er Kulturentwicklung als doppelt determiniert durch zwei eigenständige Prinzipien begreift. Sein Ursprung liegt in aufklärungskritischen Kulturtheorien und Geschichtsphilosophien, denen zufolge Vernunft kein ahistorisches universelles Vermögen ist, sondern ein genetisch-kontextualistisches, und das Ziel der Menschheitsgeschichte nicht in der Verwirklichung universeller Vernunftprinzipien besteht, sondern darin, auf der Welt eine maximale Vielfalt als gleichberechtigt begriffener einzigartiger Kulturen auszubilden:
Dieser Theorietyp des Mensch- beziehungsweise Kultur-Natur-Verhältnisses hat den Natur- und Artenschutz in vielen europäischen Ländern und auch außerhalb Europas maßgeblich geprägt: von den um 1900 entstandenen Heimatschutzbewegungen über die Anforderung in Paragraf 1 Bundesnaturschutzgesetz, die Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft zu erhalten, bis zum Bioregionalismus. Hauptziel von Natur- und Artenschutz auf dieser Grundlage ist die Erhaltung der Vielfalt historisch gewachsener Kulturlandschaften mit den für sie charakteristischen Arten, zu denen auch assimilierte "fremde" Arten (Neobiota) gehören können.