Um 1900 war die deutsche Wissenschaft weltweit führend. Zu den bekanntesten Köpfen zählte der Mediziner Robert Koch. Er entdeckte den Erreger der Tuberkulose, damals eine gefürchtete Volkskrankheit, und gilt gemeinsam mit dem Franzosen Louis Pasteur als Gründervater der Bakteriologie. Auf der Suche nach dem Cholera-Erreger reiste er nach Ägypten und weiter nach Indien, und nachdem er das Bakterium in Kalkutta endlich identifiziert hatte, wurde seine Rückkehr nach Deutschland zum Triumphzug. 1905 erhielt er den Nobelpreis für Medizin. Ab 1891 leitete Koch das eigens für ihn gegründete Institut für Infektionskrankheiten in Berlin, und in dieser Eigenschaft beschäftigte er sich auch mit der Schlafkrankheit und der Rinderpest in Afrika. Seine langjährigen Forschungen führten ihn zu der Überzeugung, dass afrikanische Großtierarten wie Gnus und Kaffernbüffel der entscheidende Wirt der Krankheitserreger waren und dass die Übertragung durch Tsetsefliegen erfolgte. Die Frage war, was man dagegen unternehmen konnte. Gegen Abermillionen von Fliegen waren Mediziner damals ziemlich hilflos. Aber vielleicht sah das bei den Säugetieren anders aus? Eine ordentliche Rinderzucht in Afrika war für Koch nur denkbar, wenn jede Übertragung durch infizierte Wildtiere ausgeschlossen werden konnte. Deshalb formulierte er im Februar 1908 bei einem Vortrag vor dem Deutschen Landwirtschaftsrat in Anwesenheit prominenter Zuhörer bis hoch zum Kaiser einen radikalen Vorschlag: Man müsse die Wildtiere einfach ausrotten.
Aus heutiger Sicht klingt der Vorschlag radikaler, als er gemeint war. Es ging nicht um eine restlose Eliminierung, sondern vielmehr darum, die Tiere aus landwirtschaftlich genutzten Regionen zu verbannen, und Koch ließ sich bereitwillig auf den Vorschlag ein, zunächst einen Feldversuch am Fuß der Usambara-Berge im Norden des heutigen Tansanias zu unternehmen. In der Öffentlichkeit kam der Vorschlag freilich weniger gut an. Binnen Wochen entstand eine hitzige Kontroverse, in der Koch entgegengehalten wurde, dass die Deutschen als "Kulturvolk" verpflichtet seien, die Tier- und Pflanzenwelt der Kolonien zu bewahren. Es war eine der ersten großen Auseinandersetzungen in der Geschichte des Artenschutzes in Deutschland, und der öffentliche Aufschrei hinterließ bei dem Nobelpreisträger einen nachhaltigen Eindruck. Als Koch nach der Rückkehr von einer Reise nach Japan und in die USA von den empörten Reaktionen erfuhr, bemühte er sich, das Ganze als Missverständnis hinzustellen.
Was ist das Problem?
Die Kontroverse wirft ein erhellendes Schlaglicht darauf, wie sich Artensterben von anderen ökologischen Herausforderungen unterschied. Viele Umweltprobleme waren nämlich ohne großes Vorwissen verständlich. Jeder aufmerksame Bauer merkte, wenn der Boden auf seinem Ackerland erodierte. Über die Folgen der Abholzung dachten die Menschen bereits in der Antike nach. Der Smog von London war ein Gesprächsthema, lange bevor die ersten wissenschaftlichen Messungen begannen. Artensterben konnte man hingegen nicht einfach beim aufmerksamen Blick in die natürliche Umwelt erkennen. Mehr als andere Umweltprobleme hing der Artenschutz an einem Prozess kultureller Konstruktion, der insbesondere von den Ergebnissen der neuzeitlichen Wissenschaft angetrieben wurde.
Die Konzepte, die unserer Vorstellung von Artensterben zugrunde liegen, mussten erst mühsam entwickelt werden und sich dann in der Konkurrenz mit anderen Wissensregimen behaupten. In dieser Hinsicht markierte das 18. Jahrhundert und speziell die Aufklärung eine Wasserscheide, die auf eine scharfe Trennung zwischen den Wissenswelten der Vormoderne und der heutigen Welt hinauslief. Um Artensterben als Problem zu markieren, brauchte es eine Vorstellung von Arten als kognitiven Einheiten und die Idee, dass nicht nur einzelne Tiere sterben können, sondern auch sämtliche Vertreter einer Art. Solange die Erde nur ein paar Tausend Jahre alt zu sein schien und die Tier- und Pflanzenwelt als göttliche Schöpfung galt, waren die heute so vertrauten Sorgen im wörtlichen Sinne undenkbar. Hinzu kam die ethische Frage, ob die Dezimierung einer Art gerechtfertigt war, wenn es dem Menschen diente. Ein Mediziner wie Koch war in dieser Hinsicht berufsbedingt besonders schwach sensibilisiert. Der massenhafte Tod von Lebewesen war schließlich das, worauf Bakteriologen gezielt hinarbeiteten. Und warum sollten für Gnus andere Regeln gelten als für Mikroorganismen?
Kochs Gegenspieler hatten ihre eigenen Scheuklappen. Der Naturschutz war im kolonialen Afrika fest in den Händen einer Gruppe von Männern, die niemand einer übermäßigen Sentimentalität beschuldigte. Diese Männer waren die Großwildjäger. Zum Reiz der kolonialen Welt gehörte eine charismatische Megafauna, und das Tigerfell an der Wand sowie testosteronlastige Geschichten von der Pirsch dienten als Ausweis, dass ein Mann seinen Dienst für die Verbreitung der westlichen Zivilisation geleistet hatte. Es bedurfte nicht der rückblickenden Weisheit einer postkolonialen Welt, um die Spannung zwischen Naturbewahrung und männlicher Bewährung zu erkennen. Die britische Presse titulierte die zum Naturschutz konvertierten Großwildjäger, die sich 1903 in der Society for the Preservation of the Wild Fauna of the Empire organisierten, als "reumütige Schlächter".
Die Interessen eines Großwildjägers konzentrierten sich zwangsläufig auf große Säugetiere, und sie waren nicht die einzigen Naturschützer, die mit Vorliebe auf ausgewählte Arten blickten. Neben der charismatischen Megafauna der kolonialen Welt waren vor allem die Vögel organisatorisch bestens vertreten, und in manchen Ländern – allen voran Großbritannien – wurde das sorgsame Beobachten der Vogelwelt geradezu zur Massenbewegung bis hin zu frühmorgendlichen Expeditionen mit Fernglas und Gummistiefeln. Wenn es um den Schutz der Arten ging, waren Tiere und Pflanzen alles andere als eine Gemeinschaft der Gleichen, und das hat sich auch im ökologisch aufgeklärten 21. Jahrhundert nicht grundsätzlich geändert. Wenn es um attraktive Bilder für die Spendenwerbung geht, haben Elefanten, Tiger und Menschenaffen weiterhin bessere Chancen als die meisten anderen Arten, und der World Wide Fund for Nature (WWF) pflegt weiterhin den kuscheligen Panda als Symboltier.
Ikone des Artensterbens: der Dodo
So hatte der Umgang mit den bedrohten Tieren von Anfang an einen Hauch von Model-Wettbewerb. Um in die engere Wahl zu kommen, brauchte es eine gewisse Mindestgröße, ein weiches Fell oder Federn waren zumindest hilfreich, und dann war da noch das gewisse Extra. Beim Dodo, vielleicht das Symboltier der ausgestorbenen Arten schlechthin, war es ein großer Schnabel und eine pummelige Figur, die dem flugunfähigen Vogel eine charmante Unbeholfenheit verliehen. Von seinem ganzen Erscheinungsbild her scheint der Dodo nach einer Menschheit zu rufen, die sich von seinem Anblick rühren lässt und das für sein Überleben Erforderliche in die Wege leitet. Als aussterbende Spezies war der Dodo, der auf Mauritius im Indischen Ozean lebte, schließlich alles andere als singulär. Allein auf der Inselgruppe der Maskarenen, zu der neben Mauritius noch Rodrigues und das französische Übersee-Département La Réunion gehören, starben vor 1800 mindestens 48 endemische Arten aus.
Der Dodo machte schon zu Lebzeiten Furore. Europäische Naturforscher diskutierten ihn mit Leidenschaft, sei es, weil sein ungewöhnliches Aussehen lebhafte Debatten über biologische Klassifikationen erlaubte, oder einfach weil Kuriositäten in der Frühzeit der akademischen Wissenschaft einen besonderen Stellenwert hatten. Später machte der Schriftsteller Lewis Caroll, eigentlich als Charles Lutwidge Dodgson Dozent an der Universität Oxford, den Dodo zu seinem Alter Ego in seinem Roman "Alice im Wunderland", aber die kulturelle Überformung der Spezies begann schon früher. Es ist gut möglich, dass der Dodo von den Naturforschern des 17. Jahrhunderts träger und unförmiger gemacht wurde, als er in Wirklichkeit war. Damals war Mauritius im Besitz der niederländischen Ostindien-Kompanie, einer reichen und mächtigen Handelsgesellschaft, deren Geschäftsgebaren so berüchtigt war, dass das Kürzel der Firma – VOC – nach ihrem Untergang als vergaan onder corruptie (Untergang durch Korruption) gelesen wurden. Ein fetter, flugunfähiger Vogel war da ein probates Vehikel der Kritik.
Die genauen Ursachen für das Aussterben des Dodo sind weiterhin umstritten. Vielleicht war es die Bejagung durch hungrige Seeleute, die auf dem langen Weg von den Niederlanden nach Ostasien in Mauritius Station machten – wobei "Jagd" vielleicht ein arg heroisches Wort ist bei einem Tier, das man einfach einsammeln konnte. Vielleicht lag es auch an den Ratten, die mit den Schiffen auf die Insel kamen. Der Dodo war besonders empfindlich für invasive Arten, weil er auf Mauritius bis zur Ankunft der Niederländer keine natürlichen Feinde hatte. Womöglich gab es auch andere Ursachen, die im komplexen Wechselspiel der natürlichen Umwelt verborgen blieben. Es ist noch nicht einmal klar, wann der Dodo eigentlich ausstarb. Bis 1620 berichteten Reisende regelmäßig über den Dodo, aber danach taucht der Vogel in den überlieferten Darstellungen nur noch sporadisch auf, und irgendwann vor dem Ende des 17. Jahrhunderts starb die Art aus. Biologen sind bemerkenswert geschickt darin, das Aussehen und die Lebensgewohnheiten des Dodos aus Knochenfunden zu rekonstruieren, aber das Jahr, in dem der letzte Dodo sein Leben aushauchte, wird wohl auf ewig unbekannt bleiben.
Das stille Sterben des Dodo ist mehr als eine historische Fußnote. Das Artensterben, das mit dem Aufstieg des Menschen zur dominanten Spezies der Erde begann, ist eine Zäsur von planetarischer Bedeutung. Solche Formulierungen klingen leicht wie rhetorische Kraftmeierei, aber tatsächlich wird unter Biologen über die These eines sechsten Massensterbens in der Geschichte der Erde diskutiert. Ausgangspunkt ist der Befund aus Analysen von Fossilien, dass sich das Artensterben an bestimmten Punkten der Erdgeschichte dramatisch beschleunigte. Als dies das letzte Mal vor 66 Millionen Jahren geschah, starben die Dinosaurier aus.
Ob sich derzeit ein vergleichbares Massensterben vollzieht, hängt auch an den wissenschaftlichen Unsicherheiten und insbesondere der Vergleichbarkeit fossiler Funde mit heutigem biologischen Wissen. Man braucht jedoch nicht unbedingt den erdgeschichtlichen Vergleich, um alarmiert zu sein. Der Raubbau an einer biologischen Vielfalt, die unser Planet in Millionen von Jahren akkumuliert hat, ist in jedem Fall dramatisch, und anders als beim Klimawandel, wo das Heer der Skeptiker auch dank generöser finanzieller Unterstützung von einschlägigen Interessenten einfach nicht verschwinden will, hat beim Schwinden der Arten in der Moderne noch niemand ernsthaft die These vertreten, dass der Mensch daran unschuldig sei.
Ein derart dramatisches Geschehen verlangt eigentlich aus Gründen der moralischen Symmetrie nach ähnlich dramatischen Ursachen. Aber der Dodo verschwand lediglich, weil niederländische Seeleute nach Wochen auf dem Meer eine kleine Unterbrechung ihrer Reise goutierten. Nichts spricht für eine bewusste Dezimierung oder gar die Absicht, der Spezies den Garaus zu machen, und ähnlich war es beim stillen Sterben vieler anderer Arten: Niemand wollte deren Verschwinden, kaum jemand bemerkte etwas, und als sich das änderte, war es zu spät. Anders als bei der Klimapolitik gab es in vielen Fällen keine Profiteure. Die industrieförmige Land- und Forstwirtschaft, die weitaus wichtigste Ursache für das Schwinden der Arten, hatte mit Biodiversität nicht das geringste Problem, solange sie sich nicht auf den eigenen Feldern oder in den eigenen Ställen entfaltete. Ausrottungsfantasien gab es allenfalls bei Akademikern im Höhenrausch – Robert Koch lässt grüßen.
In den sozialen Bewegungen, die sich um den Schutz der natürlichen Umwelt bemühten, war das Artensterben deshalb lange Zeit ein randständiges Thema. Das gilt selbst für die Tierschutzbewegung, die sich bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts formierte. Den einschlägigen Vereinen ging es nicht um Arten, sondern um konkrete Tiere und deren Wohlergehen. Gerne wurde dabei in den frühen Jahren das despektierliche Verhalten der niederen Klassen thematisiert, so etwa bei Hahnenkämpfen in den Hinterhöfen englischer Arbeiterquartiere oder bei Kutschern, die ihre Pferde mit Peitschenschlägen traktierten. Später wurden auch die Tierversuche in der medizinischen Forschung thematisiert. Es gab für engagierte Tierschützer im langen 19. Jahrhundert viele Themen, aber das Aussterben ganzer Arten zählte nicht dazu.
Etwas komplizierter lagen die Dinge bei der Naturschutzbewegung, die sich in der Zeit um 1900 in den meisten Ländern des Westens formierte. Was diese Bewegungen jeweils als die zu schützende Natur identifizierten, hing nämlich in hohem Maße von der jeweils verfügbaren Flora und Fauna sowie von nationalen und kulturellen Besonderheiten der einzelnen Länder ab. Am nächsten kamen wohl die Wildtierreservate in den Kolonien, die von den erwähnten Großwildjägern unterstützt und später häufig in Nationalparks umgewandelt wurden. Oft ging es freilich in erster Linie um visuelle Reize: spektakuläre Felsformationen, ikonische Landschaften, beliebte Ausflugsziele, Superlative der Natur. Die Vereinigten Staaten, die um 1870 mit Yellowstone und Yosemite die ersten Nationalparks der Welt schufen, brauchten bis 1934, um mit den Everglades erstmals die Schaffung eines Nationalparks ökologisch zu begründen.
Schutzgebiete
Wenn Naturschutzgebiete vor 1950 Arten vor dem Aussterben retteten, dann war das meist ein Nebeneffekt. Ohnehin sollte man sich vor der Illusion hüten, dass es bei solchen Schutzgebieten lediglich um die Bewahrung einer bedrohten Natur gegangen wäre. Schweden schuf zum Beispiel im frühen 20. Jahrhundert Nationalparks im Land der indigenen Samen, um die Autorität der schwedischen Regierung im hohen Norden zu konsolidieren. Großbritannien verfolgte ähnliche Interessen, als es nach dem Zweiten Weltkrieg die Ausweisung von Nationalparks in seinen afrikanischen Kolonien forcierte. Sie waren ein Signal, dass sich London nun mit besonderer Sorgfalt um seinen kolonialen Besitz kümmern würde. Außerdem sollten sie das weitsichtige Management natürlicher Ressourcen durch den weißen Mann symbolisieren, der angeblich weiter blicken konnte als die einheimische Bevölkerung, die aus Sicht der Kolonialherren lediglich auf die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung fixiert war.
Naturschutz konnte auch ein politisches Statement sein, und bei der Ausweisung von Schutzgebieten ging es immer auch um die Macht des modernen Territorialstaats. Das ist nur lange Zeit nicht so recht aufgefallen, weil staatliche Autorität auf den ersten Blick kein großes Problem zu sein schien. Als in den 1960er Jahren der große Boom der Schutzgebietsausweisungen begann, waren die Interventionsstaaten des Westens auf dem Höhepunkt ihrer Macht. In den folgenden Jahrzehnten erwies sich staatliche Macht jedoch zunehmend als fragil bis hin zu den gescheiterten Staaten des Globalen Südens, und diese Entwicklung hat unter Historikern ein Interesse am Verhältnis von Naturschutz und staatlicher Autorität geweckt. Lange galt als ausgemacht, dass der Naturschutz im späten 19. Jahrhundert aus neuen Ideen über die Bedrohung der freien Natur durch die Industriemoderne entstand, aber das war nur die halbe Geschichte. Der Naturschutz moderner Prägung basierte auch auf der Neuerfindung staatlicher Macht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Der Umschwung wird deutlich, wenn man die Naturschutzgebiete der Moderne mit älteren Schutzgebieten vergleicht. Wenn ein Monarch im 17. oder 18. Jahrhundert ein Gebiet unter besonderen Schutz stellte, dann ging es in aller Regel um die Jagd, die als fürstliches Privileg einen besonderen Aufwand rechtfertigte. Die Jagdgebiete wurden mit großem Aufwand markiert bis hin zu Bretterwänden zur Einhegung des Wilds, und doch war die Macht der Herrschenden fragil: Die Konflikte zwischen bäuerlicher Landwirtschaft und fürstlicher Jagd ziehen sich durch die Geschichte der Frühen Neuzeit. Staatliche Macht war stets an bestimmten Orten konzentriert, insbesondere in den Schlössern der Landesherren, und sie verringerte sich mit wachsender Distanz vom Sitz des Souveräns. Die Naturschutzgebiete, die seit dem späten 19. Jahrhundert oft in peripheren Regionen eingerichtet wurden, wären unter den Bedingungen des frühneuzeitlichen Staates eine leere Geste gewesen. Es gab einfach nicht die Mittel, dem Wort des Souveräns auf der gesamten Fläche Geltung zu verschaffen.
Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit der Eisenbahn und den Telegrafen gewannen Menschen und Informationen eine neuartige Mobilität, die Zentrale konnte auch abgelegene Regionen in einer Weise kontrollieren, die in früheren Zeiten schon am Tempo der Postkutschen gescheitert wäre, Amtsinhaber wurden zunehmend nach Befähigung und Qualifikation ausgewählt und nicht bloß aufgrund ihrer adligen Herkunft, und zunehmend verfügte der Staat auch über die finanziellen Mittel für einen großen Beamtenapparat, der den Buchstaben des Gesetzes Geltung verschaffte. Für den US-amerikanischen Historiker Charles Maier begann damit das "Zeitalter der Territorialität": Erstmals war die Autorität des Staates tatsächlich in allen Teilen des Landes präsent.
Der Naturschutz hatte deshalb in der politischen Realität von Anfang an einen autoritären Zug. Menschen, die zufällig in einem schutzwürdigen Gebiet lebten oder dort Grund und Boden besaßen, mussten bestenfalls mit Einschränkungen leben und wurden unter Umständen sogar vertrieben. Das Reichsnaturschutzgesetz, das die Nationalsozialisten 1935 erließen, erlaubte zum Schutz der Natur sogar entschädigungslose Enteignungen. Es löste einen kurzen aber hitzigen Boom des Naturschutzes aus, in dem die Grenzen dieser Ermächtigung ausgetestet wurden. Unterm Strich blieben die Erfolge in der NS-Zeit überschaubar, aber das Erreichte war letztlich weniger wichtig als die imaginierte Allmacht, die zu einer Generationenerfahrung wurde: Endlich hatte man mal so richtig durchgreifen können. Über die Sicht der betroffenen Grundeigentümer machte man sich hingegen keine großen Gedanken. Es ging ja um eine gute Sache.
Die Konflikte um Schutzgebiete eskalierten wohl zunächst nur deshalb nicht, weil das Vorgehen der Naturschützer nicht singulär war. Ähnlich agierte der Staat auch bei Eisenbahnlinien und Straßen, Staudämmen und Truppenübungsplätzen und all den anderen Dingen, die ein Staat der Industriemoderne für unverzichtbar hielt. Außerdem war die Zahl der Schutzgebiete lange Zeit noch überschaubar. Anfang der 1960er Jahre gab es weltweit lediglich 9.214 Schutzgebiete.
Von einem enggeknüpften Netz von Schutzgebieten konnte man deshalb um 1960 noch nicht einmal träumen. Faktisch gab es lediglich ein paar Naturschutzflecken, die vor dem Hintergrund des notorischen Flächenhungers moderner Gesellschaften nicht wirklich ins Gewicht fielen. Aber das änderte sich in den folgenden Jahren dramatisch. In den zwei Jahrzehnten von 1962 bis 1982 verdreifachte sich die Zahl der Schutzgebiete, und das Tempo nahm ständig zu. 1992 gab es weltweit 48.388 Schutzgebiete, 2003 waren es 102.102, und 2014 kam die globale Inventur auf 209.429 geschützte Gebiete. Insgesamt standen weltweit über 32,8 Millionen Quadratkilometer unter Naturschutz. In dieser Fläche kann man ein Land von der Größe Belgiens problemlos unterbringen, und zwar mehr als eintausend Mal.
Die Zeit um 1960 präsentiert sich insofern als eine Wasserscheide in der Geschichte des Natur- und Artenschutzes, die der Sattelzeit im 18. Jahrhundert an Bedeutung kaum nachsteht. Nicht zufällig entstanden in dieser Zeit auch die Roten Listen gefährdeter Arten, die heute aus der Diskussion über bedrohte Tiere und Pflanzen nicht wegzudenken sind. Mitte der 1960er Jahre entstand eine erste Loseblattsammlung für Säugetiere und Vögel, die unter der Ägide der International Union for Conservation of Nature (IUCN) herausgegeben wurden. In den folgenden Jahrzehnten erweiterten sich das Themenspektrum und die Zahl der gefährdeten Arten, und wer heutzutage die Internetseite der IUCN aufruft, liest in weißen Buchstaben auf rotem Grund, dass mehr als 30.000 Arten vom Aussterben bedroht sind.
Erfolgsgeschichte Artenschutz?
Wenn man lediglich auf die Zahlen schaut, ist der Aufstieg des Artenschutzes in den vergangenen Jahrzehnten geradezu schwindelerregend. Wo sich einst ein paar Ehrenamtliche aufrieben, regieren heute ganze Armeen von Wissenschaftlern und Beamten, die aufwendige Projekte zur Inventarisierung des biologischen Reichtums von Naturräumen umsetzen und komplizierte Regelungen für den schonenden Umgang mit der natürlichen Umwelt entwickeln und mit Leben füllen. Das stille Sterben findet heute unter intensiver Beobachtung eines wissenschaftlich-administrativen Komplexes statt, und doch wäre es kurzsichtig, diesen Umbruch lediglich als eine Erfolgsgeschichte von Politik, Verwaltung und Wissenschaft zu feiern. Der wissenschaftlich-administrative Komplex des Artenschutzes hat schließlich nicht nur eine enorme Macht und die Fähigkeit, tief in das Leben der Menschen in geschützten Gebieten einzugreifen, sondern auch ein beträchtliches Trägheitsmoment und eine Menge Nebenwirkungen.