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Jetzt oder nie | Natur- und Artenschutz | bpb.de

Natur- und Artenschutz Editorial Jetzt oder nie. Herausforderungen des globalen Biodiversitätsschutzes Von großen Zahlen, stillem Sterben und der Sprachlosigkeit der Menschheit. Eine kleine Geschichte des Artenschutzes Landwirtschaft und Naturschutz. Segregation oder Integration? Natur als Rechtssubjekt. Für eine ökologische Revolution des Rechts Vom Wert des Grashüpfers und dem Preis des Flächenverbrauchs. Chancen und Risiken der Ökonomisierung im Naturschutz Zum Verhältnis von Mensch und Natur

Jetzt oder nie Herausforderungen des globalen Biodiversitätsschutzes

Carmen Richerzhagen Jean Carlo Rodríguez de Francisco

/ 17 Minuten zu lesen

Der Verlust von Biodiversität ist eines der drängendsten Umweltprobleme. Die internationale Gemeinschaft hat in den vergangenen 30 Jahren zahlreiche Versuche unternommen, ihn zu stoppen, sie war jedoch nicht erfolgreich. Deshalb bedarf es dringend eines neuen Anlaufs.

Biodiversität, also die Vielfalt innerhalb einer Art, zwischen den Arten sowie von Ökosystemen, ist die Grundlage für menschliches Leben und nachhaltige Entwicklung. Ihr direkter Nutzen für den Menschen wird als "Ökosystemleistungen" bezeichnet. Biodiversität und Ökosystemleistungen sind von erheblicher Bedeutung für Landwirtschaft, Ernährung, Gesundheit und Energieversorgung. So nutzen zum Beispiel mehr als zwei Milliarden Menschen Holz als primäre Energiequelle, und vier Milliarden Menschen verwenden Pflanzen als Arzneimittel. Ferner reguliert Biodiversität andere Ökosystemleistungen wie die Bodenbildung, die Sauerstoffproduktion, den Nährstoffkreislauf und die Bestäubung, verhindert Erosion und wirkt bei der Schädlingsbekämpfung. Biodiversität ist für die Wasserversorgung und -sicherheit unerlässlich, da sie unter anderem bei der Bereitstellung von Trinkwasser, der Wasserreinigung, der Wasserrückhaltung, dem Hochwasserschutz und der Regenregulierung hilft. Genauso unterstützt Biodiversität die Klimaregulierung. Marine und terrestrische Ökosysteme tragen zur Minderung des atmosphärischen Kohlenstoffs bei, indem sie ihn aufnehmen und speichern. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass zum Beispiel biodiverse Wälder und Wiesen mehr Kohlenstoff speichern können als Monokulturen.

Lange stand der Schutz der Biodiversität als Thema im Schatten des Klimawandels, der mit seinen messbaren und oft fatalen Auswirkungen, wie dem Anstieg des Meeresspiegels und andauernden Dürren, unmittelbar Lebensbereiche des Menschen bedroht und somit für die Gesellschaft sichtbarer ist als der Rückgang der Biodiversität. Die noch komplexeren Zusammenhänge zwischen dem Biodiversitätsverlust, seinen Ursachen und den mittelbaren Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft sind demgegenüber weniger eingängig. Allein die Begriffe "Biodiversität", "Ökosystem" oder "Ökosystemleistungen" sind sehr naturwissenschaftlich-technisch geprägt. Biodiversität wird oft nur mit einzelnen "populären" Arten wie Bienen, Tigern und Walen verknüpft, und Politik und Medien greifen deshalb häufig auf vereinfachende Begriffe zurück, um zur Öffentlichkeit durchzudringen. So nennt beispielsweise das Bundesministerium für Bildung und Forschung seinen entsprechenden Forschungsschwerpunkt "Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt", auch wenn dort Forschung zu biologischer Vielfalt in seiner ganzen Breite gefördert wird. Doch mittlerweile scheint das Thema in der Mitte der Gesellschaft anzukommen.

Zunehmende öffentliche Wahrnehmung

Der Wissenschaft ist es in den vergangenen Jahren besser gelungen, Politik und Öffentlichkeit über den massiven Verlust von Biodiversität und die damit verbundenen verhängnisvollen Auswirkungen aufzuklären. Einen entscheidenden Beitrag dazu leistet der 2012 gegründete Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-policy Platform for Biodiversity and Ecosystem Services, IPBES) mit seinem Sekretariat in Bonn. Der Rat informiert politische Entscheidungsträger und die Gesellschaft über die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich Biodiversität und Ökosysteme. Diese Informationen sollen helfen, wissensbasierte Entscheidungen zu treffen.

2016 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat einen ersten umfassenden Bericht zum Thema "Bestäuber, Bestäubung und Nahrungsmittelproduktion", der weltweit für Aufsehen sorgte. Der Bericht legte dar, dass etwa drei Viertel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion von Bestäubern, wie zum Beispiel Insekten, Vögeln oder Fledermäusen, abhängen. Das entspricht einem jährlichen Marktwert von bis zu 530 Milliarden Euro. Einige der wirtschaftlich bedeutendsten Obstbäume, wie Apfel- und Birnbaum, Kirsch- und Mandelbaum, werden ausschließlich von Insekten bestäubt. Der Bericht zeigte aber auch, dass das Vorkommen und die Diversität dieser Bestäuber stark zurückgegangen sind. Die Rote Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzunion bestätigt, dass weltweit 16,5 Prozent der Bestäuber vom Aussterben bedroht sind, in manchen Gegenden sind es sogar 40 Prozent.

In Deutschland sieht es noch schlechter aus: Ende 2017 wurde die sogenannte Krefelder Studie veröffentlicht, die einen dramatischen Rückgang von Insekten – 76 Prozent seit 1990 – in Naturschutzgebieten in Deutschland belegte und damit das Thema Insektenschwund hierzulande auf die politische Tagesordnung brachte.

2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat das "Globale Assessment zu Biodiversität und Ökosystemleistungen" – ein Zustandsbericht, der den dramatischen Status und die zu erwartenden negativen Entwicklungen der Biodiversität und der Ökosysteme beschreibt. Die Studie zeigte, dass bereits eine Million der erfassten Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind: mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, fast 33 Prozent der riffbildenden Korallen und mehr als ein Drittel aller Meeressäugetiere. Zudem sei die Rate des Aussterbens mindestens 10 bis 100 Mal höher als im Durchschnitt der vergangenen 10 Millionen Jahre. Die Natur allgemein sei in einem so schlechten Zustand, dass ihre Fähigkeit, Umweltprozesse zu regulieren, weltweit dramatisch abgenommen habe. 75 Prozent der Landoberfläche seien degradiert, 66 Prozent der Meeresfläche stark verändert, und über 85 Prozent der Feuchtgebiete bereits verloren gegangen.

Dank der besseren Aufbereitung und Kommunikation der Erkenntnisse stehen Politik und Gesellschaft dem Thema Biodiversitätsschutz heute offener gegenüber. Der aktuellen Umweltbewusstseinsstudie des Bundesumweltministeriums zufolge haben die Themen Umwelt- und Klimaschutz insgesamt an Relevanz in der deutschen Gesellschaft gewonnen. 64 Prozent der Befragten sehen Umwelt- und Klimaschutz direkt nach den Themen Bildung und soziale Gerechtigkeit als Deutschlands größte Herausforderung an. Bei den 14- bis 19-Jährigen sind es sogar 78 Prozent. Mehr als 90 Prozent schätzen den Zustand der Umwelt weltweit als schlecht ein, und mehr als 80 Prozent der Befragten denken, dass die Bundesregierung sich nicht genügend für den Umwelt- und Klimaschutz einsetzt. Dieses Bewusstsein schlägt sich in Handeln nieder: In Bayern haben 2019 mehr als 1,7 Millionen Bürger*innen das Volksbegehren mit dem Motto "Rettet die Bienen" unterstützt und damit eine Reform des bayerischen Naturschutzgesetzes angestoßen. Ähnliche Initiativen wurden auch in anderen Bundesländern gestartet.

Treiber des Biodiversitätsverlustes

Das wachsende Problembewusstsein und die steigende Handlungsbereitschaft in der Breite der Bevölkerung sind überfällige Entwicklungen, denn es ist der Mensch, der für den dramatischen Verlust von Biodiversität und die Veränderung von Ökosystemen verantwortlich ist.

Man unterscheidet zwischen direkten und indirekten Treibern des Biodiversitätsverlustes. Beispiele für direkte Treiber sind die Zerstörung von Lebensräumen etwa durch Entwaldung und Landnutzungsänderungen, der Klimawandel, Verschmutzung beispielsweise durch Nährstoffeintrag, Übernutzung etwa durch Landwirtschaft und Fischerei sowie die Einführung invasiver Arten, die einheimische Arten verdrängen.

Indirekte Faktoren, die den Verlust von Biodiversität antreiben, sind die demografische Entwicklung, wirtschaftliche Aktivitäten, internationaler Handel, Konsummuster, kulturelle Faktoren sowie wissenschaftlicher und technologischer Wandel. Indirekte Treiber wirken vor allem durch die Menge an Ressourcen, die durch Menschen genutzt oder verbraucht werden. So bewirken zum Beispiel Bevölkerungswachstum und höherer Pro-Kopf-Verbrauch einen Anstieg der Nachfrage nach Energie, Wasser, Land und Nahrung. Die gesteigerte Nachfrage wiederum wirkt auf die direkten Treiber wie zum Beispiel Entwaldung, weil neue Flächen für die landwirtschaftliche Produktion geschaffen werden müssen. Kulturelle Faktoren, die den Biodiversitätsverlust vorantreiben, sind zum Beispiel die Nachfrage nach Nashornhörnern und Haifischflossen, die in der traditionellen asiatischen Medizin verwendet werden. Durch mehr Elektronik- und andere Abfälle oder die erhöhte Nachfrage nach Rohstoffen für neue Technologien können auch technologische Innovationen zum Verlust von Biodiversität beitragen.

All diese Treiber haben in den vergangenen Jahrzehnten global den Druck auf Biodiversität erhöht: Die Weltbevölkerung hat sich seit 1970 verdoppelt, der internationale Handel hat deutlich zugenommen, der Pro-Kopf-Konsum ist gestiegen und die Wirtschaft ist massiv gewachsen. In Deutschland setzen insbesondere eine intensive Landwirtschaft mit hohem Nährstoffeintrag und der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, die Zerschneidung und Zersiedelung der Landschaft sowie die Versiegelung von Flächen durch den Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflächen die Biodiversität unter Druck.

Bemühungen zum Biodiversitätsschutz

Sowohl international als auch national gibt es eine Vielzahl von Strategien und Programmen, die sich aufeinander beziehen und alle das Ziel haben, den dramatischen Verlust von Biodiversität zu stoppen.

Internationale Gemeinschaft

Diskussionen um den Schutz von Biodiversität stehen bereits seit den 1970er und 1980er Jahren international auf der politischen Agenda und resultierten 1992 in der Verabschiedung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt der Vereinten Nationen. Mit diesem Übereinkommen, auch "Biodiversitätskonvention" genannt, hat sich die internationale Gemeinschaft drei Ziele gesetzt: erstens Biodiversität zu schützen, zweitens Biodiversität nachhaltig zu nutzen und drittens die Vorteile der Nutzung genetischer Ressourcen fair und gerecht zu teilen.

Das Übereinkommen wurde im Rahmen der Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung verabschiedet und orientiert sich stark an den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit: wirtschaftlich, sozial und ökologisch. Damit verfolgt es einen ganzheitlichen Ansatz und geht über klassische Schutzansätze hinaus. Das Übereinkommen zählt heute 196 Vertragsparteien, nur die Vereinigten Staaten sowie der Vatikan haben es nicht ratifiziert. Die USA lehnen eine Ratifizierung vor allem wegen des dritten Ziels des Übereinkommens entschieden ab, da sie Zahlungsforderungen an die US-amerikanische Biotechnologieindustrie befürchten.

Wie die UN-Klimakonvention ist auch die Biodiversitätskonvention dynamisch. Im Abstand von zwei Jahren treffen sich die Vertragsstaaten zu Vertragsstaatenkonferenzen, um den Stand der Umsetzung der Ziele des Übereinkommens zu diskutieren beziehungsweise deren Umsetzung voranzutreiben. Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Industrie können als Beobachter*innen teilnehmen. Den Konferenzen geht üblicherweise ein längerer Verhandlungsprozess voraus, um die Entscheidungsfindung während der Konferenz, die nach dem Konsensprinzip erfolgt, zu unterstützen. Die Vorbereitung der Konferenzen wird durch eine Reihe von thematischen Arbeitsgruppen unterstützt, beispielsweise zu Schutzgebieten.

Anfang der 2000er Jahre erkannte die internationale Gemeinschaft, dass das Übereinkommen kaum zu Erfolgen geführt hatte: Der Verlust der Biodiversität schritt unvermindert voran. Als Reaktion darauf wurde während der sechsten Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag im April 2002 das sogenannte 2010-Ziel verabschiedet, mit dem sich die Vertragsstaaten der Biodiversitätskonvention verpflichteten, den Verlust von Biodiversität bis 2010 global, regional und national als einen Beitrag zur Armutsbekämpfung und zum Wohle aller signifikant zu reduzieren. Dieses Ziel wurde im August 2002 während des Nachhaltigkeitsgipfels in Johannesburg noch einmal bekräftigt und in der Folge nachträglich in den Katalog der Millenniumsentwicklungsziele aufgenommen. Aber auch die folgenden zehn Jahre reichten nicht aus, um den Verlust der Biodiversität aufzuhalten. Das 2010-Ziel wurde eindeutig verfehlt.

Dies nahmen die Vertragsstaaten zum Anlass, 2010 auf der zehnten Vertragsstaatenkonferenz im japanischen Nagoya in der Präfektur Aichi den "Strategischen Plan 2011–2020" und 20 Biodiversitätsziele ("Aichi-Ziele") zu entwickeln, in der Hoffnung, endlich eine Trendwende zu erreichen. Im Strategischen Plan wurde die Vision formuliert, dass die Menschheit in Harmonie mit der Natur leben und bis 2050 Biodiversität geschätzt, erhalten, instandgesetzt und nachhaltig genutzt sein solle. Die Aichi-Ziele sind 20 relativ konkrete, teilweise mit Indikatoren hinterlegte und somit messbare Ziele. Ziel 1 lautet, dass sich bis 2020 die Menschen des Wertes der Biodiversität bewusst sind sowie der Schritte, die sie zu ihrer Erhaltung und nachhaltigen Nutzung ergreifen müssen. Ziel 5 besagt, dass bis 2020 die Verlustrate aller natürlichen Lebensräume einschließlich Wäldern mindestens um die Hälfte und, soweit möglich, auf nahe Null reduziert werden soll. Ziel 11 fordert, bis 2020 mindestens 17 Prozent der Land- und Binnenwassergebiete und 10 Prozent der Küsten- und Meeresgebiete durch die Ausweisung von Schutzgebieten zu schützen.

Um die Erreichung des Strategischen Plans und der Aichi-Ziele zu unterstützen, riefen die Vereinten Nationen das Jahrzehnt von 2011 bis 2020 zur "UN-Dekade Biologische Vielfalt" aus. In vielen Ländern wurden in diesem Rahmen zahlreiche Aktionen zum Biodiversitätsschutz durchgeführt. Auch in den 2015 auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung verabschiedeten globalen Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen wurde der Biodiversitätsschutz verankert: Zwei der 17 Nachhaltigkeitsziele, Ziel 14 – Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen – und Ziel 15 – Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern –, beziehen sich unmittelbar auf Biodiversität.

Deutschland

In Deutschland wurde 2007 unter Federführung des Bundesumweltministeriums die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt zur Umsetzung der Biodiversitätskonventionen beschlossen. Deutschland war 2008 Gastgeber der neunten Vertragsstaatenkonferenz, und die Verabschiedung einer eigenen Biodiversitätsstrategie war ein wichtiges Signal. Auch sie hatte zum Ziel, bis 2020 den Rückgang der Biodiversität aufzuhalten.

Seit 2011 wird die Umsetzung der Strategie durch das Bundesprogramm Biologische Vielfalt unterstützt, das gezielt innovative und modellhafte Projekte fördert, die den Schutz der Biodiversität anstreben. Das Fördervolumen ist von 15 Millionen Euro 2015 auf 45 Millionen Euro 2020 angestiegen. Seit 2015 wird die Nationale Strategie ferner durch die Naturschutz-Offensive 2020 unterstützt, nachdem ein Indikatorenbericht 2014 belegte, dass die ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichten, um das 2020-Ziel in Deutschland zu erreichen, und auch keine Trendwende eingeleitet worden war. Die Offensive formuliert zehn Handlungsfelder, wie Äcker und Wiesen sowie Küsten und Meere, die prioritär zu behandeln sind.

In Reaktion auf die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, unter anderem die "Krefelder Studie", hat die Bundesregierung 2019 ein Aktionsprogramm zum Insektenschutz verabschiedet. Im Rahmen des Aktionsprogramms soll durch ein Insektenschutzgesetz, durch höhere finanzielle Mittel für Forschung und Insektenschutz sowie durch strengere Auflagen bei der Anwendung von Pestiziden eine Trendumkehr beim Insektensterben erreicht werden.

Europäische Union

Auf europäischer Ebene wurde 2011 ebenfalls eine Biodiversitätsstrategie verabschiedet, die das internationale 2020-Ziel auf Europa überträgt. Die Strategie formuliert sechs Ziele zu Vögeln, Ökosystemen, Landwirtschaft, Wald, Fischerei und für einen globalen Schutz, die dazu beitragen sollen, den Verlust von Biodiversität aufzuhalten.

Auch im European Green Deal, der Strategie für klimaneutrales Wachstum für Europa, die 2019 von der neuen EU-Kommission vorgelegt wurde, ist Biodiversität als einer der sieben zu adressierenden Politikbereiche definiert. So nimmt sich die EU vor, im März 2020 eine neue ambitionierte Biodiversitätsstrategie vorzulegen und international bei den Verhandlungen über neue Schutzziele eine Schlüsselrolle zu spielen. Weiterhin sollen alle politischen Maßnahmen der EU in Zukunft zur Erhaltung und Wiederherstellung von Biodiversität in Europa beitragen. Insbesondere Landwirtschaft und Fischerei werden als zentrale Sektoren genannt.

Woran hakt es?

2020 wird erneut das globale Ziel, den Verlust von Biodiversität aufzuhalten, nicht erreicht werden. Bereits 2014 äußerten Wissenschaftler*innen Zweifel, dass ein Erreichen überhaupt noch möglich sei. Eine Studie verschiedener Nichtregierungsorganisationen attestierte 2016 nur fünf Prozent der Vertragsstaaten, auf einem guten Weg zu sein, die Aichi-Ziele zu erreichen. 75 Prozent der Länder machten zwar Fortschritte, aber in keinem Land waren diese so ausgeprägt, dass sie dem 2020-Ziel auch nur nahe kamen. 20 Prozent der Länder konnten überhaupt keine Fortschritte im Biodiversitätsschutz vorweisen.

International gibt es die Bereitschaft, sich auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz im Oktober 2020 in Kunming in China wieder auf ein neues Ziel zu einigen. Unter dem Stichwort "Post-2020 Framework" wird schon seit einigen Monaten in einer Arbeitsgruppe diskutiert und über mögliche Inhalte verhandelt. Seit Januar 2020 liegt ein erster Entwurf vor, der zeigt, wie eine neue Strategie zum globalen Schutz von Biodiversität aussehen könnte. Kernstück des Entwurfs ist eine Theorie des Wandels. Biodiversitätsschutz wird nicht als eine sektorale oder zwischensektorale Herausforderung verstanden, sondern der Entwurf legt dar, dass die gelebten wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Modelle transformiert werden müssen, um den Verlust von Biodiversität zu stoppen. Damit geht der neue Vorschlag weiter als seine Vorgänger. Dennoch enthält das Dokument wieder eine Reihe von Zielen und Unterzielen, ohne viel darüber auszusagen, wie diese erreicht werden sollen.

Es stellt sich die Frage, was ein neues Zielsystem bewirken kann, wenn bisher so wenig erreicht wurde. An konkreten Zielen hat es bisher nicht gemangelt. Trotz all der Strategien, Gesetze und Förderprogramme, ob auf internationaler, europäischer oder nationaler Ebene, ist der Verlust von Biodiversität nicht aufzuhalten. Woran liegt das?

Erstens findet keine ambitionierte Umsetzung der gesteckten Ziele statt. Das zeigt sich beispielsweise bei der Finanzierung der Schutzmaßnahmen. Es wird geschätzt, dass etwa 150 bis 440 Milliarden US-Dollar pro Jahr nötig sind, um die ambitionierten Aichi-Ziele zu erreichen. Die jährlich bereitgestellten Mittel bleiben allerdings deutlich dahinter zurück. 2015 beliefen sich die Posten für nationale Biodiversitätsschutzmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten der Vertragsstaaten auf zusammengerechnet rund 49 Milliarden US-Dollar. Ein Verfehlen der Ziele und Strategien hat keinerlei Konsequenzen. Zwar gibt es im Rahmen der Biodiversitätskonvention verschiedene Instrumente zur Rechenschaftslegung und Fortschrittskontrolle. So haben sich die Vertragsstaaten 2010 verpflichtet, Biodiversitätsstrategien und Aktionspläne zu implementieren und dies dem Sekretariat der Biodiversitätskonvention zu berichten, dem 191 Länder bis heute mindestens einmal nachgekommen sind. Ferner müssen die Vertragsstaaten in regelmäßigen Abständen nationale Berichte zum Umsetzungsstatus einreichen. Der sechste Nationale Bericht war Ende 2018 fällig und wurde von 85 Ländern eingereicht. Aber letztendlich handelt es sich bei der Biodiversitätskonvention um freiwillige Vereinbarungen, sodass im Falle der Nichteinhaltung keine Sanktionsmechanismen greifen.

Zweitens fallen, auch wenn der Schutz von Biodiversität grundsätzlich von der Gesellschaft für wichtig erachtet wird, individuelle Entscheidungen oft nicht im Sinne der Biodiversität aus. Das kann verschiedene Gründe haben. Verhaltensänderungen bedingen oft größere Einschnitte in den Lebensalltag, etwa höhere Kosten oder mehr Zeitaufwand, und werden deshalb abgelehnt. Nutzungseinschränkungen werden teilweise sogar als freiheitseinschränkend wahrgenommen. Manchmal ist es aber auch schlicht die Unkenntnis von verschiedenen Kausalzusammenhängen, die Menschen an eingeübten Verhaltensweisen festhalten lassen.

Drittens wird der Nutzen der biologischen Vielfalt für die Gesellschaft als Ganzes nicht ausreichend anerkannt oder berücksichtigt. Eine Vielzahl von Studien, insbesondere die der Initiative The Economics of Ecosystems and Biodiversity (TEEB) oder des Projekts Naturkapital Deutschland, haben versucht, durch eine ökonomische Perspektive die Leistungen der Biodiversität monetär sichtbar zu machen. Dies kann aber nur ein Baustein sein. Aus der Erkenntnis heraus, dass Biodiversität nicht auf einen ökonomischen Wert reduziert werden kann, ist es vielmehr wichtig, dass nicht der unmittelbare wirtschaftliche Gewinn durch die Biodiversität in den Vordergrund gestellt wird, sondern der langfristige Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung für die Gesellschaft.

Viertens funktioniert die Fokussierung auf technisch-ökonomische Lösungen beim Schutz von Biodiversität nicht. Die Zusammenhänge zwischen dem Verlust von Biodiversität und ihren Ursachen sind sehr komplex. Einfache technische Lösungen sind nicht anwendbar, und ökonomische Instrumente kommen schnell an ihre Grenzen, wenn die tatsächlichen Kosten, die durch die Inanspruchnahme von Biodiversität entstehen, unberücksichtigt bleiben.

Fünftens wird der Zustand der Biodiversität stark von einer Vielzahl anderer Politikfelder beeinflusst, wie zum Beispiel der Agrarpolitik, der Siedlungs- und Verkehrspolitik oder auch der Verbraucherpolitik. In diesen Politikfeldern wird ein Rahmen definiert, in dem beispielsweise Entscheidungen über Landnutzung oder Konsum getroffen werden. Solange in diesen Politikfeldern der Schutz von Biodiversität keine Rolle spielt, kann nicht mit Erfolgen gerechnet werden.

Sechstens beeinflussen mächtige Akteursgruppen mit privatwirtschaftlichen Interessen durch Lobbyarbeit die Formulierung von Schutzzielen und die Umsetzung von Schutzmaßnahmen etwa in den Bereichen Landwirtschaft und Verkehr. Häufig verhindern sie so effektiven Biodiversitätsschutz.

Siebtens befindet sich ein Großteil der noch verbleibenden Biodiversität in Entwicklungs- und Schwellenländern, deren Etats für Umweltschutz und insbesondere für Biodiversitätsschutz oft sehr klein sind, sodass sie auf Unterstützung im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit angewiesen sind. Bisher werden seitens der Industrieländer nicht die nötigen finanziellen Mittel bereitgestellt, um biologische Vielfalt in diesen globalen Biodiversitätszentren zu schützen. Insgesamt ist jedoch ein Anstieg zu verzeichnen: 2017 wurden bilateral im Rahmen der Öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit 8,7 Milliarden US-Dollar in den Schutz von Biodiversität investiert. Das entspricht einem Plus von 15 Prozent im Vergleich zu 2016.

Ausblick

Die Zeit des Zögerns ist vorbei: Der alarmierende Zustand der Natur erfordert eine weitreichende Transformation hin zu einer Gesellschaft, die sich innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen entfaltet und damit Biodiversität und Ökosysteme schützt. Eine solche Transformation erfordert eine entscheidende Änderung von praktizierten Wirtschaftsweisen, Produktionsprozessen, Infrastrukturen und Konsummustern. Insbesondere muss das Paradigma eines dauerhaften Wirtschaftswachstums auf Grundlage der Übernutzung natürlicher Ressourcen aufgegeben werden. Wirtschaftliches Handeln muss mit den planetaren Belastungsgrenzen in Einklang gebracht werden. Langfristig sichert der Erhalt der Biodiversität die Lebensgrundlage der Menschen und ermöglicht eine nachhaltige Entwicklung. Im Zuge der Transformation müssen deshalb vielfältige Pfadabhängigkeiten überwunden werden. Kurzfristige nationale Interessen müssen zugunsten des globalen Gemeinwohls zurückgestellt werden.

Eine solche Transformation ist nur möglich, wenn politische Entscheidungen wissensbasiert erfolgen. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Ausmaß und Ursachen des Verlustes von Biodiversität sowie über den Wert von Biodiversität müssen stärker Eingang in politische Entscheidungsprozesse finden. Dazu muss die naturwissenschaftliche, aber auch die sozialwissenschaftliche Biodiversitätsforschung gestärkt werden. In wachsenden Teilen der Gesellschaft entwickelt sich eine positive Haltung zum Schutz der Umwelt und der Biodiversität. Die Politik sollte sich dem annehmen und mutige Maßnahmen zum Biodiversitätsschutz ergreifen und gleichzeitig die Bürger*innen im Rahmen von Diskussions- und Konsultationsformaten beteiligen. Strategien zum Schutz von Biodiversität müssen eindeutig definierte und messbare Ziele vorgeben, die überprüfbar sind und deren Nichteinhaltung Konsequenzen nach sich ziehen. Verantwortlichkeiten in Bezug auf die Umsetzung müssen klar geregelt und verantwortliche Ministerien und Behörden gestärkt werden. Biodiversitätsschutz erfordert eine sektorübergreifende Kooperation, Umweltministerien und Ministerien anderer Politikfelder wie Landwirtschaft und Verkehr sollten den Schutz von Biodiversität daher gemeinsam angehen. Fehlanreize in anderen Sektoren, zum Beispiel für eine intensive Landwirtschaft, sollten abgeschafft werden.

Deutschland hat hier 2020 eine besondere Verantwortung. Im zweiten Halbjahr hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne – genau dann, wenn auf internationaler Ebene die Weichen für den Schutz von Biodiversität für die nächsten 30 Jahre gestellt werden.

ist promovierte Agrar- und Umweltökonomin und arbeitet als Wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Sozial-ökologische Forschung, Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit, im DLR Projektträger in Bonn. E-Mail Link: carmen.richerzhagen@dlr.de

ist promovierter Umweltökonom und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprogramm Umwelt-Governance am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn.E-Mail Link: jean.rodriguez@die-gdi.de