Einleitung
Die Gewährleistung innerer Sicherheit steht im Zentrum des politischen Selbstverständnisses des modernen Staates. Es gehört zu dessen Kerngeschäft, eine objektiv stabile und subjektiv als stabil wahrgenommene soziale Ordnung zu garantieren. Die Sicherung des Gemeinwesens gegenüber inneren und äußeren Bedrohungen als Ziel des Regierens war von grundlegender Bedeutung bei der Herausbildung des Nationalstaates. Innere Sicherheit spielte als politischer Begriff auch eine maßgebliche Rolle bei der Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und fand bereits Eingang in die französische Verfassung von 1793. Thomas Hobbes machte die Lösung des Sicherheitsproblems im "Naturzustand" zum Prüfstein für die Frage nach der Herrschaftslegitimation.
Dementsprechend ist die gegenwärtige Situation gekennzeichnet durch eine Neu- und Umverteilung staatlicher Sicherheitsaufgaben. Ohne dass sich der Staat aus dem Prozess der Herstellung von Sicherheit und Sicherheitsgefühl völlig zurückzieht, überträgt er doch zunehmend Aufgaben an private Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Verbände und Vereine. Auch die Medien und die Bürgerinnen und Bürger sind längst nicht mehr bloße "Resonanzkörper" eines gesellschaftlichen Sicherheitsdiskurses, sondern aktiv gestaltende Akteure, die - bewusst und unbewusst - in den Prozess der Sicherheitsgewährleistung eingreifen.
Vieles von dem kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht eindeutig identifiziert und interpretiert werden. Und wo Diagnosenschon schwierig zu stellen sind, lassen sichPrognosen bekanntlich noch schwieriger abgeben. Aus der Vielzahl der unterschiedlichen Entwicklungen sollen hier diejenigen herausgegriffen und näher beleuchtet werden, die am ehesten als Vorboten eines sich abzeichnenden Paradigmenwechsels betrachtet werden können. In diesem Beitrag soll es weniger darum gehen, ein Gesamtbild dieser Veränderungs- und Anpassungsprozesse zu zeichnen als vielmehr darum, die Vielschichtigkeit, Verflochtenheit und Dynamik der momentan ablaufenden Umwälzungen zu skizzieren und Verbindungslinien zu ziehen. Es soll gezeigt werden, dass sich die Prozesse der Delegation, Expansion und Kooperation, die die aktuelle Sicherheitspolitik maßgeblich kennzeichnen, sich ihrerseits wiederum innerhalb einer zum Teil diffusen und ambivalenten Gemengelage von unterschiedlichen Entwicklungen vollziehen.
Expansion: Zwischen Entgrenzung und Entstrukturierung
Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer ist das politische Handlungsfeld der inneren Sicherheit unzweifelhaft in - teils hektisch-hysterische - Bewegung geraten. Denn damit verbunden verschwanden auch alte politische Feindbilder und institutionelle Selbstverständnisse. Militär und Geheimdienste mussten sich nach jahrzehntelang feststehender Aufgabenbeschreibung plötzlich völlig neu orientieren. Gleichzeitig galt es, sich auf neue Bedrohungen einzustellen, die mit der politischen und ökonomischen Öffnung der Grenzen nach dem Kalten Krieg auf den Nationalstaat zukamen und sich parallel zum rasanten Tempo der einsetzenden Globalisierung ausbreiteten. Wie die westliche Wirtschaft, die sich neue Vertriebswege, Produktionsstätten, Absatz- und Kapitalmärkte vorwiegend im osteuropäischen und südostasiatischen Raum erschloss, globalisierte sich auch das Verbrechen.
Und so scheinen die einst getrennten Bereiche der inneren und äußeren Sicherheit miteinander zu verschmelzen, um - so die politische Argumentation - dem international agierenden Terrorismus und Schwarzhandel etwas entgegensetzen zu können.
Die aus rechtsstaatlichen Gründen gezogenen und institutionell abgesicherten Grenzen zwischen Bundes- und Landespolizei, Verfassungsschutz und Geheimdienst werden mit dem gleichen Argumentationsmuster aufgeweicht, um den inter- und intrainstitutionellen Informations- und Datenaustausch zu verbessern und zu verstetigen. Diese sprichwörtliche Entgrenzung der Sicherheitskategorien führt dazu, dass zwischen nach Kompetenzen separierten Staatsaufgaben und Eingriffsmaßstäben nicht mehr trennscharf unterschieden wird. In der öffentlichen Debatte taucht der Begriff der "erweiterten Sicherheit", hinter dem sich eine Entgrenzung des militärischen Rollenverständnisses versteckt, immer häufiger auf. Es wird darüber diskutiert, ob das Militär zu Kampfhandlungen, die nicht mit der Landesverteidigung, ihren Pflichten innerhalb des NATO-Bündnisses oder der UNO-Mitgliedschaft in Zusammenhang stehen, ebenso eingesetzt werden soll wie zur Unterstützung von Polizeimaßnahmen bei Großereignissen wie der Fußball-WM 2006. Dieser normativ und politisch-psychologisch aufgeladene Begriff steht stellvertretend dafür, dass im Sicherheitsdiskurs unterschiedliche Bedrohungspotenziale wie Terrorismus, Umweltkatastrophen, organisierte Kriminalität oder politischer Radikalismus miteinander vermengt und primär mit sicherheitspolitischen - und nicht etwa mit entwicklungs-, umwelt-, wirtschafts- oder sozialpolitischen - Forderungen und Ansprüchen verknüpft werden.
Wie hilflos der Staat aber tatsächlich gegenüber diesen neuen, netzwerkartig operierenden und flaggenlosen nichtstaatlichen Feinden ist, zeigt die Reaktion der Weltmacht USA, die sich ungeachtet dieser Kenntnisse für einen Krieg gegen Nationalstaaten entschied.
Bei der Bereitstellung von Sicherheitsleistungen rückt - neben den erwähnten Kosten-Nutzen-Überlegungen - auch die Notwendigkeit einer Erweiterung der staatlichen Kontroll- und Überwachungsfunktionen wieder stärker in den Vordergrund. Dabei lässt sich nicht nur eine intensivierte Anwendung des traditionellen Instrumentariums des Staates konstatieren, sondern auch eine Extensivierung der Überwachung und Kontrolle durch "Kustodialisierung".
Delegation: Zwischen Kommunalisierung und Kommunitarisierung
Die Veränderungen im Politikfeld Innere Sicherheit spätestens seit 9/11 lassen sich auch als "Re-Organisation" fassen.
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Re-Organisation ist die Re-Kommunalisierung der Polizeiarbeit.
Auch die Kommune als Ort der politischen Entscheidung und des unmittelbaren Umsetzungsbezuges erfährt bei der Erledigung von Sicherheitsaufgaben eine völlig neue Bedeutung. Das Bewusstsein, dass die Polizei als alleiniger Akteur sowohl im Hinblick auf die ihr tatsächlich zugewiesenen Aufgaben als auch bezüglich ihrer rechtsstaatlich verankerten Handlungschancen überfordert ist, schuf die Voraussetzungen für eine (Neu-)Etablierung kommunaler Sicherheitspolitik. In den Großstädten als den verdichteten Räumen sozialen Wandels wird dieser Vorgang besonders sichtbar. Hier ist der sicherheits- und ordnungspolitische Handlungsbedarf kontinuierlich angestiegen, und es lastet ein größerer Problemdruck hinsichtlich der Bekämpfung und Vorbeugung von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht auf den Entscheidungsträgern als in Mittel- und Kleinstädten. Allein aufgrund des Umfangs der Aufgaben existieren zudem viel mehr Anknüpfungspunkte für Um- und Neuregulationen. Im Wettbewerb um finanzkräftige Bürger und Investoren, auf welche die Kommunen angewiesen sind, gewinnt der Standortfaktor der öffentlichen Sicherheit und Ordnung an Stellenwert. Ausgaben für die öffentliche Sicherheit und Ordnung werden als notwendige Investitionen für die Attraktivitätssteigerung und Imagepflege der Stadt verstanden. Die kommunale Sicherheitspolitik wird Teil einer postmodernen Standortpolitik.
Somit ist unschwer zu erkennen, dass die Herstellung von Sicherheit in zunehmendem Maße lokal kontextabhängig wird. Das bedeutet, dass sich die polizeiliche Arbeit dem Produktionsmodus "Sicherheiten statt Sicherheit" durch eine forcierte kommunale Einbindung immer weiter annähert.
Weiterhin ist auffällig, dass der Diskurs über die Deregulierungsstrategien sowohl mit den neoliberalen Diskursen zur individuellen Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger für ihren Selbstschutz und zur Entlastung von traditionellen Ansprüchen an den Staat verbunden wird als auch mit den kommunitaristischen Diskursen nach sozialer Gerechtigkeit und gemeinschaftsbezogener Verantwortung. Kriminalität und die zur Verunsicherung der Bürgerschaft ebenfalls beitragenden, aber unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegenden Unzivilisiertheiten des täglichen Umgangs miteinander im öffentlichen Raum werden von den Kommunitaristen auch als Folge von Entsolidarisierung, Werteverfall, Legitimations- und Sinnkrisen gewertet. Die Rückbesinnung auf die Bedeutung und den Wert der Gemeinschaft ist daszentrale Anliegen des Kommunitarismus, der für die Überwindung der Krise auf eine gemeinwohlorientierte Politik und auf dieSelbstheilungskräfte der "Community" setzt.
Kooperation: Zwischen Verflechtung und Vereinnahmung
Über die Appelle an die Selbst- und Mitverantwortung der Bürgerinnen und Bürger hinaus werden diese vermehrt als Co-Produzenten bei der staatlichen Erbringung von Sicherheit herangezogen. Die eher konservativ geprägte bayrische "Sicherheitswacht" und die eher kommunitaristisch geprägte brandenburgische "Sicherheitspartnerschaft" sind zwei Modelle, die - wie schon am Namen deutlich wird - unterschiedliche Formen der Bürgereinbindung realisieren. Während dem Sicherheitswächter, der als "Hilfspolizist" weisungsgebunden ist, lediglich ein institutionell-eingekapselter Handlungsrahmen zur Verfügung steht, kann der Sicherheitspartner, der ohne Anbindung an die Polizei und das Legalitätsprinzip autonom agieren kann, intermediär-vielgestaltig aktiv werden.
In Deutschland spielt die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Sicherheitsbereitstellung jedoch eine eher untergeordnete Rolle. Dafür rückt die Kooperation der einzelnen Akteure immer stärker ins Blickfeld. Sie ist kein Nebenprodukt, sondern vielfach intendierte Folge von Delegationsmaßnahmen, die damit die durch die Entregulierung aufgerissene Lücke wieder schließt. So sind im Laufe der vergangenen Jahre zahlreiche Kooperationsmodelle in die Praxis umgesetzt worden - von Bundesland zu Bundesland, von Kommune zu Kommune mit sehr unterschiedlichem Konzept und Erfolg. Das Kooperationsprinzip ist inzwischen zur neuen Leitlinie kommunalen Verwaltungshandelns avanciert. Die Stadtverwaltung ist bemüht, die Koordination der Maßnahmen und die Verflechtung der Akteure gezielt voranzutreiben, und wandelt sich so zu einer aktiv vermittelnden Instanz zwischen Staat und Bürger. Damit steht auch die Vorstellung von traditionellen Ressortgrenzen innerhalb der Verwaltung und vom klassischen Rollenverhältnis Bürger-Staat zunehmend zur Disposition.
Für den Bereich der kommunalen Sicherheit ist das amerikanische Konzept des "community policing" Vorbild für diesen Wandel. Um der steigenden Kriminalität und Kriminalitätsfurcht effizient und präventiv begegnen zu können, ist - so der Kern von "community policing" - eine zielgerichtete Co-Produktion von Sicherheit durch gezielte Kooperation der Polizei mit der Bürgerschaft, aber auch mit der Kommunalverwaltung notwendig. Neben den Sicherheitspartnerschaften haben sich zwischen Polizei und Ordnungsamt - allein in Nordrhein-Westfalen inzwischen rund 1.000 - "Ordnungspartnerschaften" gebildet, die sich gegenseitig über Vorfälle informieren, ihre Maßnahmen abstimmen und gemeinsame Aktionen planen und durchführen.
Auch diese Entwicklung ist Teil der Re-Organisation des Politikfeldes Innere Sicherheit. Vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen des Dritten Reiches, wo Gestapo, Polizei, SS, SA und Wehrmacht eine verheerende Symbiose eingingen, nahmen die Alliierten im Zuge des Wiederaufbaus von Deutschland eine "Gewaltenteilung in der Sicherheitsverwaltung" vor.
Eine Schlüsselrolle innerhalb der kommunalen Sicherheitspolitik nehmen kommunale Präventionsgremien ein, in denen die Akteure ihre Maßnahmen abstimmen und bündeln, in denen "kurze Dienstwege" gefunden und genutzt werden, in denen aber auch alte konkurrierende Arrangements und institutionelle Ressentiments fortbestehen und sich neue Asymmetrien in den Kooperationsbeziehungen und bei der Problemdefinition und -lösung einstellen können.
Diese "innerbürokratischen Konsultationsgremien", die die institutionalisierte Ordnungsidee der kommunalen Kriminalprävention repräsentieren, sind - wie auch die meisten anderen genannten präventiven Institutionen - mit politischer Symbolik aufgeladen.
Fazit: Fortschreitende Hybridisierung staatlicher und privater Sicherheitspolitik
Innere Sicherheit kann somit durchaus als eine im stetigen Wachsen und Wandel befindliche Hybride angesehen werden. Bei der Produktion und Gewährleistung von Sicherheit wirken in den vergangenen Jahren immer mehr Akteure mit. Die Grenze zwischen öffentlichen und privaten, staatlichen und gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern wird durchlässiger. Prozesse von De- und Neuregulierung sind ebenso zu beobachten wie Steuerungsversuche von oben nach unten neben solchen in umgekehrter Richtung. Das Produkt des teils kollektiven, teils separaten Zusammenwirkens von privater und staatlicher Seite stellt immer mehr das dar, was zuvor als Kernaufgabe des hoheitlichen Staates betrachtet wurde.
Es ist allerdings fraglich, ob durch das Zusammenfügen der hier nur kursorisch aufgezählten Doppel- und Mehrfachlösungen für die gleiche Funktion (nämlich Sicherheit) tatsächlich mehr erwünschte als unerwünschte Innovationen hervorgebracht werden. Fraglich ist auch, wie die verstärkte und neuartige Präsenz des Nationalstaates trotz seiner offensichtlich abnehmenden Steuerungsfähigkeit zu interpretieren ist. Ist er nur noch ein Akteur unter vielen, ist er immer noch der zentrale Akteur oder vielleicht eine Art "Dompteur" eines Netzwerks von Akteuren? Oder spiegelt sich darin bereits der "Trend von der staatlichen Gesellschaftsstabilisierung zur staatlich garantierten gesellschaftlichen Selbststabilisierung"
Eine Beantwortung solcher Fragen ist derzeit schwierig und allenfalls vorläufig. Die vielen Veränderungen hinsichtlich der Kommunizierung, der Institutionalisierung und der Legitimierung von innerer Sicherheit haben dazu geführt, dass die Struktur und Kultur der Sicherheitsherstellung und -gewährleistung neue Formen und Farben angenommen haben. Noch schimmern und schillern diese Formen und Farben sehr unterschiedlich und ambivalent, und es sind viele Unschärfen der Entwicklungsrichtung zu finden.
So zeichnet sich etwa im Bereich des Jugend- und Erwachsenenstrafrechts eine Divergenz zwischen einerseits zunehmender formeller Kriminalisierung und Strafverschärfung und andererseits informeller Entkriminalisierung ab. Bisherige informelle Beziehungen zwischen den Akteuren im Handlungsfeld der inneren Sicherheit werden an einer Stelle institutionalisiert, an anderer Stelle entformalisieren sich die Arbeits- und Kooperationsbeziehungen. Delegationsprozesse können zunächst einen Verlust von staatlicher Kontrolle bedeuten, aber auch neue Kooperationserfordernisse auslösen, die wiederum der Sicherheitspolitik neue Expansionsmöglichkeiten eröffnen. Die beiden Entwicklungsstränge - "mehr Staat" auf der einen, "weniger Staat" auf der anderen Seite - bilden keine Gegenpole, sondern ergänzen und verdichten sich vielmehr zu einer "oligopolistisch-präventiven Sicherheitsordnung".