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Die deutsche Wirtschaftspolitik am Scheideweg | bpb.de

Die deutsche Wirtschaftspolitik am Scheideweg

Eckhard Hein Achim Truger Achim Eckhard Hein / Truger

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Die wesentlichen Ursachen der deutschen Stagnation von 2001 bis 2005 sind nicht in überregulierten Arbeitsmärkten und beschäftigungsfeindlichen sozialen Sicherungssystemen zu suchen. Eine Fortsetzung der Politik der Strukturreformen würde daher die wirtschaftliche Entwicklung erneut destabilisieren.

Einleitung

Schon seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die deutsche Wirtschaft erheblich schlechter entwickelt als die Wirtschaft des Euroraumes insgesamt. Ins öffentliche Bewusstsein gelangte dieses Zurückbleiben jedoch erst verstärkt nach dem Wachstumseinbruch 2000/2001. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) wies von 2001 bis 2005 nur geringe, zum Teil sogar negative Wachstumsraten auf. Die ökonomische Stagnation führte zu einer erheblichen Radikalisierung der wirtschaftspolitischen Debatte. Die weit überwiegende Mehrheit der deutschen Ökonomen, Journalisten und Wirtschaftsvertreter behauptete, Deutschland stecke in einer tiefen "strukturellen Krise", die durch überregulierte Arbeitsmärkte und beschäftigungsfeindliche soziale Sicherungssysteme verursacht sei. Radikale "strukturelle" Reformen erschienen demgemäß als einziger Ausweg aus der Krise.



Die Vertreter radikaler Reformen setzten sich spätestens in der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Bundesregierung mit der Verabschiedung der AGENDA 2010 und der Hartz-Gesetze auch wirtschaftspolitisch durch. Eine Abkehr von dieser Politik ist mit der seit Ende 2005 regierenden großen Koalition nicht erfolgt.

Im Jahr 2006 hat Deutschland zwar einen unerwartet starken Aufschwung erlebt. Im internationalen Vergleich wuchs die deutsche Wirtschaft in etwa mit dem Tempo der Wirtschaft des gesamten Euroraums. Allerdings, so wird weiterhin gemahnt, dürfe man nun mit den Reformanstrengungen nicht nachlassen, um die Früchte der vergangenen Bemühungen und Einschränkungen nicht zu gefährden. Diese Sichtweise ist erstaunlich, und sie ist, sollte sie wirtschaftspolitische Konsequenzen haben, gefährlich. Sie ist erstaunlich, weil nicht danach gefragt wird, warum denn die Wirtschaft in Deutschland fünf Jahre lang mehr oder minder stagnierte, während sich jene eines Großteils des Euroraums, aber auch so unterschiedlicher Länder wie Großbritannien, Schweden und der USA sich nach dem Wachstumseinbruch 2000/2001 sehr schnell wieder erholte und deutlich höhere Wachstumsraten und geringere Arbeitslosenquoten als Deutschland aufwies. Und eine solche Sichtweise ist gefährlich, weil eine Fortsetzung der Politik "struktureller Reformen" droht, die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland erneut zu belasten.

In diesem Beitrag stellen wir die Diagnose der "strukturellen Verkrustung" der deutschen Wirtschaft und die daraus abgeleitete Strategie der "strukturellen Reformen" in Frage. Aus unserer Sicht lässt sich die deutsche Stagnation von 2001 bis 2005 nämlich nicht durch mangelnde oder zu spät einsetzende strukturelle Reformen auf dem Arbeitsmarkt und bei den sozialen Sicherungssystemen erklären, sondern nur durch ein makroökonomisches Missmanagement, d.h. durch eine verfehlte Ausrichtung der Geld-, Lohn- und Finanzpolitik, die zum Teil durch die europäische Ebene (Europäische Zentralbank (EZB), Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP)) erzwungen, und zu einem anderen Teil durch den falschen deutschen Reformeifer begünstigt wurde.

Deutschlands Stagnation von 2001 bis 2005

Im Vergleich zum Durchschnitt des Euroraums und zu den USA war Deutschland durch den Wachstumseinbruch 2000/2001 besonders stark betroffen (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version). Während sich das durchschnittliche jährliche reale BIP-Wachstum des Euroraums (einschließlich Deutschland) in der Zeit von 2001 bis 2005 auf 1,4 Prozent belief und damit deutlich hinter den USA zurückblieb, erreichte Deutschland mit jährlich durchschnittlich 0,7 Prozent gerade einmal die Hälfte des Euroraum-Wachstums.

Anders als im Euroraum insgesamt wurde das schwache deutsche Wachstum ausschließlich durch den Exportüberschuss getragen. Der Wachstumsbeitrag der Inlandsnachfrage war im Durchschnitt von 2001 bis 2005 negativ. Insgesamt zeichnete sich die deutsche Wirtschaft also durch eine hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit einerseits und eine erhebliche Binnennachfrageschwäche andererseits aus. Wegen des geringen Wachstums ist die Beschäftigung in Deutschland im Durchschnitt von 2001 bis 2005 zurückgegangen, wohingegen es im Euroraum und in den USA zu einer Beschäftigungsnachfrage kam. Die deutsche Arbeitslosenquote, die bis 2002 immer unter dem Euroraum-Durchschnitt gelegen hatte, liegt seither darüber. Die deutsche Inflation hingegen befand sich wie schon seit Mitte der 1990er Jahre deutlich unter dem Euroraum-Durchschnitt.

Reformstau?

Für die meisten deutschen Ökonomen ist die Erklärung der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme hierzulande klar und einfach: Rigide und überregulierte Arbeitsmärkte sowie beschäftigungsfeindliche soziale Sicherungssysteme seien für die deutsche Krise verantwortlich. Diese Sichtweise basiert auf einem einfachen neoklassischen Modell: (Dauerhafte) Arbeitslosigkeit kann demnach nur durch Störungen des Arbeitsmarktes verursacht sein, die die Herausbildung eines Markt räumenden Reallohnsatzes verhindern. Kollektive Lohnverhandlungen (z.B. Flächentarifverträge), Arbeitsmarktregulierungen (z.B. Kündigungsschutz, Mindestlöhne) und die sozialen Sicherungssysteme (z.B. Lohnersatzleistungen, Steuer- und Abgabenkeil) werden als Ursachen für dauerhafte Arbeitslosigkeit und in der Folge auch für die Wachstumsschwäche identifiziert. Aus dieser Sicht gibt es nur eine Lösung für die Probleme: Reduktion der Arbeitsmarktrigiditäten durch Flexibilisierung und Dezentralisierung von kollektiven Lohnverhandlungen (z.B. durch betriebliche Bündnisse), Deregulierung des Arbeitsmarktes (z.B. durch Abbau des Kündigungsschutzes), Abbau von Lohnersatzleistungen (z.B. Hartz IV) sowie Senkung der Lohnnebenkosten.

Wir haben die allgemeinen theoretischen und empirischen Unzulänglichkeiten einer solchen Sichtweise an anderer Stelle ausführlich dargelegt. Was für die deutsche Diskussion jedoch noch bedeutsamer ist: Selbst wenn die "institutionelle Sklerose"-Sicht theoretisch und allgemein empirisch überzeugend wäre, würde sie dennoch nicht zur Entwicklung von Arbeitsmarktinstitutionen, sozialen Sicherungssystemen und Arbeitslosigkeit in Deutschland passen. Zieht man die üblicherweise verwendeten Indikatoren für die Rigidität des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme heran (Kündigungsschutz, Lohnersatzleistungsquote, Lohnersatzleistungsdauer, gewerkschaftlicher Organisationsgrad, Koordinationsgrad der Lohnverhandlungen, Steuer- und Abgabenkeil), so haben sich diese in Deutschland seit dem Zurückbleiben von Wachstum und Beschäftigung Mitte der 1990er Jahre weder absolut noch relativ im Vergleich zur Europäischen Union (EU), zum Euroraum oder den OECD-Staaten verschlechtert. Tabelle 2 zeigt dies exemplarisch anhand eines von uns aus den Einzelindikatoren errechneten Gesamtindikators für "institutionelle Sklerose" und dessen Entwicklung von Anfang der 1980er Jahre bis Ende der 1990er Jahre (vgl. PDF-Version). Deutschland hat demnach die "institutionelle Sklerose" deutlicher überwunden als alle anderen Länder bzw. Ländergruppen, hat den Abstand gegenüber den OECD-Ländern erheblich verkleinert, ihn gegenüber dem EU-Durchschnitt ganz beseitigt und den Euroraum-Durchschnitt sogar unterboten.

Das Ergebnis eines im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen Tempos struktureller Reformen in Deutschland - gerade auch in den letzten zehn Jahren - wird auch durch zwei neuere Untersuchungen gestützt: zum ersten durch eine Untersuchung von Deborah Mabbett und Waltraud Schelkle über Reformaktivitäten beim gesetzlichen Kündigungsschutz und den Lohnersatzleistungen, die bis in das Jahr 2002 reicht (vgl. Tabelle 3 der PDF-Version); zum zweiten attestiert ausgerechnet die OECD, die bisher allgemein und speziell für Deutschland zu den prominentesten Vertretern der "Strukturreformnotwendigkeit" gehörte, in ihrem jüngsten "Reassessment" der "Jobs Strategy" Deutschland für den Zeitraum von 1995 bis 2005 weit überdurchschnittliche Reformaktivitäten: Bei dem von ihr errechneten "Reformintensitätsindikator" liegt Deutschland unter den betrachteten 30 Staaten auf Platz 4, innerhalb des Euroraums hinter den Niederlanden und Finnland auf Platz 3.

Vor dem Hintergrund dieser empirischen Evidenz fällt es sehr schwer, die deutschen Wachstums- und Beschäftigungsprobleme auf übermäßig rigide Arbeitsmärkte und einen Mangel an strukturellen Reformen zurückzuführen. Es drängt sich daher der Verdacht auf, dass die der praktizierten Wirtschaftspolitik zugrunde liegende Diagnose falsch war und ist.

Makroökonomisches Missmanagement!

Eine makroökonomische Erklärung der deutschen Beschäftigungs- und Wachstumsschwäche kann sich sowohl auf die post-keynesianische als auch auf die neu-keynesianische Theorie stützen. Letztere stellt international mittlerweile den "neuen Mainstream" dar. Ein unzureichender oder unkoordinierter Einsatz der makroökonomischen Instrumente, d.h. der Geld-, Lohn- und Finanzpolitik, kann demnach durchaus für längere Zeiträume geringeres Wachstum und höhere Arbeitslosigkeit erklären.

Geldpolitik

Durch die Europäische Währungsunion hat Deutschland 1999 den Status eines regionalen Leitwährungslandes im Europäischen Währungssystem und die damit verbundenen Zinsvorteile verloren. Da die Nominalzinsen sich seit 1999 angeglichen haben, die Inflationsrate in Deutschland jedoch unter dem Euroraum-Durchschnitt liegt, weist Deutschland mittlerweile sogar deutlich höhere Realzinsen als der Rest des Euroraums auf. Im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2005 bedeutete die Politik der EZB für Deutschland einen kurzfristigen Realzins von 1,2 Prozent, wohingegen er im Euroraum insgesamt nur bei 0,6 Prozent lag (vgl. Tabelle 4 der PDF-Version). Und während der kurzfristige Realzins im Euroraum im Zeitraum 2001 bis 2005 durchgehend positiv war, setzte die Federal Reserve in den USA einen negativen kurzfristigen Realzins von -0,2 Prozent durch. Diese expansive Geldpolitik trug zu der raschen Erholung der US-Ökonomie nach dem Wachstumseinbruch 2000/2001 bei. Die Differenz zwischen kurzfristigem Realzins und realem BIP-Wachstum, als Indikator für dieWachstumsfreundlichkeit der Geldpolitik, war im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2005 deutlich negativ. Die EZB hat sehr viel zögerlicher und weniger expansiv auf den Wachstumseinbruch reagiert, und dadurch zu dem schwachen Wachstum im Euroraum und insbesondere in Deutschland seit 2001 beigetragen. Während die Differenz zwischen kurzfristigem Realzins und realem BIP-Wachstum im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2005 im Euroraum immerhin noch leicht negativ war, blieb sie in Deutschland positiv.

Die deutsche Wirtschaft hatte also nicht nur unter dem mit der Währungsunion verbundenen Verlust des Zinsvorteils zu leiden, sondern war seit 1999 besonders von der wenig wachstumsfreundlichen Politik der EZB betroffen. Deutschlands schlechte "Performance" von 2001 bis 2005 kann jedoch nur zum Teil hierauf zurückgeführt werden, denn in einer Währungsunion kann die Geldpolitik nur die durchschnittliche Inflations- und BIP-Entwicklung berücksichtigen, aber nicht die besondere Situation eines einzelnen Landes.

Finanzpolitik

Da die EZB weder willens noch in der Lage war, die deutsche Wirtschaft nach 2000 zu stabilisieren, hätte die deutsche Finanzpolitik dem makroökonomischen Schock entgegenwirken müssen. Allerdings tat sie genau das Gegenteil: Sie versuchte pro-zyklisch denHaushalt zu konsolidieren und verschlimmerte dadurch die Krise. Ein Grund hierfür war der durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) ausgeübte Druck, da Deutschland die Drei-Prozent-Grenze für das Haushaltsdefizit von 2002 bis 2005 kontinuierlich verfehlte. Andererseits war es jedoch auch Resultat der wirtschaftspolitischen Empfehlungen des deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams, der auf eine ausgabenseitige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte unabhängig von der konjunkturellen Situation setzte. Diese Versuche waren offensichtlich erfolglos (vgl. Tabelle 4 der PDF-Version).

Um die konjunkturelle Ausrichtung der Finanzpolitik zu beurteilen, ist die tatsächliche Defizitquote ein ungeeigneter Indikator, da sie von der Wirtschaftspolitik nicht kontrolliert werden kann, sondern sich vielmehr aus dem makroökonomischen Gesamtprozesses ergibt. Wir ziehen daher stattdessen die strukturelle Budgetsaldoquote heran, d.h. den konjunkturbereinigten Budgetsaldo in Relation zum potenziellen BIP, und vergleichen dessen Entwicklung mit der Entwicklung der Produktionslücke, d.h. der Differenz zwischen tatsächlicher Produktion und Produktionspotenzial. Bei einer positiven Veränderung der Produktionslücke befindet sich die Ökonomie in einem Aufschwung, bei einer negativen in einem Abschwung. Die Veränderung der strukturellen Budgetsaldoquote gibt die Ausrichtung der Finanzpolitik an: Bei einer positiven Veränderung werden strukturelle Defizite ab- oder Überschüsse aufgebaut, und die Finanzpolitik wirkt restriktiv. Bei einer negativen Veränderung werden strukturelle Defizite erhöht oder Überschüsse reduziert, und die Finanzpolitik wirkt expansiv.

So gemessen war die deutsche Finanzpolitik von 2001 bis 2005 in drei Jahren pro-zyklisch restriktiv und hat damit den Abschwung verstärkt (vgl. Tabelle 4 der PDF-Version). Der kumulierte negative fiskalische Impuls betrug 1,7 Prozent des potenziellen BIP über den gesamten Zeitraum. Auch im Euroraum war die Finanzpolitik in drei Jahren pro-zyklisch restriktiv, der kumulierte negative fiskalische Impuls belief sich jedoch nur auf 1,1 Prozent des potenziellen BIP. Obwohl also der konjunkturelle Einbruch in Deutschland deutlich stärker war als im Euroraum insgesamt - die Produktionslücke reduzierte sich jährlich um 0,8 Prozentpunkte gegenüber jährlich 0,6 Prozentpunkte im Euroraum -, war die deutsche Finanzpolitik deutlich restriktiver. Die Finanzpolitik in den USA reagierte hingegen von 2001 bis 2005 stark anti-zyklisch, indemsie die strukturelle Budgetsaldoquote imDurchschnitt um einen Prozentpunkt proJahr reduzierte. Im Euroraum und in Deutschland wurde diese Quote bei einem jeweils sehr viel deutlicheren Rückgang der Produktionslücke konstant gehalten bzw. nur um 0,1 Prozentpunkte pro Jahr verringert. Die restriktive und destabilisierende Ausrichtung der deutschen Finanzpolitik wird noch deutlicher, wenn man sich die Entwicklung einzelner Ausgabenkomponenten anschaut (vgl. Tabelle 5 der PDF-Version). Die realen öffentlichen Gesamtausgaben sind von 2001 bis 2005 jährlich um 0,2 Prozent gefallen, wohingegen sie im Euroraum mit jährlich 1,4 Prozent und in den USA noch deutlicher mit 3,6 Prozent pro Jahr gestiegen sind. Der reale öffentliche Konsum ging in Deutschland mit einer Rate von 0,3 Prozent, die realen öffentlichen Investitionen gingen dramatisch mit einer Rate von vier Prozent pro Jahr zurück. Der Anteil der öffentlichen Investitionen am BIP lag damit im Zeitraum 2001 bis 2005 nur noch bei 1,5 Prozent und damit gut einen Prozentpunkt unter den Werten für den Euroraum und für die USA. Diese Entwicklung ist besonders bedenklich, weil öffentliche Investitionen nicht nur kurzfristig eine wesentliche Komponente der effektiven Nachfrage, sondern langfristig durch die damit verbundene Bereitstellung von öffentlicher Infrastruktur eine wesentliche Voraussetzung für private Investitionen und Wirtschaftswachstum sind.

Lohnpolitik

Wie schon seit Mitte der 1990er Jahre war die Lohnentwicklung, gemessen am Arbeitnehmerentgelt pro Arbeitnehmer, in Deutschland - verglichen mit dem Rest des Euroraums oder den USA - auch von 2001 bis 2005 besonders zurückhaltend (vgl. Tabelle 4 der PDF-Version). Das deutsche Lohnstückkostenwachstum lag folglich deutlich unter dem Euroraum-Durchschnitt und war wesentlich für die unterdurchschnittliche Inflation verantwortlich. Seit 2004 ist das Lohnstückkostenwachstum sogar negativ, so dass von der Lohnentwicklung mittlerweile ein erhebliches Deflationsrisiko ausgeht, d.h. ein Risiko fallender Güterpreise und steigender realer Verschuldung insbesondere der Unternehmen mit entsprechenden negativen Effekten auf die Investitionen. In der Vergangenheit sind die Güterpreise nur deshalb nicht zurückgegangen, weil die Preise für importierte Energie sowie die staatlichen Gebühren und Steuern gestiegen sind und die Unternehmen ihre Gewinnmargen erhöhen konnten.

Eine im europäischen Vergleich unterdurchschnittliche deutsche Lohnentwicklung dominierte zwar auch schon in langen Phasen vor der Währungsunion, war zu dieser Zeit aber die Grundlage für die deutsche Leitwährungsposition im EWS, die es der Deutschen Bundesbank erlaubte, erheblich geringere Nominal- und Realzinsen festzusetzen. Nach der Währungsunion hingegen wird die deutsche Lohnzurückhaltung als Grundlage für die unterdurchschnittliche Inflationsrate durch überdurchschnittliche Realzinsen bestraft. Die moderate Lohnentwicklung in Deutschland trug auch zu einem verstärkten Rückgang der Arbeitseinkommensquote bei. Zusammen mit der allgemeinen Verunsicherung, die durch die Politik der Strukturreformen erzeugt wurde, war die massive Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer der wesentliche Grund der allseits beklagten Konsum- und Binnennachfrageschwäche. Auch im Euroraum insgesamt setzte sich in den 1990er Jahren der Trend fallender Arbeitseinkommensquoten fort, allerdings seit 2001 mit einem geringeren Tempo als in Deutschland. In den USA hingegen konnte die Tendenz fallender Arbeitseinkommensquoten in den 1990er Jahren aufgehalten werden, so dass diese Quote mittlerweile etwa zwei Prozentpunkte über der im Euroraum oder in Deutschland liegt.

Die Lohnzurückhaltung in Deutschland hat die preisliche internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen deutlich verbessert, so dass sich die Exportüberschüsse zwischen 2001 und 2005 fast vervierfacht haben. Allerdings reichten diese Exporterfolge nicht aus, um die Binnennachfrageschwäche zu kompensieren. Da über 40 Prozent der deutschen Exporte in den Euroraum gehen, stehen den steigenden deutschen Export- und Leistungsbilanzüberschüssen ansteigende Leistungsbilanzdefizite - oder rückläufige Überschüsse - der Partnerländer in der Währungsunion gegenüber. Weil sich die anderen Länder nicht mehr durch eine nominale Abwertung wehren können, geraten sie zunehmend unter Druck, ebenfalls eine Nachfrage dämpfende Politik zu verfolgen, um das Lohnwachstum zu reduzieren und hierdurch ihre Wettbewerbsposition zu verbessern. Die von der Lohnentwicklung ausgehenden Deflationsrisiken in Deutschland drohen daher zunehmend auf den Euroraum auszustrahlen. Die deutsche Lohnentwicklung ist damit zu einem gefährlichen Sprengsatz für die Währungsunion geworden.

Schlussbemerkungen und Fazit

Die wesentlichen Ursachen der deutschen Stagnation von 2001 bis 2005 sind nicht in überregulierten Arbeitsmärkten und beschäftigungsfeindlichen sozialen Sicherungssystemen zu suchen. Für schwaches Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit ist dagegen ein unübersehbares makroökonomisches Missmanagement verantwortlich, welches teilweise durch die europäische Ebene (EZB, SWP) verursacht wurde, teilweise hausgemacht ist. Dass es 2006 zu einem Aufschwung gekommen ist und sich die fünfjährige Stagnation nicht weiter fortsetzte, ist auf die Reformpause und auf die weniger dämpfende Ausrichtung der öffentlichen Haushalte in diesem Jahr zurückzuführen. Hierdurch wurde ermöglicht, dass die außenwirtschaftlichen Impulse auf die Binnennachfrage, insbesondere auf die Investitionen, überspringen konnten. Die Erholung hat jedoch nichts mit der Reformpolitik der Vorjahre zu tun. Letztere erklärt lediglich, warum der Aufschwung in Deutschland so lange auf sich warten ließ.

Eine Fortsetzung der Politik der Strukturreformen und der Versuche der ausgabenseitigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte würde die wirtschaftliche Entwicklung erneut destabilisieren. Erforderlich ist vielmehr ein makropolitisches Umsteuern, d.h. eine expansivere Geld- und Finanzpolitik sowie eine stabilisierende Lohnentwicklung, die den Verteilungsspielraum aus Zielinflationsrate der EZB und langfristigem nationalen Produktivitätswachstum wieder ausschöpft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Eckhard Hein/Achim Truger, What ever happened to Germany? Is the decline of the former European key currency country caused by structural sclerosis or by macroeconomic mismanagement?, in: International Review of Applied Economics, 19 (2005), S. 3 - 28.

  2. Zu einem Vergleich Deutschlands mit Großbritannien und Schweden vgl. Eckhard Hein/Jan-Oliver Menz/Achim Truger, Warum bleibt Deutschland hinter Schweden und dem Vereinigten Königreich zurück? Makroökonomische Politik erklärt den Unterschied, IMK Report Nr. 15, Düsseldorf 2006.

  3. Vgl. z. B. Horst Siebert, Labor market rigidities: at the root of unemployment in Europe, in: Journal of Economic Perspectives, 11 (1997), S. 37 - 54.

  4. Vgl. z.B. die Mehrheitsmeinungen in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2005/2006. Die Chance nutzen - Reformen mutig vorantreiben, Berlin 2006, sowie in: Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 2005, DIW Wochenbericht, 43/2005, S. 605 - 655, vgl. auch: Deutsche Bundesbank, Wege aus der Krise - Wirtschaftspolitische Denkanstöße für Deutschland, Frankfurt 2003; Europäische Kommission, Germany's growth performance in the 1990's, Economic Paper Nr. 170, Mai 2002, Brüssel; OECD, Economic Survey - Germany 2004, Paris 2004.

  5. Vgl. E. Hein/A. Truger (Anm. 1).

  6. Vgl. Deborah Mabbett/Waltraud Schelkle, Bringing Macroeconomics back into the political economy of reform: the Lisbon Agenda and the ,fiscal philosophy` of EMU, 2005, http://eprints.bbk.ac.uk/archive/00000259/01/BringingMacroeconomicsBackIn.pdf (8.2. 2007).

  7. OECD, The OECD Jobs Study: Evidence and Explanations, Paris 1994; OECD (Anm. 5).

  8. OECD, OECD Employment Outlook: Boosting Jobs and Incomes - Policy lessons from reassessing the OECD Jobs Study, Paris 2006.

  9. Eckhard Hein/Arne Heise/Achim Truger (Hrsg.), Neu-Keynesianismus - der neue wirtschaftspolitische Mainstream?, Marburg 20052.

  10. Vgl. z.B. die Mehrheitsmeinungen in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Anm. 4), sowie in: Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute (Anm. 4).

  11. Der konjunkturbereinigte Budgetsaldo gibt den Budgetsaldo an, der sich ergeben hätte, wenn das tatsächliche BIP genau dem potenziellen BIP entsprochen hätte (Produktionslücke = 0). Bei Überauslastung (Produktionslücke ? 0), d.h. guter Konjunktur, liegen die tatsächlichen über den potenziellen Steuereinnahmen und aufgrund geringer Arbeitslosigkeit die tatsächlichen unter den potenziellen Staatsausgaben. Bei Unterauslastung (Produktionslücke ? 0) ist es umgekehrt. Durch die Konjunkturbereinigung werden die konjunkturbedingten Anteile des Budgetsaldos herausgerechnet. Der ermittelte konjunkturbereinigte Saldo kann dann als Maß für den tatsächlich von der Finanzpolitik ausgeübten Einfluss auf die Wirtschaft interpretiert werden, während sich im tatsächlichen Saldo politische und konjunkturelle Faktoren vermischen. Natürlich ist die statistische Trennung zwischen kurzfristigen konjunkturellen und langfristigen strukturellen Einflüssen nicht zweifelsfrei möglich.

  12. Vgl. E. Hein/A. Truger (Anm. 1).

Dr. rer. pol. habil.; Referatsleiter für "Allgemeine Wirtschaftspolitik" am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans Böckler Stiftung und Privatdozent an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. IMK, Hans Böckler Str. 39, 40476 Düsseldorf.
E-Mail: E-Mail Link: eckhard-hein@boeckler.de
Internet: Externer Link: www.boeckler.de/

Dr. rer. pol.; Referatsleiter für "Steuer- und Finanzpolitik" am IMK.
E-Mail: E-Mail Link: achim-truger@boeckler.de