Einleitung
Die gesellschaftliche Wirklichkeit des "Dritten Reiches" wird gewöhnlich durch das Prisma des Holocaust betrachtet. Der aber war erst das Ergebnis eines dramatisch beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, und der Alltag des Nationalsozialismus sieht im Blick durch dieses Prisma eigentümlich statisch und hermetisch aus. Dabei vermochte die nationalsozialistische Gesellschaft eine ungeheure psychosoziale Energie und Dynamik bei ihren Mitgliedern gerade deshalb freizusetzen, weil das "Tausendjährige Reich" von den meisten Deutschen als ein gemeinsames Projekt empfunden wurde, an dem man teilhaben wollte und auch durfte, sofern man die rassisch definierten Kriterien dafür erfüllte.
Ausgerechnet diese Gesellschaft hat bis heute keine klaren mentalitätsgeschichtlichen Konturen, was sich etwa anhand der in letzter Zeit intensiv diskutierten Frage zeigt, was die Deutschen vom Holocaust wussten und wie es um die Zustimmung zum Regime im Verlaufe seiner Herrschaft stand. Inzwischen zeichnet sich ab, dass diese Zustimmung in den Jahren nach 1933 bis zum Überfall auf die Sowjetunion kontinuierlich anwuchs, so dass es an der Zeit wäre, die gesellschaftliche Wirklichkeit des "Dritten Reiches" als ein soziales Parallelogramm zu beschreiben, in dem sich die emotionale und materielle Lage der nichtjüdischen Deutschen in dem Maße verbesserte, wie sich die Situation der "Nichtarier" verschlechterte - womit die Ausgrenzung der Juden, wie Peter Longerich argumentiert hat, nicht nur als Herrschaftszweck, sondern auch als Herrschaftsinstrument zu verstehen wäre.
Aber wie kann man rekonstruieren, was die Deutschen über den Führer, ihr Land und die Politik der Vernichtung gedacht haben? Eine moderne Umfrageforschung gab es vor 70 Jahren noch nicht, und die offiziellen Stimmungs- und Lageberichte,
Man wird sich daher mit einem Patchwork ganz unterschiedlicher Datenquellen begnügen müssen, das die Zustimmung zur Politik des Regimes, insbesondere zur Judenpolitik, in unterschiedlichen Farbtönen abbildet und das aus Beobachtungen des Alltagsverhaltens der Volksgenossinnen und Volksgenossen, aus Daten zum Wissen über den Vernichtungsprozess sowie aus retrospektiven Interview- und Umfragedaten zusammengefügt ist.
Die Struktur des Nichtwissens
Am 2. August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung gegen Russland, notiert Franz Kafka in Prag in seinem Tagebuch: "Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule." Das ist lediglich ein besonders prominentes Beispiel dafür, dass Ereignisse, die die Nachwelt als historische zu bewerten gelernt hat, in der Echtzeit ihres Entstehens und Auftretens nur selten als solche empfunden werden. Wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen werden, dann als Teil eines Alltags, in dem noch unendlich viel mehr wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit beansprucht, und so geschieht es, dass selbst intelligente Zeitgenossen einen Kriegsausbruch nicht bemerkenswerter finden als den Umstand, dass man am selben Tag seinen Schwimmkurs absolviert hat.
In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Historische Ereignisse zeigen ihre Bedeutung erst im Nachhinein, nämlich dann, wenn sie nachhaltige Folgen gezeitigt haben oder sich, mit einem Begriff von Arnold Gehlen, als "Konsequenzerstmaligkeiten" erwiesen haben, also als präzedenzlose Ereignisse mit Tiefenwirkung für alles, was danach kam. Damit ergibt sich ein methodisches Problem, wenn man die Frage stellt, was Menschen von solch einem Ereignis wahrgenommen bzw. gewusst haben. Erstmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, nicht mit Erfahrungen abgleichen kann. Aus diesem Grund haben viele jüdische Deutsche die Dimension des Ausgrenzungsprozesses nicht erkannt, dessen Opfer sie wurden.
Geschichte geschieht nicht punktuell, sondern sie ist ein für die begleitende Wahrnehmung langsamer Prozess, der erst durch Begriffe wie "Zivilisationsbruch" nachträglich auf ein abruptes Ereignis verdichtet wird. Die Interpretation dessen, was Menschen vom Entstehen eines Prozesses wahrgenommen haben, der sich erst sukzessive zur Katastrophe auftürmte, ist ein äußerst vertracktes Unterfangen - auch deswegen, weil wir unsere Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung mit dem Wissen darum stellen, wie die Sache ausgegangen ist. Über dieses Wissen verfügten die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen logischerweise nicht. Norbert Elias hat es nicht zu Unrecht als eine der schwierigsten Aufgaben der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat.
Schließlich muss der Holocaust als ein genozidaler Prozess betrachtet werden, der Ende Januar 1933 begann und mit der Befreiung der Lager im Frühjahr 1945 zu Ende ging. Dabei ist der sich in unterschiedlichen Intensitätsschüben vollziehende Ausgrenzungs-, Ausschließungs-, Beraubungs- und Deportationsprozess von dem mit Kriegsbeginn 1939 experimentierten, aber mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 in aller Radikalität einsetzenden Vernichtungsprozess zu unterscheiden. Denn während die Vernichtung einer, wie Longerich sie nachgezeichnet hat, flexiblen Geheimhaltungspolitik unterlag, die ab Mitte 1942 auf ein komplizenhaftes, wenn auch ominöses Mitwissen der Deutschen setzte,
Der soziale Alltag der Ausgrenzung
Man kann zur Rekonstruktion des Wertewandels im nationalsozialistischen Deutschland, der sich als fortschreitende Normalisierung radikaler Ausgrenzung bezeichnen lässt, zeitgenössische Quellen heranziehen, die wie die Aufzeichnungen Sebastian Haffners, die Tagebücher Victor Klemperers oder Willy Cohns oder die Briefe Lilly Jahns auf der Mikroebene des sozialen Alltags nachzeichnen, wie in verblüffend kurzer Zeit Menschengruppen aus dem Universum der sozialen Verbindlichkeit ausgeschlossen werden - aus jenem Universum also, in dem Normen wie Gerechtigkeit, Mitleid oder Nächstenliebe noch in Kraft sind, aber nicht mehr für diejenigen gelten, die per definitionem aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sind. Man übersieht bei der Betrachtung des nationalsozialistischen Systems häufig, dass dieses zwar ein Unrechts- und Willkürsystem gewesen ist, dass die Willkür und das Unrecht aber fast ausschließlich die Nicht-Zugehörigen traf, während die Mitglieder der Volksgemeinschaft nach wie vor in weiten Bereichen sowohl Rechtssicherheit als auch staatliche Fürsorge genossen.
So zeigt eine retrospektive Befragung mit 3 000 Personen, die in den 1990er Jahren durchgeführt wurde, dass nahezu drei Viertel der vor 1928 geborenen Befragten niemanden kannten, der aus politischen Gründen mit der Staatsgewalt in Konflikt geraten und deshalb verhaftet oder verhört worden war.
Dieses freilich bezog sich auf die Mitglieder der Volksgemeinschaft, und diese wurde gerade dadurch gestiftet, dass nicht jeder zu ihr gehören konnte. Das verbreitete Gefühl, nicht bedroht zu sein und keinerlei Repression zu unterliegen, beruhte auf einem starken Gefühl der Zugehörigkeit, deren Spiegelbild die täglich demonstrierte Nicht-Zugehörigkeit von anderen Gruppen, insbesondere von Juden, war. Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 setzte eine ungeheuer beschleunigte Praxis der Ausgrenzung der Juden ein, und zwar ohne relevanten Widerstand der Mehrheitsbevölkerung - obwohl mancher vielleicht über den "SA- und Nazipöbel" die Nase rümpfte oder die einsetzende Kaskade der antijüdischen Maßnahmen als unfein, ungehörig, übertrieben oder einfach als inhuman empfand. Was ich mit "ungeheuer beschleunigt" meine, lässt sich mit einer Auflistung von Saul Friedländer illustrieren: "Im März 1933 untersagte die Stadt Köln Juden die Benutzung städtischer Sportanlagen. Vom 3. April an mussten in Preußen Anträge von Juden auf Namensänderung dem Justizministerium vorgelegt werden (...). Am 4. April schloss der deutsche Boxer-Verband alle jüdischen Boxer aus. Am 8. April sollten alle jüdischen Dozenten und Assistenten an Universitäten des Landes Baden unverzüglich entlassen werden. Am 18. April entschied der Gauleiter von Westfalen, dass einem Juden das Verlassen des Gefängnisses auf Kaution nur gestattet würde," wenn der Kautionssteller bereit sei, "an seiner Stelle ins Gefängnis zu gehen. Am 19. April wurde der Gebrauch des Jiddischen auf Viehmärkten in Baden verboten. Am 24. April wurde die Verwendung jüdischer Namen zum Buchstabieren im Telefonverkehr untersagt. Am 8. Mai verbot es der Bürgermeister von Zweibrücken Juden, auf dem nächsten Jahrmarkt Stände zu mieten. Am 13. Mai wurde die Änderung jüdischer Namen in nichtjüdische verboten. Am 24. Mai wurde die restlose Arisierung der deutschen Turnerschaft angeordnet, wobei die vollständige arische Abstammung aller vier Großeltern gefordert wurde."
Besonders bemerkenswert an dieser unvollständigen, beispielhaften Liste ist zum einen die Kreativität im Auffinden unterschiedlichster Aspekte des "Jüdischen", wie etwa bei der Buchstabierliste für den Telefonverkehr, zum anderen das freiwillige, oft vorauseilende Praktizieren antijüdischer Ausgrenzungsmaßnahmen durch Privatpersonen in Vereinsfunktionen oder durch Kommunalbeamte, welche die entsprechenden Maßnahmen durchaus nicht hätten ergreifen müssen, sondern aus freien Stücken ergriffen haben. Das verweist nicht nur auf antisoziale Bedürfnisse, die unter den neuen Verhältnissen freudig befriedigt wurden, sondern auch darauf, dass solche Maßnahmen innerhalb der entsprechenden Vereine, Verbände und Kommunen bei Nicht-Betroffenen auf Zustimmung, jedenfalls nicht auf Protest oder gar auf Widerstand stießen.
Im sozialen Alltag des Nationalsozialismus sind Maßnahmen, die andere treffen, aber von Nicht-Betroffenen zur Kenntnis genommen werden, allgegenwärtig. Wie immer auch die Gesetze und Maßnahmen bei den Volksgenossinnen und Volksgenossen ankamen - festzuhalten ist, dass sich auch in dieser frühen Phase, die ja auch für die Nicht-Betroffenen einen erheblichen Wertewandel hinsichtlich zwischenmenschlicher Umgangsformen bedeutete, keinerlei Unmut artikulierte. Aber was heißt Nicht-Betroffene? Wenn man den Vorgang der Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung als Handlungszusammenhang betrachtet, ist es logisch unmöglich, von Nicht-Betroffenen zu sprechen: Wenn eine Personengruppe auf solch schnelle, verdichtete, öffentliche und nichtöffentliche Weise aus dem Universum der moralischen Verbindlichkeit ausgeschlossen wird, dann bedeutet das umgekehrt, dass sich der wahrgenommene und gefühlte Stellenwert der Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft erhöht.
So ist es psychologisch kein Wunder, dass die praktische Umsetzung der Theorie von der Herrenmenschenrasse äußerst zustimmungsfähig war. Vor dem Hintergrund dieser in Gesetze und Maßnahmen gegossenen Theorie konnte sich noch jeder sozial deklassierte, ungelernte Arbeiter ideell jedem jüdischen Schriftsteller, Schauspieler oder Geschäftsmann überlegen fühlen, zumal dann, wenn der gesellschaftliche Prozess die faktische soziale und materielle Deklassierung der Juden durchsetzte. Die Aufwertung, die der Volksgenosse auf diese Weise erfuhr, bestand auch im Gefühl einer relativ verringerten sozialen Gefährdung - einem ganz neuen Lebensgefühl in einer exklusiven Volksgemeinschaft, zu der man nach den wissenschaftlichen Gesetzen der Rassenauslese unabänderlich gehörte und zu der die anderen genauso unabänderlich niemals gehören konnten.
Während es den einen zunehmend schlechter ging, fühlten sich die anderen immer besser. Das nationalsozialistische Projekt bot ja nicht nur eine glanzvoll ausgemalte Zukunft, sondern auch ganz handfeste Gegenwartsvorteile wie zum Beispiel exzellente Karrierechancen. Der Nationalsozialismus hatte eine extrem junge Führungselite, und nicht wenige gerade der jüngeren Volksgenossinnen und -genossen konnten große persönliche Hoffnungen mit dem Siegeszug der "arischen Rasse" verbinden.
Seine psychosoziale Durchschlagskraft bezog das nationalsozialistische Projekt aus der unmittelbaren Umsetzung seiner ideologischen Postulate in eine greif- und fühlbare Wirklichkeit, und Interviews mit ehemaligen Volksgenossinnen und -genossen legen bis heute Zeugnis ab von der psychosozialen Attraktivität und emotionalen Bindungskraft dieses Ein- und Ausschließungsprozesses. Nicht umsonst besteht bis heute weitgehende Übereinstimmung unter den Zeitgenossen, dass das "Dritte Reich" mindestens bis zum Russlandfeldzug als "schöne Zeit" zu beschreiben sei; bei vielen geht diese Zuordnung auch noch bis weit in den Krieg hinein.
Ein besonders betrübliches Kapitel in diesem Zusammenhang bilden die so genannten Arisierungen jüdischer Geschäfte und Unternehmen sowie die öffentlichen Versteigerungen von Wert- und Einrichtungsgegenständen aus jüdischem Besitz. Während insgesamt etwa 100 000 Betriebe im Zuge der "Arisierung" ihre Besitzer wechselten, lässt sich die Beteiligung an den Versteigerungen kaum noch quantifizieren, aber anhand von Beispielen wenigstens dimensionieren. In Hamburg etwa wurden 1941 die Ladungen von 2 699 Güterwagen und 45 Schiffen mit "Judengut" versteigert; 100 000 Hamburger ersteigerten Möbel, Kleidungsstücke, Radios und Lampen, die aus etwa 30 000 jüdischen Familien stammten.
Auch hier fallen Wissen und soziale Praxis in eins, und es wird ein Handlungszusammenhang sichtbar, in dem das veränderte Normengefüge nicht von oben nach unten durchgesetzt wird, sondern in dem auf praktische und sich verschärfende Weise das Verhältnis zwischen den Menschen entsolidarisiert wird und eine neue soziale "Normalität" etabliert wird. In dieser Normalität mag es zwar ein Durchschnittsvolksgenosse noch 1941 für undenkbar halten, dass Juden umstandslos getötet werden, aber nichts Bemerkenswertes darin sehen, dass Ortsschilder verkünden, der entsprechende Ort sei "judenfrei", dass Parkbänke nicht von Juden benutzt werden dürfen und auch nicht mehr darin, dass die jüdischen Bürger entrechtet und beraubt werden.
Vor diesem Hintergrund argumentierte in einem der Kriegsverbrecherprozesse ein Beamter des Auswärtigen Amtes, Albrecht von Kassel, als er aufgefordert wurde, zu erklären, was man unter dem Begriff "Endlösung" verstanden habe:
"Dieser Ausdruck Endlösung' ist ja in verschiedenem Sinne gebraucht worden. 1936 bedeutete Endlösung ja nur, dass die Juden alle Deutschland verlassen sollten, und dabei sollten sie allerdings ausgeplündert werden; es war nicht schön, aber auch nicht verbrecherisch ...
Richter Maguire: War das soeben eine richtige Übersetzung?
Dr. Becker: Ich bitte Sie, noch einmal den Satz zu wiederholen.
Antwort: Ich habe gesagt, es war leider nicht schön, aber nicht verbrecherisch. Man wollte ihnen nicht ans Leben, sondern man wollte ihnen nur das Geld wegnehmen."
In einer solchen Aussage, der sich zahllose ähnliche hinzufügen ließen, dokumentiert sich die normative Verschiebung, die zwischen 1933 und 1941 stattgefunden hatte, in aller Klarheit, und diese Verschiebung umfasst auch die Definition dessen, was als Verbrechen betrachtet wurde und was nicht.
Wissen über die Massentötungen
Wissen über Verbrechen setzt voraus, dass etwas als Verbrechen definiert ist. Da sich diese Definition mit der Entwicklung der nationalsozialistischen Gesellschaft stark verschoben hatte, geht es bei der Frage, was die Deutschen vom Holocaust wussten, primär um die Massenmorde und Vernichtungsaktionen, die mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 einsetzten und schließlich in den Vernichtungslagern kulminierten.
Im Herbst 1941 begannen die Deportationen der noch im Lande lebenden jüdischen Deutschen, sofern diese nicht mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet waren oder in kriegswichtiger Produktion arbeiteten. Diese Deportationen fanden in aller Öffentlichkeit statt, weil die Opfer mit der Reichsbahn abtransportiert wurden und entweder mit Lastwagen oder in größeren oder kleineren bewachten Gruppen zu den Bahnhöfen gebracht wurden. Unabhängig davon, wie die Reaktion der örtlichen Bevölkerung jeweils ausfiel, kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass die Deportationen als solche allgemein bekannt waren. Nicht selten zogen sie große Mengen Zuschauer an, es wurde geklatscht, gejohlt und kommentiert, und besonders Schulkinder taten sich durch Geschrei, Spott und Schmähungen hervor.
Freilich klafften die Einschätzungen darüber, was die Deportationen für die Betroffenen bedeuteten, erheblich auseinander. So schreibt bereits am 24. Oktober 1941 eine nichtjüdische Hamburgerin an ihre Tochter über die Deportation ihrer jüdischen Nachbarn: "Wohin? Russland? Polen? Jedenfalls ins Verderben, in den sicheren Tod."
Schließlich gab es zwei Nachrichtenquellen ganz gegensätzlicher Natur, die Wissen über die Massenmorde verbreiteten:
Vor dem Hintergrund zahlreicher Einzelbeobachtungen und -belege solcher Art kann man mit einiger Plausibilität davon ausgehen, dass sich ab etwa Mitte 1942 ein aus Gerüchten, Andeutungen, Augenzeugenberichten und Teilinformationen bestehendes Wissen allgemein verbreitet hatte. Longerich hat argumentiert, dass es dem Regime zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unwillkommen war, dass ein solches Wissen existierte, da die Absicht bestand, die Bevölkerung angesichts der sinkenden Siegeszuversicht in "Mithaftung" für die Verbrechen zu nehmen und Systemtreue durch Komplizenschaft zu erzeugen.
Nun war das verbreitete Wissen um die Vernichtung der europäischen Juden eben kein lexikalisches und von irgendeiner Instanz beglaubigtes Wissen, sondern hatte die hybride Form des offenen Geheimnisses.
Diese spezifische Form der Wissenskommunikation schlägt sich auch darin nieder, dass in der bereits erwähnten schriftlichen Befragung Mitte der 1990er Jahre nur etwas mehr als ein Drittel der Befragten antworteten, sie hätten schon vor Ende des Krieges "gewusst", "gehört" oder "geahnt", dass die Juden massenhaft getötet wurden.
Eine weitere Möglichkeit, changierende Phänomene wie Systemvertrauen, Skepsis oder Stimmung retrospektiv zu messen, besteht darin, Verhalten zu ermitteln - also etwa zu rekonstruieren, bis wann die Volksgenossen ihr Sparvermögen staatlichen Banken anvertrauten und ab wann es ihnen doch sicherer erschien, es zu privaten Geldinstituten zu tragen, oder herauszufinden versuchen, ab wann trauernde Familienangehörige mehrheitlich aufhörten, in Anzeigen mitzuteilen, der Sohn sei "für Führer, Volk und Vaterland" gefallen, und stattdessen nur noch schlicht das Vaterland oder gar kein Moment der Sinngebung mehr erwähnten. So hat Götz Aly mittels einer "Adolf-Kurve" erhoben, wie sich die Namensvorlieben von 1932 bis 1945 wandelten, wie die Zahl der Kirchenaustritte schwankte, wie sich das Sparverhalten änderte und in welchem Ausmaß der feine Unterschied im Heldentod markiert wurde. Mit den Ergebnissen solcher Untersuchungen lässt sich plausibel argumentieren, dass die Stimmung der Volksgenossinnen und -genossen zwischen 1937 und 1939 den Gipfel erreichte und erst ab 1941 rapide zu sinken begann.
Eine weitere Informationsquelle für historisch vorhandenes Wissen liegt in der Analyse der latenten Gehalte von Zeitzeugenerzählungen, in denen zwischen den Zeilen und auch durchaus entgegen der Absicht der Erzähler Teile des offenen Geheimnisses offenbart werden. So fanden wir in einer unserer Interviewstudien das prägnante Beispiel einer alten Dame, die mitteilte, von der Judenverfolgung nichts wahrgenommen zu haben, aber in ihrer Erzählung die Struktur des fortschreitenden Verschwindens der Juden aus dem Alltag reproduzierte: "Ja, wir hatten ja wenig Juden. Die Geschäfte, die geschlossen wurden, daraus war ja noch nicht zu entnehmen, was in den Gaskammern geschah. Also, ja, wir hatten ganz ganz wenig Juden. Im Grunde genommen fiel das nicht so auf. Erschütternd war diese Kristallnacht, und an unserer Schule war dann plötzlich die Tochter des Rabbiners nicht mehr da. Aber das war die einzige Jüdin an unserem Oberlyceum, die ich kannte. Und die konnte ja auch ausgewandert sein oder sonst wie. Es ist ja etlichen auch gelungen. Ob die nun inhaftiert war oder ausgewandert, das konnten wir nicht feststellen. Wir hatten ja auch keinen persönlichen Kontakt, die war sechs Jahre älter, in einer anderen Klasse, also die kannte ich nicht, und sie hätte mich auch nicht gekannt."
Auf der Ebene der Erzählstruktur ist der Ausgrenzungs- und Verfolgungsprozess, in dem die Juden immer weniger werden und schließlich ganz verschwunden sind, durchaus präsent, und zahlreiche Zeitzeugenerzählungen offenbaren bei genauerer Betrachtung analoge Strukturen. Das verweist einmal mehr auf den schillernden Charakter dessen, was unter dem Begriff "Wissen über die Judenvernichtung" zu verstehen ist.
Insgesamt wird man resümieren können, dass ein Wissen über die verbrecherische Behandlung der Juden im Vorfeld der Vernichtung zu annähernd 100 Prozent verbreitet war, aber zunehmend weniger als verbrecherisch empfunden und eingeordnet wurde. Über manifeste Informationen hinsichtlich der Massenvernichtungen, die ab 1941 stattfanden, verfügten mit einiger Wahrscheinlichkeit zwischen einem Drittel und der Hälfte der Zeitgenossen, während ein nicht quantifizierbarer weiterer Anteil der Bevölkerung über Wissen in Form des offenen Geheimnisses verfügte. Diese Form des Wissens hat den Vorteil, dass man sich von ihm im Nachhinein problemlos distanzieren kann, und zwar nach innen wie nach außen.
Genau davon legt der gebetsmühlenhaft wiederholte Satz Zeugnis ab, dass man ja "nichts gewusst" habe. Leider spricht alle historische und sozialpsychologische Evidenz dafür, dass das nicht wahr ist. Noch bedrückender erscheint, dass manches darauf hindeutet, dass die Judenverfolgung die Zustimmungsbereitschaft der nichtjüdischen Deutschen zum Nationalsozialismus nicht behinderte, sondern förderte.