Auf den verwackelten Handyvideos, die im September 2019 in meiner Twitter-Timeline auftauchen, sieht man einen schwarzen Lamborghini, der sich langsam bei einer nächtlichen Demonstration in Hongkong durch die Menschenmenge schiebt. Die Demonstranten ziehen mit gelben Warnwesten und Transparenten durch die Straßen. Im Hintergrund ist ein chinesischer Drachen zu sehen, der hell erleuchtet durch die Menge getragen wird. Jemand schwenkt die rot-weiße Fahne mit der Bauhinia, die Flagge Hongkongs.
Bei einer Demonstration an anderen Orten der Welt würde ein sündhaft teurer Sportwagen möglicherweise nicht weit kommen, bevor er angehalten oder sogar beschädigt würde. Doch in Hongkong machen die Demonstranten Platz, winken und schießen Selfies mit dem Gefährt. Denn sie haben den Fahrer erkannt: Es ist der beliebte Sänger und Schauspieler Aaron Kwok Fu-shing – angeblich unterwegs, um seinem Kind Windeln zu kaufen, wie die Lokalpresse später berichten wird.
Ein Filmstar hat in Hongkong eben immer noch einen Bonus, selbst wenn er mit seiner Angeberkarre eine Demonstration behindert. Hongkong ist neben Bombay die wichtigste Filmstadt Asiens. Auch wenn die Zahl der Produktionen in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist und US-amerikanische Blockbuster und chinesische Einflussnahme den Produzenten der Stadt zu schaffen machen, bleibt Hongkong eine Stadt des Kinos, in der die 55 Filmtheater stets gut besucht sind und lokale Produktionen einen besonderen Platz im Herzen des Publikums haben. Manche Filmkritiker mögen das Kino Hongkongs inzwischen für tot erklärt haben.
Identitätsstiftender Bezugspunkt
2018 wurden in Hongkong mit seinen rund 7,4 Millionen Einwohnern 53 Filme produziert. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 78. Fast 17000 Menschen arbeiten in knapp 3000 Filmfirmen, deren Produktionen einen nicht unwesentlichen Teil zum Bruttosozialprodukt der Stadt beitragen. Hongkong hat eine lange Filmgeschichte, die internationale Stars wie Bruce Lee und Maggie Cheung, Jackie Chan und Michelle Yeoh, Chow Yun-Fat und Jet Li hervorgebracht hat. Regisseure wie Wong Kar-Wei, Johnny To und John Woo sind weltbekannt, und Filme wie "Der Mann mit der Todeskralle" (1973) oder "In the Mood for Love" (2000) waren internationale Erfolge. Für die Bürger Hongkongs ist ihre Filmindustrie nicht nur eine Quelle des Stolzes auf ihre Stadt, sondern ein identitätsstiftender Bezugspunkt.
Derartige Identifikationsprozesse durch Medienprodukte beschrieb der amerikanische Soziologe Benedict Anderson 1983 im Buch "Imagined Communities".
In der Filmwissenschaft wurde Andersons These aufgegriffen und plausibel dargestellt, welche Rolle das Kino bei der Etablierung eines Wir-Gefühls in Nationalstaaten spielen kann.
Was bedeutet das für das Kino Hongkongs? Die ehemalige britische Kronkolonie und derzeitige chinesische Sonderverwaltungszone war zwar nie ein National-, nicht einmal ein Stadtstaat. Trotzdem hat sich spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine einzigartige Stadtkultur entwickelt, an deren Entstehung und Definition das Kino aktiv mitgewirkt hat. Somit ist das Kino Hongkongs ein Nationalkino ohne Nation.
Globalisiertes Kino
Das Kino Hongkongs ist ein Erbe des chinesischen Nationalkinos der Vorkriegszeit. Das Hongkong-Kino griff nach dem Zweiten Weltkrieg Filmtraditionen auf, die sich in den 1920er und 1930er Jahren in den Filmstudios von Shanghai entwickelt hatten. Viele der Regisseure, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Hongkong Filme drehten, hatten ihre Karrieren in Shanghai begonnen.
Filmfirmen wie Shaw Brothers, Kong Ngee oder Cathay pumpten von eigenen Studiogeländen mit festangestelltem Stab von Technikern, Regisseuren und Schauspielern monatlich mehrere Filme in die Kinos der Stadt, wo sie von einem fanatischen Publikum zum Teil lautstark in den Vorstellungen bejubelt wurden.
Lange wurden in Europa und den Vereinigten Staaten die Produktionen aus der asiatischen Metropole als lachhafte Filme für Bahnhofskinos abgetan, in denen sich Kung-Fu-Kämpfer abendfüllend die Schädel einschlagen. Spätestens aber seit Regisseure wie die Wachowski-Geschwister und Quentin Tarantino in Filmen wie "Matrix" (1999) beziehungsweise "Kill Bill – Volume 1" (2003) den Kampfszenen aus Hongkong-Filmen Tribut zollten, begann sich das Bild zu wandeln. Die fantastischen, die Gesetze der Schwerkraft leugnenden Gewaltchoreografien des Hongkong-Films prägen das internationale Actionkino seit den 1990er Jahren.
Wer bei den beliebten Martial-Arts-Filmen und Thrillern genauer hinsieht, wird ein faszinierendes Gemisch aus verschiedensten, internationalen Einflüssen entdecken, die von den Filmschaffenden der Stadt zu verwirrenden Hybriden zusammengefügt wurden. Das Kino Hongkongs war globalisiert, lange bevor von kultureller Globalisierung die Rede war. Gleichzeitig war es aber immer auch ein lokales Kino, das die Geschichte(n) der Stadt erzählt.
Zehn Filme der Stadt
Derzeit wird auf den Straßen Hongkongs zum Teil gewaltsam ausgehandelt, was für eine Stadt Hongkong sein soll und wer die Hegemonie über die asiatische Metropole hat: die Bürger der Stadt, die sich offenbar mehrheitlich eine demokratisch gewählte Regierung und persönliche Freiheit wünschen – oder die chinesische Regierung, von der man fürchtet, dass sie in Hongkong den Rechtsstaat aushöhlen, individuelle Freiheit einschränken und die Macht parteitreuen Oligarchen überlassen will, schon lange bevor 2047 Hongkong in der Volksrepublik China aufgehen wird.
Wer Hongkong, seine einzigartige Geschichte und die gegenwärtige politische Situation besser verstehen will, kann das mithilfe der Filme, die in der Stadt produziert worden sind. Jenseits der international bekannten Kung-Fu- und Gangsterfilme sind in Hongkong auch Melodramen und Komödien, Horrorfilme und Musicals entstanden, die dem spezifischen Charakter und der Geschichte der Stadt verpflichtet sind.
Im Folgenden sollen zehn Filme vorgestellt werden, die zeigen, wie Hongkong zu dem geworden ist, was es ist, und um was in seinen Straßen und Shopping Malls gerade gekämpft wird.
Rouge (Stanely Kwan, 1988)
Stanley Kwans "Rouge" bezieht sich auf einen gleichnamigen Film vom Regisseur Lai Pak-hoi aus dem Jahr 1925. Dieser gilt als erster abendfüllender Spielfilm, der von einer Filmfirma aus Hongkong produziert wurde, und wird in der Literatur oft als Beginn des Hongkong-Kinos genannt. Der Film von Lai Pak-hoi ist – wie viele Filme aus der Frühzeit des chinesischen Kinos – verschollen. In das Vakuum, das die Abwesenheit des möglichen Gründungsfilms des Hongkong-Kinos hinterlässt, stieß Stanley Kwan 1988 mit seinem Film "Rouge", der heute zu den Klassikern des Hongkonger Autorenfilms zählt. Zum legendären Status des Films trug auch der frühe Tod der beiden Hauptdarsteller, Anita Mui und Leslie Cheung, bei: Cheung beging 2003 Selbstmord und Anita Mui starb im selben Jahr an Krebs.
Die Kurtisane Fleur (Anita Mui) und der Playboy Chan Chen-pang (Leslie Cheung) lernen sich in den Opiumhöhlen der dekadenten 1930er Jahren Hongkongs kennen und lieben. Weil seine Familie die Liaison ablehnt, will das Liebespaar gemeinsam Selbstmord begehen. Sie entschließen sich dazu, eine Überdosis Opium zu schlucken, um sich im Jenseits wieder zu treffen. Fleur stirbt, Chen-pang macht einen Rückzieher. 50 Jahre später kehrt Fleur aus dem Jenseits zurück, um nach ihrem verschollenen Liebhaber zu suchen. Zwei Journalisten werden auf sie aufmerksam und finden Chen-pang schließlich als heruntergekommenen und versoffenen Statisten auf dem Set eines Kung-Fu-Films.
Wenn die Kurtisane Fleur auf der Suche nach ihrem treulosen Geliebten mit seidenen Pantoffeln und traditionellem Cheongsam-Kleid durch die Wolkenkratzerschluchten der 1980er Jahre irrt, weckt sie verschüttete Erinnerungen an ein untergegangenes, orientalisches Hongkong, in dem "Männer viel Geld dafür bezahlten, nur um einmal einen Hals berühren zu dürfen", wie sie erzählt. Da wirkt das bourgeoise Leben der Protagonisten im kapitalistischen Hongkong der Gegenwart plötzlich prosaisch und leer.
Bis heute leidet Hongkong unter Phantomschmerzen, die ausgelöst wurden durch den Totalumbau der Innenstadt und Abriss vieler ikonischer Gebäude. Vom General Post Office (1976) über den Innenstadtflughafen Kai Tak (2004) bis zum Edinburgh Place Ferry Pier mit der berühmten Turmuhr (2007): Was der Entwicklung von Hongkong im Wege stand, wurde gnadenlos und ohne Rücksicht auf seine Historie weggeräumt. Als Wong Kar-Wai für seine in den 1950er Jahren spielenden Filme "In the Mood for Love" (2000) und "2046" (2004) nach authentischen, historischen Schauplätzen suchte, musste er unter anderem nach Macau, Thailand und Shanghai ausweichen.
Das Schwert der gelben Tigerin (King Hu, 1966)
Zur Zeit der Ming-Dynastie treffen in einem Teehaus "Mitten im Nirgendwo" Gangster, Soldaten und Spione aufeinander, die um den entführten Sohn eines Generals kämpfen. Filme dieser Art lieferten in den 1950er und 1960er Jahren eskapistische Unterhaltung für ein bettelarmes Proletariat in Hongkong, aber auch für die chinesische Diaspora in Südostasien und in den USA.
Kung-Fu-Filme waren seit Beginn des chinesischen Kinos eines der beliebtesten Genres. Aber dem Regisseur King Hu gelang es mit diesem Film, den Kampfstil mit der akrobatischen Tradition der chinesischen Oper zusammenzubringen und in die Form eines Kinofilms zu gießen. Wenn seine Kämpfer an Wänden hochlaufen, Saltos schlagen, auf Treppengeländern balancieren oder durch Fenster fliegen, werden alle Register gezogen: versteckte Trampoline und Seile, aber auch eine virtuose, blitzschnelle Filmmontage, wegen der Filmtheoretiker David Bordwell King Hu mit dem sowjetischen Regisseur Sergej Eisenstein vergleicht.
Wenn in den Kampfszenen Alltagsgegenstände wie Essstäbchen, Münzen oder Körbe zu Waffen werden, erinnert das aus heutiger Sicht auch daran, wie die Demonstranten im Hongkong der Gegenwart sich mit einfachsten Mitteln zur Wehr setzen: Taucherbrillen gegen Tränengas, Laserpointer gegen Überwachungskameras, Regenschirme gegen Gummigeschosse, Laubbläser gegen Rauchbomben, Frischhaltefolie gegen Unimogs.
Die Todeskralle schlägt wieder zu (Bruce Lee, 1972)
"Be water, my friend" ist ein Motto der Demonstranten in Hongkong, das ihre Taktik des "führerlosen Aufstands" beschreiben soll. Bei Aktionen will man auf die direkte Konfrontation mit der Polizei verzichten. Stattdessen sollen kurze, unangekündigte Blockaden und Proteste für Aufmerksamkeit sorgen, bevor schnell wieder im Gewimmel der Großstadt verschwunden wird: anonym, flexibel und spontan.
Der Satz stammt von Bruce Lee, Hongkongs erstem internationalen Superstar. In der amerikanischen Fernsehshow "Longstreet", in der er eine Nebenrolle hatte, erklärte er 1971 seine Lebensmaxime: "Empty your mind, be formless, shapeless, like water. Now you put water into a cup, it becomes the cup. You put water into a bottle, it becomes the bottle. You put it in a teapot, it becomes the teapot. Now water can flow, or it can crash. Be water, my friend."
Bruce Lee ist heute als Schauspieler und Kung-Fu-Kämpfer in Erinnerung. Aber Lee war mehr: Er studierte Philosophie an der University of Washington in Seattle, schrieb Gedichte und entwickelte seine eigene Selbstverteidigungstechnik Jeet Kune Do, die er in einer eigenen Schule vermittelte. Auch hier stand das Prinzip im Mittelpunkt, den Dingen ihren Lauf zu lassen und flexibel und ohne vorgegebene Technik oder Dogma zu reagieren. Diese Methode steht in der Tradition des Taoismus und dem Prinzip des Wu wei, dem Handeln durch Nichthandeln.
In San Francisco geboren – dass seine Großmutter Deutsche war, ist bis heute weder widerlegt noch bewiesen –, pendelte er Zeit seines Lebens zwischen Hongkong und den USA hin und her. In Hongkong war er ein Kinderstar, in den USA trat er in den 1960er Jahren in Fernsehserien wie "Batman" und "The Green Hornet" auf, bevor er in Hongkong die vier Actionfilme drehte, die ihn zum Weltstar machten. Der internationale Durchbruch kam mit "Der Mann mit der Todeskralle" (1973), aber der interessantere Film ist "Die Todeskralle schlägt wieder zu" von 1972, bei dem er auch für Drehbuch und Regie verantwortlich war.