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Zur Geschichte Hongkongs

Sabine Dabringhaus

/ 17 Minuten zu lesen

Am 30. Juni 1997 wurde Hongkong nach 156 Jahren Kolonialherrschaft vom Vereinigten Königreich an China zurückgegeben. Es hatte sich anderthalb Jahrhunderte lang separat vom Festland entwickelt und war dennoch eng mit dem Schicksal der chinesischen Nation verbunden.

Am 30. Juni 1997 wurde Hongkong nach 156 Jahren Kolonialherrschaft vom Vereinigten Königreich an China zurückgegeben. Es hatte sich anderthalb Jahrhunderte lang separat vom Festland entwickelt und war dennoch eng mit ihm verbunden geblieben. In der westlichen Literatur wird Hongkong gerne als erfolgreiche Synthese zwischen Ost und West beschrieben. Chinesische Autoren betonen eher den Zusammenstoß zwischen den Kulturen. Für den Westen bot das koloniale Hongkong die Möglichkeit, die chinesische Kultur kennenzulernen. Europäische Kaufleute und Missionare erlebten im 19. Jahrhundert die Kronkolonie als Tor in das chinesische Kaiserreich. Hier konnte man sich sprachlich und kulturell auf das fremde "Reich der Mitte" vorbereiten. Umgekehrt machte sich Hongkongs chinesische Bevölkerung, die seit der Gründung der Kolonie 1841 großenteils vom Festland einwanderte, dank des englischen Erziehungs- und Bildungssystems mit der Kultur des Westens vertraut. Viele chinesische Auswanderer bereiteten sich von Hongkong aus auf ein Leben in Übersee vor.

Vor 1949, dem Gründungsjahr der Volksrepublik China, diente Hongkong als Basis für Gegner der in China herrschenden Kräfte, bis 1911 der Monarchie, danach der Republik. Die lokale chinesische Honoratiorenelite bildete gemeinsam mit den aufgeschlosseneren unter den britischen Kolonialbeamten und westlichen Missionaren eine zunehmend an Einfluss gewinnende Gruppe von transkulturellen Mittelsmännern. Dieser Personenkreis symbolisiert die einzigartige Position Hongkongs zwischen den Kulturen. Es wäre dennoch übertrieben, von einer gelungenen west-östlichen Synthese zu sprechen. Dies zu erläutern, ist das Ziel des folgenden historischen Überblicks.

Vom Fischerdorf zur kolonialen Metropole

Als die ersten Vertreter der britischen Kolonialmacht 1841 die Insel Hongkong besetzten, waren sie keineswegs – wie der lange gepflegte koloniale Gründungsmythos besagte – "Gründerväter", die einen unwirtlichen Felsen eroberten. Bereits Jahrhunderte zuvor hatte sich die Region zu einem interregionalen Handelsknotenpunkt entwickelt, dessen Kontakte bis nach Südostasien, Indien und dem Persischen Golf reichten. Chinesische Archäologen datieren die ersten menschlichen Siedlungen auf das 4. vorchristliche Jahrtausend. Mit der Eroberung der Insel durch die Truppen des ersten chinesischen Kaisers Qin Shi Huang Di (regierte 259 bis 210 v. Chr.) um 214 begann die Assimilierung der lokalen Bevölkerung an die chinesische Kultur. Unter der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) wurde die Region zur Präfektur erhoben. Auf der Flucht vor Eroberern aus dem Norden ließen sich im 12. Jahrhundert fünf Clanfamilien auf der Insel Hongkong nieder. Die Inschriften ihrer Ahnenhallen und Dorftempel sowie Gräberfunde und Genealogien gehören zu den wichtigsten sozialgeschichtlichen Quellen der vorkolonialen Geschichte Hongkongs.

Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in den jeweils von einem Clan beherrschten Dörfern wurde von Marktordnungen geregelt, die in Dorftempeln aufbewahrt wurden. 1394 ließ die Ming-Dynastie Verteidigungsanlagen gegen Piratenüberfälle errichten. Sie wurden 1540 in ein umfassendes Verteidigungssystem der Provinz Guangdong integriert. Die kaiserliche Küstenwache kämpfte von Hongkong aus nicht nur gegen das Piratentum, sondern versuchte ab 1521 auch, das Vordringen der Europäer in die Region zu verhindern, zunächst der Portugiesen, die jedoch einige Jahrzehnte später einen Handelsstützpunkt im nahe gelegenen Macau eröffneten. Der letzte dynastische Machtwechsel in der Geschichte Chinas löste Mitte des 17. Jahrhunderts eine Fluchtbewegung von Angehörigen des über den Südosten Chinas verteilten Hakka-Volkes nach Hongkong aus. Als im Januar 1841 britische Soldaten in Hongkong an Land gingen, lebten dort etwas über 7.000 Menschen, darunter 2.000 "Boatpeople".

Nach dem wichtigsten Handelsgut der Insel, dem Räucherholz (chinesisch: xiang), wurde der Hafen (gang) benannt: Xianggang, "duftender Hafen", wie Hongkong auf Hochchinesisch heute noch heißt. Die Briten übertrugen diesen Namen später vom Hafen auf die gesamte Insel. Mit dem Ausbau des Hafens durch die britische Kolonialmacht begann die städtische Entwicklung Hongkongs, die bis heute anhält. Die Grundlage dafür bildete der Vertrag von Nanjing, mit dem der Erste Opiumkrieg (1839 bis 1842) zwischen China und Großbritannien 1842 formal beendet und die Insel als Kriegsbeute dem Vereinigten Königreich "für alle Zeiten" ("in perpetuity") zugesprochen wurde. Als "Kronkolonie" wurde Hongkong der Londoner Regierung direkt unterstellt – das heißt nicht von Indien aus verwaltet – und fortan von einem Gouverneur autoritär regiert.

Unter dem Schutz britischer Gesetze bauten europäische Kaufleute ihre internationalen Handelsgeschäfte rasch aus, die sie seit Mitte des 18. Jahrhunderts unter restriktiven Bedingungen und strenger chinesischer Aufsicht vom benachbarten Kanton (Guangzhou) aus betrieben hatten. In Dauerkonkurrenz zum gleichzeitig aufstrebenden Shanghai wurde Hongkong zu einem der beiden wichtigsten Export-Import-Zentren an der chinesischen Küste. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch gaben wenige große Firmen den Ton an, allen voran Jardine Matheson & Co., die im Opiumhandel begonnen hatten und bis zur Jahrhundertwende zu einem Konzern gewachsen waren, der nicht nur im Handel aktiv war, sondern auch in den Bereichen Industrie, Finanzen, Schifffahrt und Eisenbahn. Hongkong entwickelte sich in einem doppelten Sinne zu einer Freihandelsmetropole: Einerseits verzichtete der koloniale Staat darauf, den Handel durch Zölle zu regulieren; andererseits diente die Kolonie als Stützpunkt zur "Öffnung" des chinesischen Marktes für ausländische Wirtschaftsakteure, die dort vielfältige rechtliche Privilegien genossen.

Die ausländischen Firmen kooperierten mit einheimischen Partnern, deren Sprachkenntnisse, Vertrautheit mit chinesischen Wirtschaftsbräuchen, Kontakte ins Binnenland und oft auch Kapitalkraft für erfolgreiche Geschäfte unerlässlich waren. So entstand eine kleine chinesische Händlerelite, die von der kolonialen Ordnung profitierte. Die Zusammenarbeit zwischen der britischen Kolonialregierung und chinesischen Honoratioren wurde zu einem wichtigen Element und Instrument einer langfristigen Stabilisierung der Kolonialherrschaft. Das Laissez-faire-Prinzip, das auch die chinesische Oberschicht für sich zu nutzen wusste, stellte eine funktionierende Strategie dar, um die ethnisch in Chinesen und Europäer gespaltene Gesellschaft Hongkongs zusammenzuhalten. Es ließ der chinesischen Bevölkerung der Stadt viel wirtschaftlichen und sozialen Gestaltungsraum.

Die starke Stellung des Gouverneurs blieb von gesellschaftlicher Dynamik unberührt und wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein kaum angefochten. Über ihn lief die gesamte Korrespondenz zwischen der Kolonialverwaltung und London. Zugleich war er Londons einzige Informationsquelle über die Situation vor Ort. Eine Ratsversammlung, der Legislativrat, hatte nur eine beratende Rolle. Seine Mitglieder wurden vom Gouverneur ernannt. Die Kolonialverwaltung wuchs kontinuierlich: Allein zwischen 1914 und 1939 stieg die Zahl der Stellen von 4447 auf 10004, bei wachsendem Anteil chinesischer Beschäftigter. Unter britischen Kolonialbeamten und Armeeangehörigen galt Hongkong als wenig attraktiver Posten. Sein tropisches Klima und die schlechten sanitären Zustände führten häufig zu Epidemien mit vielen Todesopfern auch unter der privilegierten ausländischen Bevölkerung. Soziale Dienste im Gesundheits- und Erziehungsbereich, die sich an die Einheimischen wandten, überließ die Kolonialregierung gerne den zahlreichen christlichen Missionsgesellschaften.

Hongkong wurde zu einem wichtigen Arbeitsmarkt für Seeleute und Transportarbeiter. Es wirkte als Migrationsmagnet für die näher liegenden Provinzen. So wurden die ursprünglichen Inselbewohner wenige Jahre nach der Koloniegründung zur Minderheit. Die Wohlhabenderen unter den Zuwanderern vom Festland schlossen sich in kommerziellen Vereinigungen (hongs) zusammen, von denen es 1859 bereits 65 gab. Sie engagierten sich weiterhin für ihre Heimatorte und spendeten großzügig für philanthropische Projekte, öffentliche Arbeiten und medizinische Hilfsaktionen sowohl in der alten Heimat als auch in der Kolonie. Dennoch hatten sie zumeist freiwillig den chinesischen Staat verlassen und waren nicht länger Untertanen des Kaisers, sondern nunmehr der Queen Victoria. Spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts hatte diese soziale Gruppe eine eigene Identität als Hongkong-Chinesen entwickelt. Nicht alle Zuzügler blieben in der Stadt. Hongkong entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten chinesischen Auswandererhäfen. 1,8 Millionen Chinesen wanderten zwischen 1855 und 1900 von dort allein in die Vereinigten Staaten aus. Die schon länger in Südostasien, Amerika und Australien etablierten Auslandschinesen förderten den Ausbau von globalen Handelsnetzwerken mit Hongkong als wichtigem Knotenpunkt. Chinesische Import-Export-Firmen, von denen es 1881 bereits 395 gab, organisierten den internationalen Warentransfer in wachsender Unabhängigkeit von ausländischen Handelshäusern und oft in Konkurrenz mit ihnen. Solange die öffentliche Ordnung gewährleistet blieb, ließ die britische Kolonialregierung ihren chinesischen Untertanen einen hohen Grad an persönlicher und geschäftlicher Autonomie.

Koloniale Gesellschaft

Trotz der herausgehobenen Stellung des Gouverneurs war das Kolonialsystem kein "starker" Staat. Nachbarschaftsvereinigungen (kaifong) und Tempelgemeinschaften bildeten den Kern einer unentbehrlichen lokalen Selbstverwaltung. Eines der zentralen Probleme war von Anfang an die hohe Kriminalität in der Kolonie. Die britisch-indische Polizei verstand meistens kein kantonesisches Chinesisch und mied bestimmte Gegenden. Bevölkerungsproteste gehörten zu den zentralen Elementen der Geschichte Hongkongs und blieben keineswegs immer erfolglos. Bereits 1844 löste die Einführung einer Kopfsteuer, die den Zustrom chinesischer Migranten drosseln und generell die Kontrolle über die Bevölkerung erhöhen sollte, den ersten "Generalstreik" aus. Die Rücknahme der Maßnahme durch die Kolonialregierung war ein kollektives Erfolgserlebnis, das das Gemeinschaftsgefühl unter den Chinesen stärkte – sowie nicht zuletzt auch die Solidarität zwischen den Zuwanderern vom Festland und der ortansässigen chinesischen Bevölkerung.

Die Tempelgemeinschaften und Kaufmannsgilden sowie die von Komitees geleiteten Distriktwachen bildeten Grundelemente der chinesischen Gesellschaftsstruktur Hongkongs. Darüber hinaus kam dem 1872 gegründeten Tung-Wah-Krankenhaus innerhalb der chinesischen Selbstverwaltung der Stadt eine herausragende Bedeutung zu. Es bot neben medizinischer Versorgung auch soziale Dienste an: Für Arme und Kranke wurden Unterkünfte geschafften, für die Toten Bestattungen organisiert. Schiffsbrüchige, misshandelte Frauen, Waisenkinder und Obdachlose fanden hier ebenso Zuflucht wie enttäuschte Rückkehrer aus Übersee. Tung-Wah engagierte sich außerdem philanthropisch in verschiedenen Krisengebieten des Chinesischen Reiches. Seine führenden Köpfe erhielten dafür zahlreiche kaiserliche Ehrungen und Titel. Die Erfolge Tung-Wahs symbolisieren den Aufstieg einer lokalen Elite von Hongkong-Chinesen, die sich nicht nur unter vielen ihrer Landsleute Ansehen erwarb, sondern auch von der Kolonialregierung anerkannt wurde. Zahlreich sind die Fälle, in denen sie sich mit der Kolonialmacht gegen die Interessen und Proteste der ärmeren Schichten verbündete.

Der überwiegende Teil der chinesischen Bevölkerung verdiente seinen Lebensunterhalt als Kleinhändler, Ladenbesitzer, Dienstboten oder Arbeiter (kulis) und erlebte die britische Kolonialherrschaft als bedrückend und ungerecht. So waren Proteste und Streiks häufig. Beispielsweise löste im Juli 1872 die Erhebung von Lizenzgebühren für die Verwaltung von Kuli-Quartieren einen Streik der Lastenträger aus, der den Hafenbetrieb zum Erliegen brachte und nur durch Vermittlung der Kaifong-Führer beigelegt werden konnte. Ausländerfeindliche Proteste bezogen sich häufig auch auf politische Ereignisse in China selbst wie den Chinesisch-Französischen Krieg von 1884/85, der zu Streiks der Hafenarbeiter führte. Hongkongs chinesische Bevölkerung ließ sich leicht politisch mobilisieren.

Das britische Erziehungs- und Bildungswesen trug maßgeblich zur Entwicklung einer eigenständigen, vom Festland unterschiedenen chinesischen Identität bei. Wer es sich leisten konnte, schickte seine Kinder auf eine der zahlreichen Privatschulen oder in eine Missionsschule. Der Zugang zur englischen Schulbildung wurde von vielen Chinesen der Oberschicht als Vorbereitung für ein Auslandsstudium genutzt. Je wichtiger Europa-Kompetenz auch in China wurde, desto mehr lockten für Rückkehrer höhere Positionen in der Verwaltung des Kaiserreichs. Die westlich erzogene Elite ethnischer Chinesen blieb allerdings lange von den sozialen Aktivitäten der Upperclass ausgeschlossen: nur ein Beispiel für den für britische Kolonien charakteristischen Alltagsrassismus. Umgekehrt waren Missionare die einzige Gruppe von Ausländern, die aktiv Kontakt zur chinesischen Bevölkerung aufnahmen und ihre Sprache und Schrift lernten. Einige von ihnen publizierten Wörterbücher und Übersetzungen chinesischer Klassiker und leisteten einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Sinologie.

Das Verhältnis der Hongkong-Chinesen zu ihren Kolonialherren blieb ambivalent: Einerseits genossen sie – im Gegensatz zu ihren von Aufständen, Bürgerkriegen und Naturkatastrophen bedrohten Landesleuten – die Sicherheit der Kronkolonie, andererseits demonstrierten sie immer wieder Solidarität mit Reformern und Rebellen in China, denen die offizielle britische Politik oft distanziert gegenüber stand. Die Kolonialregierung selbst lehnte lange Zeit eine stärkere chinesische Beteiligung im Herrschaftsapparat ab. Die wachsende wirtschaftliche Stärke der chinesischen Elite führte jedoch im späten 19. Jahrhundert zu ersten Zugeständnissen. 1880 wurde der im britischen Singapur geborene und in Großbritannien ausgebildete Jurist Wu Tingfang als erster Chinese in den Legislativrat berufen: ein erster Schritt der Inklusion, dem langsam weitere folgten.

Hongkongs Bevölkerung wuchs von 33.000 im Jahre 1851 auf 386.000 im Jahre 1901 und erreichte 1931 um die 840.000. Der starke Bevölkerungsanstieg und die Ausdifferenzierung des städtischen Wirtschaftslebens machten die Gesellschaft der Kolonie komplexer und heterogener. Die Spannweite gesellschaftlicher Formen reichte von kriminellen und im Untergrund tätigen Geheimgesellschaften wie den Triaden, die ihre Mitglieder vor allem aus den Unterschichten anzogen, bis zu einer um 1900 entstehenden neuen Elite von jungen Geschäftsleuten, geschulten Fachkräften und Intellektuellen, die modernisierungsorientiert und offen gegenüber der westlichen Kultur waren. Koloniale Konflikte wie der Chinesisch-Japanische Krieg (1894/95), der Boxeraufstand (1900) und die antiimperialen Boykottbewegungen von 1905 bis 1908 trugen zu ihrer Politisierung bei.

Hongkong und die chinesische Revolution

Chinas Niederlagen in den Kriegen gegen die westlichen Kolonialmächte und Japan riefen auch in Hongkong Unterstützung für die Reforminitiativen auf dem Festland hervor, die Chinas Widerstandskraft stärken sollten. Die breite Bevölkerung reagierte mit ausländerfeindlichen Boykottaktionen und Streiks; die gebildete Oberschicht forderte institutionelle Reformen am maroden Herrschaftssystem der mandschurischen Qing-Dynastie. Hongkongs Reformer erlebten den britischen Liberalismus in ihrer Heimatstadt; viele von ihnen sahen in der Übernahme von rule of law nach westlichem Vorbild und eines konstitutionellen Regierungssystems die Rettung Chinas. Aus ihrer Perspektive bildeten "bürgerliche" Geschäftsleute und Honoratioren das Rückgrat einer modernen Nation. Zwar befürchteten sie eine koloniale Aufteilung Chinas unter den Imperialmächten, hofften aber zugleich auf Großbritannien als Vorbild und Helfer bei der Rettung des zerfallenden chinesischen Staates.

Eine Gruppe von Revolutionären um Sun Yat-sen gründete 1895 in Hongkong die "Gesellschaft zur Wiederherstellung von Chinas Blüte" (xingzhong hui) und plante von der Kolonie aus einen Aufstand im von Unruhen erschütterten benachbarten Guangdong. Als dieser scheiterte, wurden die Revolutionäre aus Hongkong verbannt. Zwischen 1895 und 1911 wurden acht revolutionäre Erhebungen auf dem chinesischen Festland von Hongkong aus organisiert. Die Kronkolonie blieb ein Sammelbecken antidynastischer Kräfte. Im Rückblick erklärte Sun Yat-sen 1923, dass erst der extreme Kontrast zwischen Frieden und Ordnung in Hongkong und Chaos und Korruption in China ihn zum Revolutionär gemacht hätte. Chinas frühe revolutionäre Presse entwickelte sich von der Kronkolonie aus, da sie dort viel offener zum revolutionären Nationalismus gegen die als Fremdherrschaft empfundene Qing-Dynastie in Peking aufrufen konnte. Auf diese Weise leistete die Stadt einen wichtigen Beitrag zur frühen revolutionären Entwicklung in China.

Die Kolonialregierung schritt allerdings energisch ein, sobald Agitatoren aus Kanton die Bevölkerung der Stadt zu antibritischen Ausschreitungen mobilisierten. Gleichzeitig nutzte London die angespannte Krisenlage in China zur Expansion ins Umland der Kronkolonie: Am 9. Juni 1898 besiegelte eine chinesisch-britische Vereinbarung die Verpachtung für 99 Jahre der New Territories, des nördlichen Teils der Kowloon-Halbinsel. Die Südspitze der Halbinsel war 1860 nach Chinas Niederlage im Zweiten Opiumkrieg (1856 bis 1860) an Großbritannien abgetreten worden.

Als im Oktober 1911 ein Aufstand in der zentralchinesischen Stadt Wuchang (heute ein Teil der Metropole Wuhan) das Ende der Qing-Dynastie einleitete, reagierte die Hongkonger Bevölkerung sofort: Tausende Männer schnitten sich ihren Zopf ab, das Symbol mandschurischer Herrschaft. Bei Ausschreitungen wurden Läden geplündert, Polizisten mit Steinen beworfen und Europäer auf der Straße angegriffen. Die Kolonialregierung gab den Polizeikräften weitgehende Vollmachten und verstärkte ihre Truppen durch Einheiten aus Indien. 1912 verbot sie ihren chinesischen Untertanen, Delegierte zur Nationalversammlung der neu gegründeten Chinesischen Republik zu senden. Zugleich hatte die Revolution von 1911 auch in Hongkong ein chinesisches Nationalbewusstsein entfacht und weite Teile der chinesischen Bevölkerung politisiert. Wie lautstarke Forderungen nach einer Rückgabe der Kronkolonie an China zeigen, die erstmals im Dezember 1911 erhoben wurden, war der gegen die Qing-Dynastie gerichtete Anti-Mandschurismus der Jahrhundertwende innerhalb kürzester Zeit in einen die Briten herausfordernden Antikolonialismus übergegangen.

Wachsende Flüchtlingsströme aus China ließen Hongkongs Bevölkerung zwischen 1911 und 1921 auf über 625.000 ansteigen. Die katastrophalen sanitären Bedingungen führten zum Ausbruch von Epidemien. Die Inflation trug zu sozialen Unruhen bei. Die 1920er Jahre waren von zahlreichen Streikwellen geprägt, die zeitweise das gesamte Arbeitsleben der Stadt zum Stillstand brachten und vor allem den Hafenbetrieb trafen. Angestellte der europäischen Unternehmen und britische Marinesoldaten hielten in Krisenzeiten die wichtigsten öffentlichen Dienste aufrecht.

Hongkong war direkt von Unruhen auf dem chinesischen Festland betroffen. 1926 zwang ein Boykott britischer Waren in Kanton den internationalen Handelsverkehr zu Umwegen über Shanghai und die nordchinesischen Häfen. In der Folge brach Hongkongs Schiffsverkehr um 60 Prozent ein. Nach einem Machtwechsel der Lokalregierung in Kanton (1927) und während des folgenden Jahrzehnts, der sogenannten Nanjing-Dekade (1927–1937), als die Nationalregierung der Guomindang unter General Chiang Kaishek die stärkste politische Kraft in China war und Proteste aller Art wirksam unterdrückte, entspannte sich auch in Hongkong die Lage.

Vom japanischen Kriegsimperium zur Gründung der Volksrepublik

Am 7. Dezember 1941 überfiel die japanische Luftwaffe die US-Pazifikflotte im Hafen von Pearl Harbor auf Hawaii. Ein Tag später begann Japans Angriff auf Hongkong. Am ersten Weihnachtstag 1941 kapitulierte die britische Kolonialregierung. Damit endete eine Epoche. Zwar stellte Großbritannien nach Kriegsende seine koloniale Herrschaft mit stillschweigender chinesischer und US-amerikanischer Duldung wieder her, jedoch geschah dies im Zeitalter von Dekolonisation und Kaltem Krieg unter ganz neuen Vorzeichen.

Während des Zweiten Weltkriegs, der in Ostasien bereits mit dem japanischen Angriff auf China am 7. Juli 1937 begonnen hatte, erfolgte ein tiefgreifender Wandel von Hongkongs internationaler Position. Nach Kriegsbeginn hatte sich die Kronkolonie zunächst zum wichtigsten Importplatz für Waffen entwickelt, die von der unterlegenen chinesischen Armee dringend benötigt wurden. 60.000 Tonnen Militärinventar sollen monatlich ins Landesinnere geschleust worden sein. Eine erneute dramatische Flüchtlingswelle, die Hongkongs Bevölkerung bis September 1939 auf über zwei Millionen Menschen anwachsen ließ, rief große Versorgungsprobleme hervor. Da Hongkong den Handelsverkehr der chinesischen Küstenstädte übernahm, die inzwischen japanischer Militärkontrolle unterlagen, und da finanzkräftige Kaufleute und Unternehmer aus der mittelchinesischen Metropole Shanghai in die Kronkolonie flohen, brachte der Krieg anfangs einen wirtschaftlichen Aufschwung mit sich. Die Zahl der Fabriken stieg von 1936 bis 1939 von 541 auf 948.

Hongkong war weiterhin eng mit dem Schicksal der chinesischen Nation verbunden. Schulen wurden vom Festland nach Hongkong verlegt und ihre Schüler in Sicherheit gebracht. Alle Schüler der Stadt durchliefen patriotische Erziehungskampagnen. Hongkongs Presse, sowohl in englischer wie in chinesischer Sprache, schürte den antijapanischen Widerstandsgeist. Die im September 1937 von der Handelskammer ins Leben gerufene Hongkong Chinese War Relief Association organisierte einen Hilfsfonds, dessen Einnahmen der Chinesischen Nationalregierung übergeben wurden. Große Teile der Bevölkerung Hongkongs wurden im Krieg mobilisiert. Nachdem am 12. Oktober 1938 die Japaner Kanton eingenommen hatten, rückte die Kronkolonie in die vorderste Frontlinie.

Die vierjährige Übergangszeit, in der Hongkong intensiv, aber indirekt in das Kriegsgeschehen verwickelt war, endete mit der Kapitulation der britischen und kanadischen Truppen am 25. Dezember 1941. 7000 britische Soldaten und Zivilbeamte wurden interniert. Hongkong wurde nun Teil des japanischen Kriegsimperiums. Die japanischen Besatzer herrschten mithilfe ihrer brutalen Militärpolizei über die Stadt, unterstützt von kollaborierenden chinesischen Gremien. In den Schulen wurde Japanisch als Pflichtsprache eingeführt. Die Bevölkerung wurde in einer ganzen Reihe von neu geschaffenen Institutionen mit japanischen Moralvorstellungen indoktriniert. Die Japaner inszenierten sich – wie überall sonst in ihrem Imperium – als Befreier vom Joch des europäischen Kolonialismus. In ihrem Verhältnis zu den Bewohnern Hongkongs war jedoch von asiatischer Solidarität wenig zu spüren. Die japanische Herrschaft stellte die britische an Grausamkeit und Arroganz weit in den Schatten.

Mit Kriegsende wurden die früheren Verhältnisse wiederhergestellt. Am 30. August 1945, also drei Wochen nach dem Abwurf der zweiten Atombombe (auf Nagasaki), kehrte die britische Flotte nach Hongkong zurück. Am 16. September übergab das japanische Militär in einer Kapitulationszeremonie die Kronkolonie wieder an Großbritannien. Die britischen Administratoren nahmen ihre alten Funktionen wieder ein, einige von ihnen direkt aus japanischen Internierungslagern. Da etwa eine Million Chinesen während der japanischen Besatzungszeit in die Provinz Guangdong abgeschoben worden waren, lebten bei Kriegsende nur noch 600.000 Chinesen in der Stadt. Eine Interimsverwaltung organisierte den zügigen Wiederaufbau. Sie beauftragte die Hongkong and Shanghai Banking Corporation (HSBC, heute eine der größten Banken der Welt) mit der Stabilisierung der Währung. Staatliche Fonds förderten die Reaktivierung öffentlicher Einrichtungen. 1946 erreichte der Handel wieder 60 Prozent des Vorkriegsniveaus. Hongkong erhielt mit Cathay Pacific eine eigene private Fluglinie.

Viele der Deportierten und Geflohenen kehrten nach Hongkong zurück. Ende 1947 war die Bevölkerung bereits wieder auf 1,8 Millionen gestiegen. Die Wiederinbesitznahme der britischen Kronkolonie war auf keinen nennenswerten chinesischen Widerstand gestoßen. Sowohl die Kommunisten wie auch die Nationalisten waren nach Kriegsende erst einmal auf die eigene Machtkonsolidierung konzentriert. In China rief Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik aus und trieb in den 1950er Jahren den kommunistischen Wandel voran. Sein Rivale Chiang Kaishek hatte sich nach Taiwan zurückgezogen und war dort mit dem Aufbau eigener staatlicher Strukturen beschäftigt.

Schluss

War das koloniale Hongkong bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem ein Tor nach China hinein gewesen, so veränderte sich nach 1949 das geopolitische Umfeld und mit ihm die ökonomische Funktion der Kronkolonie. Mit der Umgestaltung der chinesischen Wirtschaft zu einer sozialistischen Planwirtschaft, die anfangs stark auf die UdSSR bezogen war, lockerten sich die Beziehungen zwischen der Kolonie und ihrem riesigen Hinterland. Die zahlreichen Industriellen, die erst vor den Japanern und wenige Jahre später vor den Kommunisten aus dem dynamischen Wirtschaftsraum um Shanghai geflohen waren, trugen mit ihren Fabriken, neuen Technologien, Managementstrukturen und Facharbeitern zum wirtschaftlichen Aufstieg Hongkongs bei, das sich erstmals auch zu einem eigenständigen Industriestandort entwickelte. Hongkongs preiswerte Transportbedingungen, seine niedrigen Steuern, schwachen Gewerkschaften und günstigen Banken- und Versicherungskonditionen sowie seine politische und juristische Stabilität schufen günstige Voraussetzungen für den Aufstieg der international bedeutsamen Handelsmetropole nun auch als Industrieproduzent und Finanzzentrum. Für die Volksrepublik China wiederum, aus der nach der Staatsgründung alle westlichen Geschäftsleute und Missionare vertrieben worden waren, wurde die Kronkolonie zum wichtigsten Kontaktpunkt mit dem Westen, also zu einem Brückenkopf mit umgekehrter Polung. Ein imperialistisches Relikt aus der Zeit des Opiumkriegs erwies sich als nützliches Instrument für die internationalen Beziehungen der neuen kommunistischen Großmacht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Law Wing Sang, Collaborative Colonial Power. The Making of the Hong Kong Chinese, Hongkong 2009.

  2. Zur These der "intermediaries of capital" vgl. ausführlich David R. Myer, Hong Kong as a Global Metropolis, Cambridge 2000, S. 5–27.

  3. Vgl. John M. Carroll, A Concise History of Hong Kong, Lanham 2007, S. 9–32; Christopher Munn, Anglo-China. Chinese People and British Rule in Hong Kong, 1841–1880, Richmond 2001.

  4. Vgl. Yu Shengwu/Liu Cunkuan, Shijiu shiji Xianggang [Hong Kong im 19. Jahrhundert], Peking 1994.

  5. Vgl. David Faure, The Tangs of Kam Tim. A Hypothesis on the Rise of a Gentry-Family, in: ders./James Hayes/Alan Birch (Hrsg.), From Village to City. Studies on the Traditional Roots of Hong Kong Society, Hongkong 1984, S. 24–31.

  6. Vgl. Kai Cheong Fok, Lectures on Hong Kong History. Hong Kong’s Role in Modern Chinese History, Hongkong 1984, S. 12–23.

  7. Vgl. Saw Swee-Hock/Chiu Wing Kin, Population Growth and Redistribution in Hong Kong, 1841–1975, in: Southeast Asian Journal of Social Science 4/1975, S. 124; David Faure et al., The Hong Kong Region According to Historical Inscriptions, in: ders. et al. (Anm. 5), S. 47f. Boatpeople oder Tanka war eine sinnierte ethnische Gruppe, die auf Booten entlang der Küsten Südchinas lebte.

  8. Vgl. He Hongjing (Hrsg.), Xianggang de zuotian, jintian he mingtian [Hongkong: Gestern, heute und morgen], Peking 1994, S. 16f.

  9. Stephen R. Platt, Imperial Twilight. The Opium War and the End of China’s Last Golden Age, New York 2018.

  10. Vgl. Fujio Mizuoka, Contriving "laissez-faire". Conceptualising the British Colonial Rule of Hong Kong, in: City, Culture and Society 5/2014, S. 23–32.

  11. Vgl. Richard J. Grace, Opium and Empire. The Lives and Careers of William Jardine and James Matheson, Montreal 2014.

  12. Vgl. ausführlich Solomon Bard, Traders of Hong Kong. Some Foreign Merchant Houses, 1841–1899, Hongkong 1993; Feng Banchan, Xianggang yingzi caituan [Die englische Handelselite Hongkongs], Hongkong 1997; ders., Xianggang huazi caituan 1841–1997 [Die chinesische Handelselite Hongkongs], Hongkong 1997, insb. S. 1–48; John M. Caroll, Edge of Empires. Chinese Elites and British Colonials in Hong Kong, Cambridge MA 2005.

  13. Vgl. Norman J. Miners, The Government and Politics of Hong Kong, Hongkong 1975, S. 62–78.

  14. Vgl. Carl T. Smith, A Sense of History. Studies in the Social and Urban History of Hong Kong, Hongkong 1995, S. 283–350.

  15. Vgl. Helen F. Siu, Cultural Identity and the Politics of Difference in South China, in: Daedalus 122/1993, S. 19–43; Cai Rongfang, Xianggang ren zhi Xianggang shi, 1841–1945 [Die Geschichte Hongkongs aus der Perspektive der Hongkonger Bevölkerung], Hongkong 2001; David Faure, Colonialism and the Hong Kong Mentality, Hongkong 2003.

  16. Vgl. Jung-fang Tsai, Hong Kong in Chinese History. Community and Social Unrest in the British Colony, 1842–1913, New York 1993, S. 22–38; Gary G. Hamilton (Hrsg.), Cosmopolitan Capitalists. Hong Kong and the Chinese Diaspora at the End of the Twentieth Century, Seattle 1999.

  17. Vgl. Fok (Anm. 6), S. 104.

  18. Vgl. Elizabeth Sinn, Power and Charity. The Early History of the Tung Wah Hospital, Hongkong 1989.

  19. Vgl. Tsai (Anm. 16), S. 81.

  20. Vgl. Linda Pomerantz-Zhang, Wu Tingfang (1842–1922). Reform and Modernization in Modern Chinese History, Hongkong 1992, S. 58.

  21. Vgl. Saw/Chiu (Anm. 7), S. 131 (Tab. 1).

  22. Vgl. John M. Carroll, Colonialism, Nationalism, and Difference: Reassessing the Role of Hong Kong in Modern Chinese History, in: Chinese Historical Review 12/2006, S. 92–104.

  23. Vgl. Kevin Lane, Sovereignty and the Status Quo. The Historical Roots of China’s Hong Kong Polity, Boulder 1990, S. 36.

  24. Vgl. Norman J. Miners, Hong Kong under Imperial Rule, 1912–1941, Hongkong 1987, S. 10.

  25. Vgl. ausführlich Tony Banham, Not the Slightest Chance. The Defence of Hong Kong, 1941, Hongkong 2003; Philip Snow, The Fall of Hong Kong. Britain, China and the Japanese Occupation, New Haven 2004; Andrew J. Whitfield, Hong Kong, Empire and the Anglo-American Alliance at War, 1941–1945, Hongkong 2001.

  26. Britische Beobachter nannten Hongkong fortan das "Berlin des Ostens". Vgl. auch Wm. Roger Louis, Hongkong: The Critical Phase, 1945–1949, in: American Historical Review 102/1997, S. 1052–1084; Chi-kwan Mark, Defence or Decolonisation? Britain, the United States, and the Hong Kong Question in 1957, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 33/2005, S. 51–72.

  27. Vgl. Carroll (Anm. 3), S. 129f.

  28. Vgl. ausführlich Catherine R. Schenk, Hong Kong as an International Financial Centre. Emergence and Development, 1945–1965, London 2001.

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ist Professorin für Ostasiatische Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. E-Mail Link: sabine.dabringhaus@geschichte.uni-freiburg.de