Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Widerspenstig, aber unverzichtbar | Hongkong | bpb.de

Hongkong Editorial Die unvollendete Revolution "Generation HK". Protest und Identität in Hongkong Die Schattenseite der Protestbewegung. Wie die Demonstranten an Rückhalt verloren Ein Land, zwei Systeme. Genese und Auslegung eines Schlüsselkonzepts Widerspenstig, aber unverzichtbar. Wirtschaftsstandort Hongkong Zur Geschichte Hongkongs Nationalkino ohne Nation: Der Hongkong-Film - Essay Karte

Widerspenstig, aber unverzichtbar Wirtschaftsstandort Hongkong

Heribert Dieter

/ 16 Minuten zu lesen

Hongkong ist einer der attraktivsten Finanzplätze der Welt und hat eine herausragende Bedeutung für die chinesische Wirtschaft. Gleichzeitig leben viele Hongkonger und Hongkongerinnen unter schwierigen sozialen Bedingungen, was die Verbitterung mit ihrer Regierung bestärkt.

Die anhaltenden Proteste in Hongkong haben die Stadt auf Dauer verändert. Bis zum Sommer 2019 war Hongkong eine eher unpolitische Stadt, in der die wirtschaftliche Entwicklung im Vordergrund stand. Zwar gab es schon in früheren Jahren Demonstrationen gegen die Regierung, aber sowohl die Zahl der Teilnehmer als auch die Dauer der Unruhen haben ein neues Maß erreicht. Für die chinesische Zentralregierung kommt die Entwicklung höchst ungelegen.

Präsident Xi Jinping hat, neben dem Konflikt mit den USA und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Landes, nun auch noch mit anhaltenden Protesten in der Sonderverwaltungszone Hongkong zu kämpfen. Viele Beobachter erwarteten schon früh eine Intervention der chinesischen Armee und damit eine Wiederholung der blutigen Niederschlagung der Proteste wie 1989 am Tian’anmen-Platz. Wenngleich niemand eine solche Maßnahme ausschließen kann, erscheint sie doch äußerst unwahrscheinlich. Der Grund hierfür ist die herausragende Bedeutung des Finanzplatzes Hongkong für die chinesische Wirtschaft. Würde Hongkong seinen Sonderstatus verlieren, müsste die Kommunistische Partei Chinas gewaltige wirtschaftliche Verwerfungen bewältigen, die die eigene Herrschaft infrage stellen könnten.

Doch ebenso wichtig wie die Frage nach den Folgen der möglichen Beendigung des Sonderstatus von Hongkong ist die Frage, warum die Proteste auch nach über einem halben Jahr nichts von ihrer Wucht eingebüßt haben. Dabei geht es weniger um die vergleichsweise kleine Zahl von gewaltbereiten Kämpfern, sondern um die anhaltende bürgerliche Unterstützung der Proteste. Warum sind die Bewohner Hongkongs trotz vergleichsweise hoher Einkommen, langer Lebenserwartung und einigen beachtlichen Sozialleistungen so unzufrieden mit der Regierung, dass sie ihr nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Kommunalwahlen vom 24. November 2019 die Unterstützung verweigerten? Warum kommt die Stadt nicht zur Ruhe? Gefährden die Unruhen letztlich nicht auch den Wirtschaftsstandort Hongkong?

Hongkongs Vorteile

Hongkongs Bedeutung für China fußt auf zwei Funktionen: Zum einen ist Hongkong der einzige chinesische Finanzplatz, der keine Beschränkungen des Kapitalverkehrs aufweist und sich damit strukturell vom Festland unterscheidet. Zum anderen besitzt Hongkong einen wichtigen Hafen, über den auch aus steuerlichen Gründen erhebliche Exporte vom Festland abgewickelt werden.

Die Wirtschaftsverfassung Hongkongs ist ein Erbe der Kolonialzeit. Für Großbritannien war die Kronkolonie auch deshalb nützlich, weil dort ohne Rücksicht auf soziale Belange eine sehr liberale Wirtschaftspolitik umgesetzt werden konnte. Seit der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China 1997 hat sich diese Situation nicht geändert. Hongkong steht weiterhin auf Platz 1 des Index zur wirtschaftlichen Freiheit, der von der US-amerikanischen Heritage Foundation erstellt wird. Hongkong ist also einer der attraktivsten Standorte weltweit, um Geschäfte abzuwickeln und Gewinne zu erzielen. Allerdings hat diese Politik für die Einwohner der Stadt auch gravierende Nachteile, die noch genauer betrachtet werden.

Heute ist Hongkong aus Pekinger Sicht ein Sonderfall, der China indes viele Vorteile verschafft. Die Formel "Ein Land, zwei Systeme" beschränkt sich nicht nur auf die politische Dimension, sondern bezieht sich auch auf das Finanzsystem. Es gibt in China keinen mit Hongkong vergleichbaren Finanzplatz. Eine Reihe von Faktoren führt dazu, dass die Sonderverwaltungszone für die Volksrepublik unverzichtbar ist.

Der wichtigste Unterschied zwischen den Finanzplätzen auf dem Festland und Hongkong betrifft den Kapitalverkehr. Während der Export von Kapital auf dem Festland strengen Regeln unterliegt, sind Kapitalexporte- und -importe in Hongkong unbeschränkt. Dies ist ein kaum zu überschätzender Vorteil. Gerade in der Phase zunehmender Kontrolle ausländischer Unternehmen im Reich Xi Jinpings ist es für Unternehmen nutzbringend, ohne Auflagen der Regierung Kapital exportieren zu können. Deshalb haben mehr als 2200 europäische und 1344 amerikanische Unternehmen den regionalen Hauptsitz ihrer Unternehmen in Hongkong und nicht in Shenzhen oder Shanghai.

Allerdings sind es keineswegs nur ausländische Unternehmen, die von den Vorzügen des Finanzplatzes profitieren. Viele Unternehmen vom Festland nutzen Hongkong, um dort Kredite in US-Dollar, Euro oder Yen aufzunehmen. Entfiele diese Möglichkeit, wären diese Firmen gezwungen, sich in einheimischer Währung zu verschulden. Dies ist zwar grundsätzlich möglich, hat aber zwei Nachteile. Zum einen müssen für Renminbi-Kredite erheblich höhere Zinsen gezahlt werden, zum anderen ist die Verfügbarkeit von Krediten gerade für private Unternehmen auf dem Festland stark eingeschränkt.

Für chinesische Unternehmen vom Festland ist Hongkong der mit Abstand wichtigste Finanzplatz für die Emission von Unternehmensanleihen. In der Sonderverwaltungszone können die Firmen Anleihen mit längerer Laufzeit als auf dem Festland absetzen, und sie können mit diesen Anleiheemissionen Dollar, Euro oder Yen einnehmen, mit denen sie Firmenübernahmen in OECD-Ländern finanzieren können.

Unternehmen schätzen auch das Wechselkursregime Hongkongs. Seit 1983 ist der Hongkong-Dollar (HKD) in einem currency board mit dem US-Dollar verbunden. Dieses Wechselkursregime, ursprünglich von Großbritannien zur Organisation der wirtschaftlichen Beziehungen zu seiner Kolonie Goldküste, dem heutigen Ghana, entwickelt, sorgt für Stabilität. Die Hong Kong Monetary Authority, das Währungsamt Hongkongs, koppelte am 17. Oktober 1983 die einheimische Währung an den US-Dollar und legte den Wechselkurs zunächst auf 7,8 HKD pro US-Dollar fest. Inzwischen darf der HKD innerhalb einer schmalen Bandbreite, von 7,75 bis 7,85 HKD pro US-Dollar, schwanken.

Damit dieses Wechselkursregime glaubwürdig ist, benötigt die Monetary Authority hohe Reserven, um spekulative Attacken auf den HKD abwehren zu können. Dafür ist gesorgt: Die Währungsreserven Hongkongs belaufen sich gegenwärtig auf knapp 4200 Milliarden HKD oder etwa 460 Milliarden Euro und sind damit auf Pro-Kopf-Basis nach denen der Schweiz die zweithöchsten Währungsreserven der Welt. Hongkongs Währungsreserven sind fast so hoch wie die Indiens, wo 180-mal so viele Menschen leben. Absolut betrachtet sind die Währungsreserven höher als die Südkoreas, Brasiliens und Mexikos, allesamt deutlich größere Volkswirtschaften.

Bislang hat dieses Regime heftige wirtschaftliche Turbulenzen, vor allem die Asienkrise 1997/98 und die weltweite Finanzkrise von 2008/09, ohne Verwerfungen überdauert. Der letzte Angriff von Spekulanten auf den Wechselkurs des HKD erfolgte während der Asienkrise 1997, aber die Währungsbehörde konnte diese Attacke mithilfe von 118 Milliarden HKD abwehren. Für Unternehmen ist ein stabiler Wechselkurs von großem Nutzen, weil sie sich nicht gegen Wechselkursschwankungen absichern müssen.

Ausländische Kreditgeber oder Käufer von Unternehmensanleihen bevorzugen Hongkong aber nicht nur wegen des unbeschränkten Kapitalexports, sondern auch, weil das Rechtssystem, anders als auf dem Festland, zumindest bislang unabhängig ist. Das Rechtssystem basiert auf dem englisch-walisischen common law. Anders als in Peking oder Shenzhen ist das Justizsystem in Hongkong ein Garant von Freiheit und Eigentumsrechten und bietet zudem Schutz vor staatlicher Willkür.

Immer wieder wird in der Debatte um den Status Hongkongs die Überlegung geäußert, die High-Tech-Metropole auf der anderen Seite des Perlflusses, Shenzhen, könnte Hongkong als Finanzplatz ablösen. Dazu passt die Entscheidung der chinesischen Notenbank, vom 30. August 2019 an nicht mehr nur Banken den Umtausch der Landeswährung in andere Währungen ohne vorige Kontrolle zu gestatten. Dies stellt eine kleine Aufweichung der Kapitalverkehrsbeschränkungen Chinas dar, aber der Weg zur Abschaffung der Beschränkungen bleibt sehr lang.

Ein ähnliches Experiment in Shanghai, die Shanghai Pilot Free Trade Zone, startete 2013 mit großen Erwartungen, die sich aber nicht erfüllten. Viele Banken haben die Freihandelszone wieder verlassen, weil die angekündigte Aufhebung der Kapitalverkehrsbeschränkungen nicht realisiert wurde. Es ist schlicht nicht möglich, innerhalb einer Volkswirtschaft einen Finanzplatz ohne Kapitalverkehrsbeschränkungen zu etablieren, ohne damit den Kapitalverkehr für das ganze Land zu liberalisieren. Peking scheut diesen Schritt, weil es zu ungeordneten Kapitalabflüssen und zu Turbulenzen auf den Devisenmärkten kommen könnte.

Der wichtigste Faktor zugunsten Hongkongs sind allerdings die Mitarbeiter der internationalen Banken. Es ist kaum vorstellbar, dass hochqualifizierte Finanzmarktspezialisten Hongkong verlassen, um nach Shenzhen oder Shanghai umzusiedeln. Bevor sich die Volksrepublik China unter der Führung Xi Jinpings zu einem die Freiheitsrechte von Individuen stark einschränkenden Staat entwickelte, mag ein solches Szenario noch denkbar gewesen sein, aber heute wäre kaum ein Banker bereit, aufs Festland zu wechseln.

Allerdings ist Hongkong nicht nur ein Finanzplatz, sondern besitzt auch einen der größten Häfen der Welt. Der Hongkonger Hafen ist noch immer der größte Containerhafen für Südchina, dem ökonomischen Kernland Chinas. Die niedrigen Steuern in Hongkong führen dazu, dass der Umschlag von Waren in Hongkong der Minimierung der Steuerlast dient. Firmen vom Festland exportieren dort hergestellte Güter zum Selbstkostenpreis an ihre Tochtergesellschaften in Hongkong. Von dort erfolgt der Export in andere Länder, während die Gewinne in Hongkong verbucht werden. Dies ist deshalb lukrativ, weil die Regierung Hongkongs Gewinne von Unternehmen mit maximal 16,5 Prozent besteuert.

Anschluss ans Festland?

Völkerrechtlich ist die Sonderverwaltungszone Hongkong ohne Zweifel ein Teil der Volksrepublik China. Würde Generalsekretär Xi Jinping die Volksbefreiungsarmee in Bewegung setzen und den Sonderstatus Hongkongs nicht erst 2047, sondern 2020 beenden, wäre das kein Verstoß gegen das Völkerrecht. Ein rascher Anschluss Hongkongs hätte dennoch gravierende Folgen für ganz China und erscheint deshalb unwahrscheinlich. Konkurrierende Wirtschaftsmetropolen, sowohl chinesische als auch andere asiatische Finanzplätze, etwa Singapur, können Hongkong weder kurz- noch mittelfristig ersetzen. Asiens kosmopolitischste Stadt ist aus Sicht der Kommunistischen Partei zwar lästig, aber dennoch ein Kleinod, auf das die Volksrepublik nicht verzichten kann und dies vermutlich auch nicht will.

Die heftigen Proteste der Bevölkerung haben bislang nicht zum Einsatz der Armee geführt. Würden Panzer nach Hongkong geschickt, wäre der Sonderstatus der Stadt unwiederbringlich zerstört. China verlöre sein Fenster zur Welt und wäre mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen konfrontiert. Vor allem die USA würden eine Niederschlagung der Protestbewegung zum Anlass nehmen, Hongkongs Sonderrolle zu beenden. Für den KP-Vorsitzenden Xi wäre ein solcher Schritt äußerst gewagt. Er würde damit der ohnehin schwächelnden Binnenkonjunktur einen weiteren Stoß versetzen. Und es ist keineswegs ausgeschlossen, dass ein Einmarsch der Armee nicht eine Kettenreaktion auslösen würde, an deren Ende eine gewaltige Umwälzung in China stehen könnte.

Die Gründe für diese Verwundbarkeit Chinas sind rasch genannt. Die chinesische Wirtschaft ist überschuldet und wies Ende 2018 eine Gesamtverschuldung (ohne den Finanzsektor) von über 300 Prozent der Wirtschaftsleistung auf. Solange auf den Finanzmärkten keine Panik ausbricht, ist ein solches Verschuldungsniveau handhabbar. Zugleich ist in China eine gewaltige Immobilienpreisblase entstanden. Der Wert aller Wohnimmobilien wird auf 65.000 Milliarden US-Dollar geschätzt. Zwei Drittel der Bankkredite in China sind mit Wohnimmobilien besichert. Allerdings stehen 20 Prozent der Wohnungen in China leer. Diese fragile Konstellation kann jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten, und dessen ist sich die KP-Führung wohl bewusst.

Auch deshalb ist die Linie Pekings in Bezug auf Hongkong bislang auch zögerlich und abwartend. Auf der anderen Seite wissen die USA um die Verletzbarkeit Chinas und reizen ihr Blatt aus. Die US-Regierung übt gerade jetzt Druck auf China aus, weil sie sich diesen Konflikt gegenwärtig eher leisten kann als China. Allerdings hat die amerikanische Politik schon vor nahezu 30 Jahren für den Fall der Veränderung des Status von Hongkong Vorsorge getroffen und hierzu sogar gesetzliche Regelungen verabschiedet.

Hongkong und die USA

Am 5. Oktober 1992 unterzeichnete der amerikanische Präsident George H.W. Bush das Gesetz zur Regelung des Sonderstatus von Hongkong. Deutlich vor der Rückgabe Hongkongs an China setzte sich der US-Kongress für die Wahrung der Sonderrechte der Stadt ein. Dies gilt zum einen für den Warenhandel. Im Gesetz heißt es, dass die USA den Status Hongkongs als eigenständiges Zollgebiet respektieren sollen. Überraschend detailliert wird im Gesetz festgehalten, dass die Vereinigten Staaten Hongkong weiterhin den Meistbegünstigungsstatus gewähren und Ursprungszeugnisse für Industrieerzeugnisse anerkennen sollten, die von den Behörden Hongkongs ausgestellt wurden. Hongkong wird Zugang zu Technologien gewährt, deren Export in die Volksrepublik eingeschränkt ist.

Neben dem Warenhandel wird im Gesetz Hongkongs Status als Finanzplatz genau beschrieben. Der US-Dollar soll dort frei gehandelt werden können. Schließlich wird im Hong Kong Policy Act erwähnt, dass Unternehmen ermuntert werden sollen, weiterhin in Hongkong tätig zu sein. Im Gesetz werden damit auch politische Ziele vorgegeben, auf deren Erreichung die US-Regierung keinen direkten Einfluss hat. Ob Unternehmen in Hongkong tätig sind oder nicht, ist eine Entscheidung dieser Unternehmen, nicht der Regierung. Dennoch ist die Signalwirkung des damaligen Gesetzes bemerkenswert.

Die USA haben sich damit nicht direkt in die inneren Angelegenheiten Chinas eingemischt, aber sie haben deutlich gemacht, dass sie nicht bereit sind, bei Entfall des besonderen Status Hongkongs der Sonderverwaltungszone weiterhin eine Vorzugsbehandlung zu gewähren. Der Präsident wird im Hong Kong Policy Act explizit ermächtigt, die bevorzugte Behandlung Hongkongs zu beenden, wenn er festgestellt haben sollte, dass Hongkong nicht ausreichend autonom ist. Im November 2019 wurden die Bestimmungen des Gesetzes durch den Hong Kong Human Rights and Democracy Act bestätigt. Bemerkenswert am neuen Gesetz ist weniger der Inhalt als vielmehr die Tatsache, dass es sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat einstimmig verabschiedet wurde. In einer Phase der starken Polarisierung der amerikanischen Politik ist die Haltung gegenüber China vielleicht die einzige verbindende Klammer in der Politik und Gesellschaft der USA.

Allerdings konnten die Abgeordneten im Jahr 1992 vermutlich nicht ahnen, welche besondere Sprengkraft das Gesetz im Jahr 2019 haben würde. Durch den Handelskrieg zwischen den USA und China ist die Bedeutung Hongkongs weiter gestiegen, nicht gesunken. Exporte aus Hongkong in die USA sind von den Strafzöllen Donald Trumps ausgenommen. Würden Exporte aus Hongkong behandelt wie Exporte vom chinesischen Festland, wäre ein Schlupfloch für chinesische Exporte geschlossen. Schätzungen zufolge könnten 98 Prozent der Exporte Hongkongs in die USA von Strafzöllen betroffen sein, sollte die Stadt ihren Sonderstatus verlieren.

Hongkong erfüllt also eine wichtige Funktion für die Volksrepublik China, gerade in Zeiten anhaltender handelspolitischer Spannungen mit den USA. Zugleich gilt natürlich auch, dass Hongkong abhängig ist von den wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Volksrepublik. Die Sonderverwaltungszone ist nicht zuletzt deshalb so wohlhabend, weil sie für China wichtige Handels- und Finanzdienstleistungen erbringt. Halten die Unruhen in Hongkong noch lange an, könnte dies ebenfalls zu einer massiven Schwächung des Standortes führen.

Aber wie realistisch ist es, dass die Proteste wie 2014 abflauen? Die damalige Besetzung der Innenstadt (Occupy Central) endete nach 77 Tagen. Der Groll über die Stadtregierung war aber mit dem Ende der Proteste nicht verraucht. Hongkongs Bevölkerung war und ist nicht ausschließlich wegen der Gefährdung ihrer politischen Freiheit aufgebracht, sondern auch wegen der schwierigen sozialen Lage, in der sie sich befindet.

Soziale Hintergründe der Proteste

Die Verbitterung der Demonstranten in Hongkong wird durch ihre schwierige wirtschaftliche und soziale Situation verstärkt. In Hongkong lebt ein großer Teil der Bevölkerung unter schwierigen Bedingungen. Die Regierung von Hongkong sowie die Kommunistische Partei Chinas haben diese Probleme zu lange ignoriert und sehen sich nun einer wütenden Bevölkerung gegenüber, die sich einer Aussöhnung und der Rückkehr zur Normalität widersetzt

Dies ist eine überraschende Feststellung, weil Hongkong eine reiche Stadt ist. 2018 betrug das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 50300 US-Dollar, ein Anstieg von 64,5 Prozent gegenüber 2010, als das Pro-Kopf-Einkommen 33620 US-Dollar betrug. Hongkonger haben mit 84,7 Jahren (2017) die weltweit höchste Lebenserwartung. Die Stadt hat erstklassige öffentliche Verkehrssysteme, die deutlich besser sind als in vielen OECD-Ländern, einschließlich Deutschland. Das Gesundheitssystem ist am britischen System orientiert und gewährt den Bürgern die wichtigsten medizinischen Behandlungen kostenlos.

Aber die Hongkonger sind unzufrieden und waren dies schon vor den Massenprotesten. Im Glücksbericht der Vereinten Nationen 2018 belegt Hongkong Platz 76 und damit einen deutlich niedrigeren Rang als vergleichbare Volkswirtschaften wie Taiwan (Platz 25) oder Singapur (34).

Eine wichtige Ursache für die Unzufriedenheit ist die prekäre Wohnsituation. Seit mehr als einem Jahrzehnt hat Hongkong einen der teuersten Immobilienmärkte der Welt. Die Bürger zahlen viel Geld für winzige Wohnungen. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person beträgt nur 15 Quadratmeter, etwa die Fläche eines Standard-Schiffscontainers. Die Singapurer haben pro Kopf die doppelte Fläche an Wohnraum zur Verfügung. Der Kauf einer Wohnung erfordert extreme Entbehrungen und ist selbst dann für viele Bürger Hongkongs unerreichbar.

Das begrenzte Angebot an Wohnraum ist das Ergebnis einer gestiegenen Nachfrage und eines knappen Angebots. Seit 1945 hat sich die Bevölkerung Hongkongs mehr als verzwölffacht: von 600.000 auf 7,4 Millionen Menschen. Aber die Versorgung mit Wohnraum hielt nicht Schritt. Die einfachste Lösung wäre, viele neue Wohnungen zu bauen, aber dies gestaltet sich als schwierig, vor allem aufgrund veralteter Regelwerke für die Bereitstellung von Bauland. Allerdings hat Hongkong auch viele Naturschutzgebiete, die nicht bebaut werden dürfen und deren Umwidmung zu Bauland auf erheblichen Widerstand stieße.

Ein weiterer Grund für die große Unzufriedenheit der Hongkonger Bevölkerung ist das hohe Maß an Ungleichheit der Einkommensverteilung. Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit von Verteilungen misst, der Haushaltseinkommen lag 2016 vor Steuern und Sozialabgaben mit 0,539 höher als in allen OECD-Ländern. Auch nach Steuern und Transfers lag der Gini-Koeffizient bei 0,473 und damit deutlich höher als etwa in Singapur (0,356), den USA (0,391) oder Australien (0,337). In nordeuropäischen Ländern einschließlich Deutschlands liegt dieser Wert unter 0,3.

Die Ursache für die große Ungleichheit ist das von den Briten übernommene Steuersystem. Sowohl die Steuern auf Unternehmensgewinne als auch die Einkommenssteuern waren und sind niedrig. Es gibt keine Umsatz- oder Mehrwertsteuer. Dividenden sind steuerfrei. Hongkongs Status als attraktiver Finanzplatz wird durch diese Fiskalpolitik gestärkt, aber diese Politik führt zu Ungleichheit. Ein Beispiel: Die fünf reichsten Hongkonger bezogen 2016/17 steuerfreie Dividenden in Höhe von 23,6 Milliarden HKD, das sind rund 2,7 Milliarden Euro. Es überrascht nicht, dass sich viele Bürger Hongkongs darüber empören.

Wie geht es weiter?

Die anhaltenden Unruhen haben Hongkong und seine Gesellschaft verändert. Eine Rückkehr zur früheren vergleichsweise unpolitischen Haltung vieler Hongkonger erscheint heute unmöglich. Die Menschen diskutieren fortwährend über politische Themen. Dabei entwickelt sich auch eine neue Identität. Die Hongkonger grenzen sich von den Festlandchinesen zunehmend ab. Dort ist ebenfalls ein wachsender Nationalismus zu beobachten. Zugespitzt findet sich diese Entwicklung in der Formel "One Country, Two Nationalisms". Es erscheint schwer, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Mehrheit der Hongkonger und denen der Kommunistischen Partei und ihrer Anhänger zu erwarten.

Die Lage bleibt vor allem deshalb verhärtet, weil die Regierung der Sonderverwaltungszone unter Carrie Lam und ihre Polizeikräfte die Krise verschärfen und den Protestierenden keine Angebote machen. Die Bevölkerung hat innerhalb kurzer Zeit starke Zweifel an Hongkongs Institutionen entwickelt. Vor allem das Vertrauen in die Polizei ist in den vergangenen Monaten stark gesunken. In einer Umfrage des Center for Communication and Public Opinion Survey an der Chinese University of Hong Kong im Oktober 2019 gaben 51,5 Prozent der Befragten an, keinerlei Vertrauen in die Polizei zu haben, verglichen mit nur 6,5 Prozent im Mai und Juni. Diese Umfragen wurden abgeschlossen, bevor am 11. November ein Polizist einen unbewaffneten Mann in den Unterleib schoss. Der 21-jährige junge Mann verlor eine Niere und einen Teil seiner Leber. Er wurde noch im Krankenhaus wegen Teilnahme an einer ungenehmigten Demonstration angeklagt. Der Schütze ist nicht etwa suspendiert, sondern krankgeschrieben.

Es ist nicht zu erwarten, dass die Regierung und die Polizei auf die Protestierenden zugehen werden. Die erste Handlung des im November 2019 neu berufenen Polizeichefs war, das Motto der Hongkonger Polizei zu ändern. Aus "Stolz und Fürsorge" (pride and care) wurde "Ehre, Pflicht und Loyalität" (honour, duty and loyalty). Die Handschrift Pekings ist hier deutlich zu erkennen.

Aus heutiger Sicht erscheinen drei Szenarien möglich: erstens ein rascher Anschluss Hongkongs an Festlandchina, zweitens anhaltende Unruhen ohne politische Konsequenzen und drittens eine Beilegung des Konflikts.

Ein rascher Anschluss, also die Beendigung des Sonderstatus Hongkongs vor 2047, ist unwahrscheinlich. Wie beschrieben sind die wirtschaftlichen Risiken zu groß.

Die zweite Variante erscheint wahrscheinlicher. Es entwickelt sich ein Ermattungswettbewerb. Wer kann den Konflikt länger durchhalten? Bislang hat es den Anschein, dass die Regierung Lam auf diese Strategie setzt. Der Verwaltungsdirektor der Hongkonger Regierung, Matthew Cheung, sagte am 13. November 2019 im Parlament, er wisse nicht, weshalb die Bürger Hongkongs so wütend seien. Die Regierung macht keine Gesprächsangebote und wirkt paralysiert und inkompetent. Zu Gunsten der Regierung muss erwähnt werden, dass sie auch keinen Verhandlungspartner hat. Die Protestbewegung hat keinen Anführer, was auch eine Folge der 2014er Proteste ist: Damals wurde jede Person mit einem Megafon verhaftet.

Bleibt die dritte Variante: Mindestens zwei Bedingungen müssten für eine friedliche Beilegung der Proteste erfüllt werden. Carrie Lam müsste zurücktreten, und es müsste eine internationale Expertenkommission beauftragt werden, die die Polizeigewalt gegen die Demonstranten untersucht. Historische Vorbilder für dieses Verfahren existieren. Als 2003 ein Gesetz verabschiedet werden sollte, das für bestimmte Taten, etwa Hochverrat, höhere Strafen vorsah, gingen 500.000 Hongkonger dagegen auf die Straße. Der damalige Regierungschef Tung Chee-hwa zog das Gesetz zurück und trat von seinem Amt zurück.

Diese Variante wäre auch heute grundsätzlich möglich, ist aber ebenfalls unwahrscheinlich, weil sie der Zustimmung des KP-Generalsekretärs Xi Jinping bedürfte. Xi hat bislang nicht erkennen lassen, dass er zu Zugeständnissen bereit ist, vermutlich auch deshalb, weil er die Signalwirkung auf andere Städte und Regionen der Volksrepublik fürchtet.

Selbstverständlich sind auch ganz andere, radikale Varianten denkbar: Peking könnte den Sonderstatus Hongkongs bis 2097 verlängern, freie Wahlen zulassen und die Umgestaltung Chinas zu einem föderalen System beginnen. Solange Xi Jinping an der Macht ist, sind solche Überlegungen jedoch reine Utopie. Er setzt auf die Stärkung der Kontrolle durch die Kommunistische Partei, nicht auf die Liberalisierung der chinesischen Gesellschaft. Xi wird dennoch auf absehbare Zeit auf das störrische Kleinod Hongkong angewiesen bleiben, wenn auch widerwillig.

ist Wissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und derzeit Gastprofessor am Asia Global Institute der University of Hong Kong. E-Mail Link: heribert.dieter@swp-berlin.org