Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Schattenseite der Protestbewegung | Hongkong | bpb.de

Hongkong Editorial Die unvollendete Revolution "Generation HK". Protest und Identität in Hongkong Die Schattenseite der Protestbewegung. Wie die Demonstranten an Rückhalt verloren Ein Land, zwei Systeme. Genese und Auslegung eines Schlüsselkonzepts Widerspenstig, aber unverzichtbar. Wirtschaftsstandort Hongkong Zur Geschichte Hongkongs Nationalkino ohne Nation: Der Hongkong-Film - Essay Karte

Die Schattenseite der Protestbewegung Wie die Demonstranten an Rückhalt verloren - Essay

Audrey Jiajia Li

/ 15 Minuten zu lesen

Viele liberale Festlandchinesen blickten zunächst mit Wohlwollen auf die Protestbewegung in Hongkong. Mit der Zunahme von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit, die zum Teil von den Demonstranten ausgehen, schwindet der Rückhalt unter den Festlandchinesen.

Am Abend des 16. Juni 2019 teilte ich ein Video über meine Social-Media-Kanäle: Im Video sieht man, wie Tausende friedliche Demonstranten, die zusammen mit zwei Millionen Hongkongern gegen ein umstrittenes Gesetz zur Auslieferung Verdächtiger an die Volksrepublik China protestieren, innerhalb von wenigen Sekunden Platz für einen Rettungswagen machen. "Wie Moses, der das Rote Meer teilt, total bewegend", schrieb ich dazu. Viele meiner Freunde, die ursprünglich vom chinesischen Festland stammen, drückten ebenfalls ihre Bewunderung und Sympathie für die Proteste aus.

Bereits sechs Monate später sehen die meisten von ihnen die Protestbewegung aufgrund der Radikalisierung und der Gewalt der Demonstranten mit anderen Augen. Mitte August, nach den chaotischen Zuständen am Hongkonger Flughafen, als Protestierende internationale Reisende daran hinderten, zu ihren Flügen zu kommen, und zwei Chinesen vom Festland angriffen, weil es sich angeblich um "verdeckte Ermittler" handelte, sind nicht wenige enttäuscht von der Bewegung.

Richard zum Beispiel: Er ist ein Kantonesisch sprechender Chinese, der ursprünglich aus Guangzhou stammt, seinen Master in den USA machte und seit fast zehn Jahren in Hongkong arbeitet. Er nennt den 1. Juli 2019 als den Zeitpunkt, an dem sich seine Haltung gegenüber der Bewegung änderte. An jenem Tag verschafften sich Protestierende Zugang zum Legislativrat, zertrümmerten die gläsernen Eingangstüren und verwüsteten den Sitzungssaal. "Ich verstehe nicht, warum Leute, die behaupten, sie würden die Demokratie wertschätzen, die wichtigste demokratische Institution verwüsten, einen Ort, der für Gewaltenteilung steht".

Lewis, ein chinesischstämmiger US-Amerikaner, der in Hangzhou geboren wurde und nun als leitender Ingenieur im Silicon Valley arbeitet, zweifelte ebenfalls an den Mitteln der Bewegung, als er die Demonstranten im Legislativrat wüten sah. Ihn stört vor allem die Art, wie diejenigen behandelt werden, die eine andere Meinung als die Protestierenden vertreten. "Selbst wenn Hongkong Gefahr läuft, immer mehr Freiheiten zu verlieren, die es derzeit genießt, ist die Gesellschaft im Großen und Ganzen frei, und die Regierung ist bei Weitem nicht so autoritär wie die in Peking; endlose Konfrontationen auf der Straße ohne absehbares Ende scheinen mir da nicht gerechtfertigt".

Muzi, eine junge in Washington D.C. arbeitende Lehrerin, die ursprünglich aus dem Nordosten Chinas kommt, hatte in letzter Zeit einige Diskussionen mit ihrem aus Hongkong stammenden amerikanischen Ehemann. Den Behauptungen hinsichtlich einer weitverbreiteten Polizeigewalt schenkt sie keinen Glauben: "Wie würde denn die amerikanische Polizei auf Molotowcocktails reagieren? Mit richtigen Kugeln. Bisher ist in Hongkong noch keiner [von der Polizei] getötet worden, und die Hongkonger Polizei hat darauf verzichtet, ihre Leute mit mehr als Tränengas und dergleichen auszustatten, trotzdem wurden Polizisten und ihre Familien zum Ziel von Gewalttaten und Todesdrohungen."

Für den in Xi’an geborenen James Liu, der in Singapur in der Finanzbranche tätig ist, war der Wendepunkt erreicht, als die Protestierenden den Zug- und Flugverkehr lahmlegten. Er sieht eine gewisse Ironie darin, dass angeblich freiheitsliebende Demonstranten die Türen der U-Bahnzüge und die Check-in-Schalter am Flughafen blockierten und Pendler im Berufsverkehr und internationale Fluggäste als Geiseln nahmen. Sie hätten keine Rücksicht genommen auf diejenigen, die lediglich ihrer Arbeit nachgingen oder einfach nur nach Hause wollten, darunter auch Schwangere, weinende Kinder und Menschen im Rollstuhl. "Die eigene Freiheit sollte nicht zu Lasten der Freiheit anderer gehen. Eine irrationale Radikalisierung führt immer in die Katastrophe."

Meine hier zitierten Freunde sind keineswegs Anhänger der Pekinger Regierung. Sie alle teilen die Frustration der Hongkonger über die Beschneidung ihrer politischen Freiheiten. Warum sehen sie die laufenden Proteste aber mittlerweile kritisch?

Feindseligkeit und Stereotype

Die meisten liberal gesinnten Chinesen, die auf dem Festland aufgewachsen sind, tun sich schwer damit, Gewalt und das Motto "der Zweck heiligt die Mittel" zu akzeptieren. Das liegt hauptsächlich an den Erfahrungen, die entweder sie selbst oder ihre Eltern in den turbulenteren Zeiten der chinesischen Geschichte gemacht haben.

Außerdem sind die Wunden des Tian’anmen-Massakers von 1989 für viele Festlandchinesen noch nicht verheilt. Mit dem Wissen um die blutige Niederschlagung der Proteste wünschen sich viele im Nachhinein, dass die Demonstranten damals nachgegeben hätten. Dies hätte das Massaker vielleicht verhindert. Deshalb fällt es vielen Festlandchinesen auch schwer, nachzuvollziehen, dass die Protestierenden in Hongkong offensichtlich die Zerstörung ihrer Stadt in Kauf nehmen, um ihre politischen Forderungen umzusetzen.

Die Kluft zwischen dem Festland und Hongkong hat sich in jüngerer Zeit deutlich vertieft: Hongkonger neigen immer mehr zum Nativismus und zur Feindseligkeit gegenüber ihren nördlichen Nachbarn. Man hört inzwischen häufiger davon, dass Festlandchinesen von Hongkongern als Tiere oder Wilde beleidigt werden. Eine erhebliche Anzahl von Festlandchinesen, die ursprünglich mit den Hongkongern sympathisierten, fühlt sich von diesen fremdenfeindlichen Beschimpfungen gekränkt, vor allem von verunglimpfenden "Shina"-Graffitis.

Beide Seiten pflegen stereotype Ansichten und Vorurteile übereinander: Viele Festlandchinesen glauben, dass Hongkonger, die heute auf Demonstrationen eine britische oder US-amerikanische Flagge schwenken, einfach nicht mit dem geopolitischen und ökonomischen Niedergang der Stadt zurechtkommen, außerdem lehnen viele Festlandchinesen aufgrund ihrer nationalistischen Einstellung jede politische Aktivität ab, die sich als nachteilig für die Zentralmacht erweisen könnte – also auch die als Separatismus verstandene Bewegung für mehr Unabhängigkeit.

Die Hongkonger wiederum neigen dazu, Festland- und Auslandschinesen, die nicht völlig mit ihren Ansichten übereinstimmen, als Feinde der Demokratie und "schändliche Sklaven" der Kommunistischen Partei zu bezeichnen, die einer Gehirnwäsche unterzogen wurden.

Verschlechterung der Beziehungen

Als Festlandchinesin, die Guangzhou – die kantonesischsprachige Hauptstadt der Provinz Guangdong in unmittelbarer Nachbarschaft Hongkongs – ihre Heimat nennt, ist es für mich herzzerreißend, mitansehen zu müssen, wie sich das Verhältnis zwischen beiden Seiten in den vergangenen zehn Jahren immer mehr verschlechtert hat. Innerhalb nur eines Jahrzehnts hat sich die kulturelle Kluft vertieft, während gleichzeitig das Wissen über die jeweils andere Seite abgenommen hat.

Lange Zeit war das Denken übereinander auf beiden Seiten deutlich positiver. Als britische Kronkolonie war Hongkong jahrzehntelang Chinas wichtigste Quelle für ausländische Devisen in einer Zeit, in der das Festland von Armut geplagt und außenpolitisch isoliert war. Während der harten Jahre unter Maos Herrschaft, vor allem während der großen Hungersnot Anfang der 1960er Jahre, flohen Millionen Festlandchinesen nach Hongkong und ließen sich dort dauerhaft nieder. Nach der Niederschlagung der Proteste am Tian’anmen-Platz 1989 halfen engagierte Hongkonger im Rahmen der Operation "Yellowbird" vielen Dissidenten außer Landes zu kommen. Und bei der großen Flutkatastrophe 1991 in Ostchina wurden in Hongkong innerhalb von zehn Tagen über 470 Millionen Hongkong-Dollar an Spenden für die Opfer gesammelt.

2008 boten die Einwohner Hongkongs umgehend Hilfe zur Unterstützung der Menschen in der Provinz Sichuan an, wo bei einem starken Erdbeben in Wenchuan über 100.000 Personen ums Leben gekommen waren. Im August desselben Jahres war Peking Gastgeber der Olympischen Spiele, und eine im Juni erstellte Umfrage zeigte, dass sich die Identifikation der Hongkonger mit der Volksrepublik auf einem Höchststand befand: In der Altersgruppe der Jüngeren (18 bis 29 Jahre) und Älteren (30+) bezeichneten sich 41,2 Prozent beziehungsweise 54,5 Prozent der Einwohner als Chinesen. Seitdem sind die Zahlen dramatisch gefallen. Ende 2015 betrug die Zustimmung nur noch etwa zehn Prozent bei den jüngeren und 30 Prozent bei den älteren Hongkongern.

Was war passiert? Zum einen ist die nationale Regierung in Peking selbstsicherer und energischer geworden, weshalb die Hongkonger befürchten, dass sie die mit dem "Ein Land, zwei Systeme"-Prinzip garantierten Freiheiten verlieren könnten, die ihnen eigentlich mindestens bis zum Jahr 2047 erhalten bleiben sollten. Als ihre Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht 2014 abgelehnt wurde, besetzten Demonstranten der sogenannten Regenschirm-Bewegung 79 Tage lang Teile des Finanz- und Regierungsbezirks. Doch am Ende scheiterte die Bewegung, ohne dass die Regierung Zugeständnisse gemacht hätte, viele Aktivisten wurden verhaftet und vor Gericht gestellt.

Zum anderen müssen die Hongkonger seit Jahren mit immer weiter steigenden Immobilienpreisen kämpfen, mit langen Wartezeiten für eine medizinische Behandlung und einer wachsenden Einkommensungleichheit. Zudem sind in den vergangenen 20 Jahren fast 1,5 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit oder für ihre Ausbildung vom Festland nach Hongkong gezogen. Dieser Zustrom ist ein Grund für die Frustration vieler Einheimischer und die Sorgen um die Zukunft ihrer Stadt. Sie befürchten, dass die Neuankömmlinge die ohnehin beschränkten Ressourcen und überlastete Infrastruktur noch mehr strapazieren.

Ein Beispiel, das Schlagzeilen machte, ist Milchpulver: Aus mangelndem Vertrauen in die Qualität chinesischer Säuglingsnahrung strömten vor einigen Jahren zahlreiche chinesische Eltern vom Festland nach Hongkong, um die dortigen Bestände aufzukaufen. Das führte im März 2013 zur Beschränkung der Mitnahmemenge auf zwei Dosen Milchpulver pro Person. Auch hört man immer wieder Klagen über Mandarin sprechende Touristen, die ihren Müll herumwerfen, auf die Straße spucken und lautstark in der Öffentlichkeit krakeelen. Aus diesen Gründen neigen die Hongkonger, vor allem die jüngere Generation, heute weniger dazu, zwischen den Maßnahmen der Pekinger Behörden und dem Verhalten der normalen Bürger vom Festland zu unterscheiden, obwohl diese Unterscheidung älteren Generationen immer wichtig war.

Dieser Trend hat betrübliche Folgen: Immer häufiger wird vom Wunsch nach einer "Desinisierung" gesprochen, zudem wird die Haltung der jüngeren Generation zunehmend radikaler, da die konventionellen Strategien des traditionellen Pro-Demokratie-Lagers nicht mehr zu funktionieren scheinen. Als einzige Stadt auf chinesischem Boden, in dem ein Gedenken an das Tian’anmen-Massaker noch toleriert wird, wächst in Hongkong die Zahl der jungen Studenten, die dem Massaker gleichgültig gegenüberstehen, weil es nicht sie betreffen würde, sondern China.

Auch auf dem Festland werden die jüngeren Generationen, die in einer Zeit beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwungs und zunehmender geopolitischer Macht aufgewachsen sind, immer nationalistischer. Die meisten wissen nichts vom früheren Wirtschaftswunder Hongkongs und seinem beachtlichen kulturellen Einfluss, nehmen jedoch sehr genau die vermeintliche Voreingenommenheit der Hongkonger gegenüber den Festlandchinesen wahr.

Unterdessen ist die wirtschaftliche Bedeutung Hongkongs bei Weitem nicht mehr so groß wie in den 1990er Jahren, als die Sonderverwaltungszone 20 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftete. 2018 wurde Hongkongs Wirtschaftsleistung zum ersten Mal von der der Nachbarmetropole Shenzhen übertroffen. Viele Festlandchinesen haben heute den Eindruck, dass sich Hongkong im Niedergang befindet und die Hongkonger ihren derzeitigen hohen Lebensstandard nur deshalb halten können, weil sie vom Mutterland mit großzügigen Sonderzuwendungen unterstützt werden.

Öffentliche Demütigungen

Anfang August 2019 war ich zunehmend besorgt angesichts der offensichtlichen Radikalisierung der Bewegung. Meine Befürchtungen erreichten schließlich einen Punkt, an dem ich mich veranlasst sah, mich zu äußern. Zuvor hatte ich ein Video gesehen, das Ende Juli "viral gegangen" war. Darin wurde ein grauhaariger älterer Mann nach seiner Ankunft am Hongkonger Flughafen von einer Gruppe junger Demonstranten bedrängt und angerempelt. Der Mann wurde gedemütigt, ihm wurde ein gelber Zettel auf den Rücken geklebt, auf dem stand: "Betrügerische Polizei plus Triaden gleich Gesetzlosigkeit".

Kurz zuvor hatte es einen ähnlichen Vorfall an der Universität von Hongkong gegeben. Dabei hatten sich Studenten mit dem Präsidenten der Universität angelegt, mit Zhang Xiang, einem chinesisch-amerikanischen Wissenschaftler, der ursprünglich vom chinesischen Festland stammt. Zhang Xiang hatte die "Gewalt und den Vandalismus" bei der Protestaktion im Legislativrat verurteilt. Die Studenten beleidigten ihn auf Plakaten, belagerten nachts sein Haus und verlangten, er solle seine Äußerungen zurücknehmen. Diese Szenen erinnern erschreckend an die öffentlichen Demütigungen der Kulturrevolution, als Jugendliche Ältere beleidigten und quälten, damit sie ihre "Sünden" im Namen der heiligen Revolution bekannten.

Wenn Hongkonger Internetnutzer die Werbekunden des Fernsehsenders "TVB" dazu drängen, ihre Verträge zu kündigen, weil der Sender angeblich voreingenommen sei, erinnert das an den Fall des französischen Kosmetikkonzerns Lancôme, der von Internetnutzern vom Festland gedrängt wurde, ein Konzert der Cantopop-Sängerin Denise Ho aufgrund ihrer Unterstützung für die Demokratiebewegung abzusagen.

Wenn eine Bewegung erfolgreich sein will, ist es von enormer Bedeutung, dass die Teilnehmer die Rechte ihrer Mitbürger respektieren, auch wenn deren Vorstellungen einer Gesellschaft von ihren eigenen abweichen. Oder wie es in den Richtlinien der Hongkonger Anwaltskammer heißt: Bei der Ausübung der freiheitlichen Rechte sollten der Respekt für andere, das Funktionieren der öffentlichen Versorgungseinrichtungen sowie Recht und Gesetz in einer Gesellschaft nicht beeinträchtigt werden.

Radikalisierung der Bewegung

Im September 2019 wurde die chinesisch-amerikanische Journalistin Jiayang Fan von Demonstranten bedrängt und ausgefragt, vermutlich weil sie bei ihrer Berichterstattung über die regierungskritischen Proteste in Hongkong Mandarin sprach. Jiayang Fan musste Beleidigungen und Beschimpfungen wie "gelbe Banditin" und "kommunistische Agentin" über sich ergehen lassen. "Mein chinesisches Gesicht macht mich haftbar", twitterte sie daraufhin. "Wurde gerade gefragt, wenn ich aus den USA und Reporterin sei, warum ich dann ein chinesisches Gesicht hätte."

Einige Tage zuvor, am 18. September 2019, dem 88. Jahrestag des japanischen Überfalls auf Nordostchina, war an der Demokratiewand der Universität Hongkong ein Plakat zu sehen, das die Invasion feierte, vermutlich hatten Protestierende es aufgehängt. "Das ist das erste Mal, dass ich miterlebe, wie Leute für Demokratie kämpfen, indem sie die Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs feiern", kommentierte der Journalist Liam Stone auf Twitter.

Mitte August, als die Protestierenden den Flughafen von Hongkong besetzten und internationale Reisende daran hinderten, ihre Flüge zu erreichen, wurden zwei Festlandchinesen, die man für "Polizeispitzel" hielt, bewusstlos geschlagen. Und im September wurde ein chinesischer Mitarbeiter des Finanzunternehmens JP Morgan angegangen: Die Protestierenden schlugen ihm die Brille aus dem Gesicht, nur weil er auf Mandarin "Wir sind alle Chinesen" gesagt hatte.

Vorfälle wie diese verweisen auf einen komplizierten Aspekt der monatelangen Proteste, über den kaum berichtet wird: Die Welt sieht in den Auseinandersetzungen in Hongkong einen Kampf zwischen Demokratie und Autoritarismus, doch hinter der Demokratiebewegung steht auch tiefes Misstrauen, ja eine regelrechte Abneigung, vieler Hongkonger gegenüber Festlandchinesen.

Wer etwa die Kommentare im Internetforum von "LIHKG" verfolgt – eine Website, die die Protestbewegung beim Austausch von Nachrichten und der Koordinierung ihrer Aktivitäten benutzt –, dem fallen die schockierenden und weitverbreiteten Hasskommentare auf, die man nur als xenophob (genauer: sinophob) bezeichnen kann. In jüngerer Zeit häufen sich an den Hochschulen der Stadt die Vorfälle, bei denen Studenten vom Festland als "Shina-Hunde" beschimpft und aufgefordert werden, "zurück nach China" zu gehen.

"Zurück nach …" – dieser Ausruf ist virulent. Weltweit werden Neuankömmlinge zu Sündenböcken und für fast alles verantwortlich gemacht, was den Einheimischen nicht passt, vor allem wenn Einheimische mit Neuankömmlingen um Arbeitsplätze, Wohlstand und Chancen konkurrieren. So auch in Hongkong: Einige Einheimische fühlen sich durch den Zustrom von Investitionen und die Zuwanderung von Chinesen aus dem Norden überrannt. Den als "crazy rich" wahrgenommenen Neuankömmlingen wird für die wachsenden Lebenshaltungskosten die Schuld gegeben, vor allem für die schwindelerregend hohen Immobilienpreise. Gut ausgebildete Festlandchinesen wie Charles Li, Chef der Hongkonger Börse, und Zhang Xiang, Präsident der Universität von Hongkong, stoßen aufgrund ihrer Herkunft (und ihrer unterstellten Verbindungen zur Kommunistischen Partei Chinas) auf Misstrauen und Ablehnung. Chinesische Touristen und Neueinwanderer werden als "Heuschrecken" bezeichnet, die den Zusammenhalt in der Stadt bedrohen.

Während das Schwenken britischer oder amerikanischer Fahnen in Hongkong allgemein akzeptiert wird, ist es gefährlich, chinesische Flaggen zu schwenken, auch als Einheimischer. Geschäfte, Restaurants und Bankfilialen, von denen man annimmt, sie hätten Verbindungen zur Volksrepublik China, werden verwüstet, in Brand gesteckt und geplündert, sogar die Kunden werden belästigt. Dabei ist es eine Frage des Anstands und auch im Interesse der Bewegung, auf die Verunglimpfung der Festlandchinesen zu verzichten und sich von der fremdenfeindlichen Hetze gegen Einwanderer und Studenten vom Festland zu distanzieren. Wer Mandarin spricht, die Herabwürdigung nationaler Symbole ablehnt oder sich über beleidigende "Shina"-Graffitis empört, ist nicht automatisch ein "schändlicher Sklave" der Kommunistischen Partei.

Keine Distanzierung von Gewalt

Die stark dezentralisierten Proteste in Hongkong sind führerlos und ständig im Fluss – oder angelehnt an die Philosophie Bruce Lees: wie Wasser. Unter den Teilnehmern herrscht ganz offensichtlich ein bestimmter Verhaltenskodex: Haltet zusammen, übt keine Kritik untereinander, egal was passiert. Mit den zunehmenden Spannungen und der Eskalation der Proteste begann die Minderheit, die Gewalt anwendete, den Diskrus zu dominieren und mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nachdem ihre Taten von ihnen selbst und in den Medien glorifiziert wurden. Gleichzeitig wurden die Gemäßigten, die einst den Großteil der Bewegung ausmachten, an den Rand gedrängt, weil sie angeblich nicht ausreichend "wagemutig" waren.

Bisher scheint die überwiegende Mehrheit der Demonstranten in Hongkong der Ansicht zu sein, dass Vandalismus, Gewalt und die Schikanen gegenüber Andersdenkenden nur auf das Konto einer kleinen Gruppe gehen und nicht repräsentativ für die Proteste sind. Und um die ehrbaren Ziele der Bewegung nicht zu gefährden, sollte man das schädliche Verhalten dieser Randgruppe tolerieren und kein großes Aufhebens darum machen, damit die Bewegung nicht in Misskredit gerät.

Ungeachtet der guten Absichten ist die Strategie, auf Kritik in den eigenen Reihen zu verzichten, falsch und wird negative Folgen haben: Erstens wird die gesamte Bewegung durch die Handlungen einiger weniger beschädigt, weil sich die Mitglieder nicht öffentlich von Gewalttaten wie Brandstiftung seitens des radikalen Flügels distanzieren geschweige denn die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Damit setzt die Bewegung ihre Integrität aufs Spiel. Zweitens wird es zwar einige begeisterte Anhänger geben, die bedingungslos zu den Demonstranten halten, egal was geschieht, doch der Großteil der Öffentlichkeit, darunter auch Leute wie ich, die ursprünglich mit den anfangs friedlichen Protesten mitfieberten, wird eine Grenze ziehen zwischen dem, was akzeptabel ist und was nicht.

Wo diese Grenze liegt, muss jeder selbst für sich entscheiden. Wenn Demonstranten Steine auf einen älteren Mitbürger werfen und ihn damit töten, wenn ein Mann mit einem Kanaldeckel erschlagen wird, weil er Barrikaden der Protestierenden abbaut, oder wenn ein Familienvater im Disput mit Protestierenden in Brand gesteckt wird, spätestens dann sind die Grenzen überschritten. Wir sind Bürger einer modernen Gesellschaft, wir leben nicht in einem Dschungel, wo nur das Recht des Stärkeren gilt und wir unseren Ärger an unschuldigen Menschen auslassen, wann immer wir berechtigterweise empört sind. Egal, welcher geheiligten Ideologie wir anhängen, und egal, wie sehr wir uns über andere ärgern, die unsere Ansichten nicht teilen, wir müssen unsere Mitmenschen achten.

Schluss

Mir drängt sich immer wieder eine Frage auf: Wie können wir sicher sein, dass die Protestierenden, wenn sie eines Tages an die Macht kommen, sich gegenüber Dissidenten nicht genauso grausam und intolerant aufführen wie die Kräfte, gegen die sie derzeit kämpfen?

Da die Bewegung in Hongkong dezentral organisiert ist, scheint niemand in der Position zu sein, einen Kompromiss aushandeln und die Straßenproteste beenden zu können. Niemand übernimmt die Verantwortung und verurteilt das, was einige wenige im Namen der Demokratiebewegung getan haben. Und in der Zwischenzeit lassen Gegner der liberalen Demokratie keinen Versuch aus, das Verhalten der Radikalen zu nutzen, um Angst zu verbreiten und autoritäre Maßnahmen zu rechtfertigen – mit beachtlichem Erfolg.

Im Juli 2019 interviewte ich Larry Diamond, Soziologe und Politikwissenschaftler an der Stanford University, der sich mit prodemokratischen Bewegungen auseinandersetzt. Er räumte ein, dass es durchaus nützlich sein kann, in einer frühen Phase die Empörung der Bürger – in diesem Fall über die Maßnahmen der Regierung – anzufachen, um Beteiligung zu fördern. Zugleich äußerte er Skepsis hinsichtlich einer dezentralen Bewegung: "Es gibt zahlreiche Belege dafür: Wenn aus Protestaktionen und Unmutsbekundungen eine Bewegung werden soll, die tatsächlich Einfluss nehmen kann, benötigt diese Bewegung Führung, Organisation und eine Strategie." Des Weiteren drückte er seine Begeisterung für die Bewegung aus, äußerte aber Bedenken über ihre Radikalisierung: "Die Bewegung läuft Gefahr, ihre bisherigen Errungenschaften und moralische Autorität zu verlieren." Diese Sorge wird von vielen geteilt, die Freiheit schätzen und Hongkong das Beste wünschen.

Übersetzung aus dem Englischen: Heike Schlatterer, Pforzheim.

ist Sachbuchautorin und Journalistin. Twitter: @SaySayjiajia