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Die unvollendete Revolution | Hongkong | bpb.de

Hongkong Editorial Die unvollendete Revolution "Generation HK". Protest und Identität in Hongkong Die Schattenseite der Protestbewegung. Wie die Demonstranten an Rückhalt verloren Ein Land, zwei Systeme. Genese und Auslegung eines Schlüsselkonzepts Widerspenstig, aber unverzichtbar. Wirtschaftsstandort Hongkong Zur Geschichte Hongkongs Nationalkino ohne Nation: Der Hongkong-Film - Essay Karte

Die unvollendete Revolution

Friederike Böge

/ 16 Minuten zu lesen

Ein Ende der seit Juni 2019 anhaltenden Proteste in der Sonderverwaltungszone Hongkong ist nicht abzusehen. Peking scheint entschlossen, sie auszusitzen. Statt Zugeständnisse zu machen, verstärkt die Zentralregierung die Kontrolle über die Stadt.

Als am 9. Juni 2019 zum ersten Mal Hunderttausende Hongkonger gegen eine geplante Reform der Auslieferungsgesetze auf die Straße gingen, ahnte wohl noch niemand, dass sich daraus eine Protestbewegung mit so weitreichenden Folgen entwickeln würde. Selbst die Organisatoren des Marsches waren damals völlig überrascht von der Zahl der Teilnehmer, die sie auf eine Million schätzten. Die hohe Beteiligung war Ausdruck der Urängste, die die Hongkonger Regierung mit ihrem Plan geweckt hatte, künftig eine Auslieferung von Verdächtigen an die Willkürjustiz auf dem chinesischen Festland zu ermöglichen. Das trieb längst nicht nur Demokratieaktivisten auf die Barrikaden. Die breite Öffentlichkeit sah darin einen Dammbruch, der die schützende Wand zwischen dem Hongkonger Rechtsstaat und der chinesischen Parteijustiz zum Einsturz bringen könnte. Die einflussreiche Hongkonger Geschäftswelt fürchtete, dass ihre Vertragspartner vom Festland ein solches Gesetz nutzen könnten, um sie zu erpressen. Man kann wohl davon ausgehen, dass selbst die chinesischen Parteikader, die ihren Lebensmittelpunkt oder den ihrer Familien nach Hongkong verlagert haben, aus eigenem Interesse den Widerstand gegen das Auslieferungsgesetz unterstützten. In den beiden ersten großen Demonstrationszügen im Juni manifestierte sich ein Unbehagen am autoritären Kurs des chinesischen Staatschefs Xi Jinping.

Um das Auslieferungsgesetz geht es der Protestbewegung inzwischen nicht mehr. Im Mittelpunkt stehen nun die Aufarbeitung mutmaßlicher Polizeigewalt und die Frage, wie die Sonderverwaltungsregion Hongkong sich ein hohes Maß an Selbstbestimmung gegenüber Peking erhalten beziehungsweise zurückerobern kann. Es lohnt aber, sich an die Anfänge zu erinnern, denn sie werfen die Frage auf, welche Rolle die Zentralregierung bei der Eskalation der Krise gespielt hat. Als Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam den Entwurf des Auslieferungsgesetzes im September 2019 vollständig zurückzog, hatte das keinen Einfluss mehr auf den Verlauf der Ereignisse. Sie hatte viel zu lange gezögert, auf den Unmut der Bevölkerung zu reagieren. Damit hatte sie die Chance zur Deeskalation und ihre Glaubwürdigkeit ohne Not verspielt. Im Umfeld ihrer Vertrauten ist die Einschätzung zu hören, dass dies ihrem eigenen Starrsinn und mangelnden politischen Gespür geschuldet war. Es gibt in Hongkong aber auch die begründete Vermutung, dass Carrie Lam den Anweisungen der Zentralregierung folgte, die seit Langem auf ein solches Auslieferungsgesetz drängt, um ihre Kontrolle über die Sonderverwaltungsregion auszuweiten.

Falsche Einschätzung

Selbst in Pekinger Parteikreisen wird inzwischen nicht mehr bestritten, dass die chinesische Führung die Lage in Hongkong lange Zeit falsch eingeschätzt hat. Offenbar basierte das auch auf den allzu optimistischen Lageberichten des Verbindungsbüros der Zentralregierung in Hongkong. Im November 2019 sagte ein chinesischer Offizieller der Nachrichtenagentur Reuters, "das Verbindungsbüro hat mit den reichen Leuten und den Eliten vom Festland verkehrt und sich von der Bevölkerung isoliert". Im Januar 2020 zog Peking daraus die Konsequenz und setzte den bisherigen Leiter des Verbindungsbüros Wang Zhimin ab. Schon zuvor war in Shenzhen, einer Nachbarstadt Hongkongs, eine parallele Koordinierungsstelle eingerichtet worden, die den Staats- und Parteichef Xi Jinping täglich über aktuelle Entwicklungen in Hongkong informierte.

Über die Entscheidungsprozesse im Innern des chinesischen Machtapparats lässt sich nur spekulieren. Unter China-Kennern ist die Ansicht verbreitet, dass das autoritäre Gebaren Xi Jinpings und die Konzentration der Macht in seinen Händen dazu geführt haben, dass immer weniger Funktionäre in seinem Umfeld gewillt sind, ihn mit unangenehmen Wahrheiten zu konfrontieren. Kolportiert wird auch, dass die Führung womöglich ihrer eigenen Propaganda aufsaß, wonach die Protestbewegung weniger vom Unmut in der Gesellschaft, sondern durch Einflussnahme der USA gespeist werde, und dass eine schweigende Mehrheit die Proteste ablehne. Das Ergebnis der Bezirkswahlen im November 2019 zeigte, dass dies nicht der Fall war. Bei einer Rekordbeteiligung von 71 Prozent der Wahlberechtigten gewannen die prodemokratischen Kandidaten dank des Mehrheitswahlrechts mehr als 80 Prozent der Sitze in den Bezirksräten. Ihr Stimmanteil lag bei rund 57 Prozent. Da die prodemokratischen Kandidaten sich explizit als Teil der Protestbewegung positioniert hatten, kann das Votum als Beleg gewertet werden, dass eine Mehrheit der Bevölkerung deren Forderungen unterstützt, trotz der Gewaltbereitschaft mancher Aktivisten und trotz der hohen wirtschaftlichen Kosten, die mit den Protesten vor allem für den Einzelhandel und das Gastgewerbe verbunden sind.

Wirkungslose Drohung

Die politische Krise in Hongkong gehört zu den größten Herausforderungen, die sich Staats- und Parteichef Xi Jinping derzeit stellen. Anfangs setzte die Zentralregierung auf Einschüchterung und eine Demonstration der Stärke. Im August 2019 ließ sie Tausende Militärpolizisten nahe der Grenze zur Sonderverwaltungsregion aufmarschieren und die Niederschlagung von Protesten trainieren. Doch die Drohkulisse bewirkte das Gegenteil: Sie verstärkte auf Seiten der Aktivisten das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben, und führte zu einer Radikalisierung der Bewegung. Zu der angespannten Stimmung trug bei, dass der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik bevorstand, den Xi Jinping zu einer Demonstration seiner Macht nutzen wollte. Wer jedoch geglaubt hatte, dass er eine Störung seiner Inszenierung durch Protestbilder um jeden Preis verhindern würde, irrte sich. Stattdessen schaltete Peking auf eine Abnutzungsstrategie um. Es setzt offenbar darauf, dass die Proteste sich irgendwann totlaufen werden.

Ob die chinesische Führung zu irgendeinem Zeitpunkt ernsthaft eine militärische Intervention erwogen hat, ist nicht bekannt. Die zu erwartenden Kosten wären in jedem Fall enorm gewesen. Neben dem internationalen Reputationsverlust samt möglicher Sanktionen hätten die Bilder von Soldaten auf den Straßen Hongkongs auch im eigenen Land die Erinnerungen an die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 auf dem Tian’anmen-Platz geweckt. Erinnerungen, die das Regime über Jahrzehnte erfolgreich getilgt hat. Ein Einmarsch beziehungsweise Einsatz der bereits in Hongkong stationierten Soldaten hätte zudem eine jahrelange und kostspielige militärische Präsenz erfordert, da die Loyalität der Polizei und der aktuellen Verwaltung nicht gewährleistet wäre. Nicht zuletzt zöge ein militärisches Eingreifen das Ende des Prinzips "Ein Land, zwei Systeme" nach sich, das für China noch immer erhebliche Vorteile birgt. Die Rechtssicherheit, die Möglichkeit, Kapital ohne Einschränkungen jederzeit abzuziehen, sowie das Wechselkursregime, das den Hongkong-Dollar lose an den US-Dollar bindet, machen Hongkong zu Chinas wichtigstem Finanzplatz.

2018 wurden 65 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in China über das Hongkonger Finanzsystem getätigt. An der dortigen Börse werben chinesische Unternehmen weiterhin deutlich mehr internationales Kapital ein als in Shanghai. Zugleich wickeln viele chinesische Staatsunternehmen ihre Auslandsgeschäfte über Dependancen in Hongkong ab, um die strikten Kapitalmarktkontrollen auf dem Festland zu umgehen. Pekings regelmäßige Ankündigungen, Hongkongs Rolle durch Shenzhen, Macau oder Shanghai zu ersetzen, sind eher als Drohgebärden denn als reale Planungen zu verstehen.

Dass China sich im Umgang mit den Protesten inzwischen aufs Aussitzen verlegt hat, liegt sicher auch daran, dass anfängliche Befürchtungen, der Protestgeist könnte auf das Festland übergreifen, sich nicht bewahrheitet haben. Im Gegenteil: In der chinesischen Öffentlichkeit scheint, soweit das angesichts der Zensur zu ermitteln ist, Unverständnis über die Forderungen und Methoden der Hongkonger zu herrschen. Die Ansicht, dass sich darin lediglich Neid angesichts des wirtschaftlichen und politischen Aufstiegs des Festlands manifestiere, ist verbreitet. Die von den Parteimedien verbreiteten Bilder von chaotischen Straßenszenen in Hongkong fügen sich nahtlos ein in das Narrativ der Kommunistischen Partei, wonach Stabilität gegenüber Demokratie und Freiheit Priorität haben müsse.

Druck auf Unternehmen

Chinas Vorgehen gegen die Protestbewegung hat dem internationalen Wirtschaftsstandort Hongkong allerdings bereits Schaden zugefügt. Besonders weitreichend war der Eingriff bei der Hongkonger Fluggesellschaft Cathay Pacific. Die chinesische Luftkontrollbehörde drohte dem Unternehmen mit einem Ausschluss aus dem chinesischen Luftraum, wenn es seinen Mitarbeitern nicht verbieten würde, die Protestbewegung durch Meinungsäußerungen in sozialen Netzwerken oder anderweitig zu unterstützen. Der Druck war so groß, dass der Vorstandsvorsitzende Rupert Hogg im August 2019 das Unternehmen verlassen musste. Mehrere Mitarbeiter wurden entlassen, andere sprachen von einem Klima der Angst im Unternehmen. Peking statuierte an Cathay Pacific ein Exempel. Andere Unternehmen sahen sich gezwungen, ihre Loyalität gegenüber Peking zu versichern und ihren Mitarbeitern klarzumachen, dass die Zukunft des Unternehmens gefährdet sei, wenn sie die Proteste offen unterstützten. Zumindest kurzfristig ist jedoch nicht zu erkennen, dass dies zu einer Schwächung der Bewegung geführt hat.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Instrumente der Zentralregierung sich in einem freien Umfeld wie der Hongkonger Gesellschaft bisweilen als stumpf herausstellten. Anders als auf dem chinesischen Festland, wo sie weitgehende Kontrolle über Informationsflüsse hat, gelang es der Regierung nicht, Einfluss auf die öffentliche Meinung in Hongkong zu nehmen. Mit jedem neuen Versuch, die eigene Kontrolle in Hongkong auszuweiten, wuchs die Empörung. Die Zentralregierung hält dennoch an ihrer harten Haltung fest. Sie scheint auf eine langfristige Verschiebung der Gewichte in Hongkong zu setzen: durch die Einführung patriotischer Erziehung, die Förderung von Einwanderung vom Festland nach Hongkong und eine Besetzung von gesellschaftlichen Schlüsselpositionen mit Festlandchinesen.

Gesetz gegen Subversion

Der neue Leiter des Verbindungsbüros, Luo Huining, bekräftigte im Januar 2020, dass Hongkong ein "Sicherheitsgesetz" verabschieden müsse, das hohe Strafen für Subversion, Vaterlandsverrat und die Befürwortung einer Unabhängigkeit Hongkongs vorsehen würde. Damit würde das juristische Waffenarsenal gegen die Protestbewegung erheblich aufgerüstet. Aus Pekinger Sicht ist das notwendig, weil ein Großteil der mehr als 7000 Personen, die seit Beginn der Proteste festgenommen wurden, inzwischen wieder auf freiem Fuß ist. Mehr als 1000 wurden bis Ende Januar angeklagt. Juristen gehen aber davon aus, dass nur ein Bruchteil davon tatsächlich verurteilt werden wird. Denn anders als die politisierte Justiz auf dem Festland verlangen die Richter in Hongkong Beweise, die schon wegen der Vermummung der Aktivisten nicht leicht zu erbringen sind.

Die Verabschiedung eines "Sicherheitsgesetzes", wie Peking sie verlangt, dürfte nicht einfach werden, obwohl ein solches Gesetz in der Hongkonger Verfassung (Basic Law) von 1997 vorgesehen ist. Dort heißt es, die Regierung der Sonderverwaltungsregion "möge" entsprechende Gesetze in Kraft setzen. 2003 wurde schon einmal versucht, ein "Sicherheitsgesetz" einzuführen, was aber an Massenprotesten scheiterte. Der damalige Hongkonger Regierungschef musste deshalb später sogar zurücktreten.

Als ebenso schwierig erweist sich die Einführung von patriotischer Erziehung, die 2012 von Schülerprotesten verhindert wurde. Derzeit scheinen sich Pekings Statthalter in Hongkong darauf zu konzentrieren, gegen Lehrer vorzugehen, die die Protestbewegung unterstützen. Ende Dezember 2019 teilte Bildungsminister Kevin Yeung mit, dass rund 80 Lehrer im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen worden seien. Bei ernsten Verstößen drohe ihnen die Suspendierung. Das ist aber noch weit entfernt von den Maßnahmen, die regelmäßig in Pekinger Parteimedien gefordert werden.

Ein besonderer Dorn im Auge ist Peking-Treuen in Hongkong das Schulfach "Liberal Studies", das nach ihrer Ansicht Schüler zum Widerstand gegen die Regierung aufhetze. Die Befürworter argumentieren dagegen, dass eine Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Standpunkten die Schüler eher zu moderateren, rationaleren Positionen ermutige. Eingeführt wurde das Fach noch unter der britischen Kolonialverwaltung in den 1990er Jahren. Es sollte die Jugend auf jene Autonomie vorbereiten, die Hongkong unter chinesischer Herrschaft nach dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" versprochen wurde. Doch erst 2009, also lange nach der Rückgabe der Kronkolonie an China, wurde "Liberal Studies" zum Pflichtfach. Eine Abschaffung würde der Protestbewegung vermutlich ein neues Momentum bescheren. Für derartig kontroverse Schritte scheint die Hongkonger Regierung derzeit zu schwach.

Regierungschefin auf Abruf

Regierungschefin Carrie Lam scheint ihren Gestaltungsspielraum weitgehend verloren zu haben. Ihre Bemühungen, einen Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen in Gang zu bringen, hatten ebenso nicht den erwünschten Effekt, den Unmut in der Bevölkerung zu dämpfen, wie zwei Initiativen mit wirtschaftlichen Wohltaten für Unternehmen und Privathaushalte. Als Carrie Lam im Januar 2020 eine mögliche Fortführung des Hongkonger Sonderstatus über das Jahr 2047 hinaus ins Gespräch brachte, löste das nicht einmal mehr eine Debatte aus. Selbst im Pro-Peking-Lager genießt die Regierungschefin offenbar kaum noch Rückhalt. Im Vorfeld der Bezirkswahlen im November, bei denen die Peking-treuen Parteien eine herbe Niederlage einstecken mussten, wurde sie von früheren Verbündeten offen kritisiert. Zur Schwächung Carrie Lams haben sicher die anhaltenden Gerüchte beigetragen, dass sie eine Regierungschefin auf Abruf sei. Die "Financial Times" berichtete im Oktober 2019, Peking erwäge, sie bis März 2020 auszutauschen. Zu solchen Mutmaßungen hat die Regierungschefin selbst beigetragen. Im September war ein Audiomitschnitt eines vertraulichen Gesprächs Carrie Lams mit Unternehmern öffentlich geworden, in dem sie sagte, "wenn ich eine Wahl habe, ist das erste, was ich tue, zurückzutreten, nachdem ich mich zutiefst entschuldigt habe". In Hongkong wurde das als Hinweis gewertet, dass Carrie Lam alle Entscheidungsbefugnisse, inklusive jene über den eigenen Rücktritt, an Peking verloren hatte.

Ähnlich wie mit dem Auslieferungsgesetz haben Carrie Lam und Peking den richtigen Zeitpunkt verpasst, auf eine Aufklärung und Ahndung mutmaßlicher Polizeigewalt hinzuwirken. Die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission, die zu den fünf Kernforderungen der Protestbewegung gehört, hätte nach dem Dafürhalten vieler zu einer Beruhigung der Lage beitragen können. Carrie Lams Argument, dass dies nicht möglich sei, solange die Proteste andauerten, weil ihr sonst die Polizei von der Stange gehen würde, ließ die Regierungschefin nur noch schwächer aussehen.

Das weitgehende Fehlen einer politischen Antwort auf die Proteste, aber auch das Fehlen einer Führungsstruktur auf Seiten der Aktivisten, haben dazu geführt, dass der Konflikt zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Straßenkämpfern, den sogenannten Frontlinern, mutiert ist.

Tränengas und verbale Enthemmung

Die Polizei hat inzwischen mehr als 16.000 Kartuschen Tränengas eingesetzt. Seit August 2019 setzt sie auch Wasserwerfer ein. Es gibt etliche Videos, die auf einen exzessiven Einsatz von Gewalt und Verstöße gegen Einsatzregeln hinweisen. Die Aktivisten greifen ihrerseits zu radikaleren Mitteln, vor allem Sachbeschädigung: Geschäfte, deren Besitzer aus Sicht der Aktivisten Peking zu nahe stehen, werden regelmäßig verwüstet. Dazu gehört die Kaffeehauskette Starbucks, für die in Hongkong die Maxim’s-Gruppe die Lizenz hält. Die Tochter des Gründers der Maxim’s-Gruppe hatte in einer Rede vor einem UN-Gremium scharfe Kritik an der Protestbewegung geübt. Das reichte aus Sicht der Aktivisten, um das Unternehmen für Vandalismus freizugeben. Auch in Hongkonger U-Bahnen gibt es immer wieder erheblichen Sachschaden. Die Aktivisten begründen das damit, dass der U-Bahn-Betreiber auf Bitten der Polizei regelmäßig Stationen schließt, um eine Anfahrt von Demonstranten zu Protestveranstaltungen zu erschweren.

In Auseinandersetzungen mit der Polizei werden nun routinemäßig Molotowcocktails eingesetzt. In der Polytechnischen Universität wurden Ende November 2019 mehr als 4000 solcher Benzinbomben sichergestellt. Wer die Straßenkämpfe beobachtet, wird allerdings feststellen, dass die große Mehrheit der Geschosse nicht in die Nähe von Polizisten geworfen wird, sondern auf die leere Straße. Das dient mutmaßlich dazu, dramatische Bilder zu erzeugen, um das internationale Medieninteresse an den Protesten wachzuhalten. Es gibt aber auch radikale Aktivisten, die es bewusst darauf anlegen, Polizisten zu verletzen. Das zeigte sich etwa im Zusammenhang mit der Besetzung der Polytechnischen Universität im November, als Katapulte und Pfeil und Bogen eingesetzt wurden.

Auch verbal hat auf beiden Seiten eine Enthemmung stattgefunden. Polizisten werden regelmäßig mit Sätzen wie "Deine Frau sollte vergewaltigt werden" traktiert. Viele Sicherheitskräfte nennen die Protestierenden "Kakerlaken". Der Gruppenführer einer Einheit der Bereitschaftspolizei sagte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" im Januar 2020, dass selbst seine Vorgesetzten dieses Wort in Lagebesprechungen verwendeten. Der Polizist vertrat die Ansicht, dass Gewaltexzesse auf Seiten der Polizei dadurch befördert würden, dass die Polizeiführung solche Handlungen bisher nicht öffentlich kritisiert hat und sich kein einziger Beamter bisher für Verstöße gegen Einsatzregeln verantworten musste. Der interviewte Polizist sprach sich vor diesem Hintergrund für eine unabhängige Untersuchung mutmaßlicher Polizeigewalt aus und sagte, dass viele seiner Kollegen diese Einstellung teilten.

Das Fehlen jeglicher Disziplinierungsmaßnahmen hat zu einem dramatischen Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt. In einer Umfrage im Dezember 2019 bezifferten 40 Prozent der Befragten ihr Vertrauen in die Polizei mit 0. Insgesamt kam die Truppe in der Umfrage des Hong Kong Public Opinion Research Institute auf 35 von 100 Punkten. Selbst die in Hongkong stationierten chinesischen Soldaten bekamen höhere Zustimmungswerte.

Soziale Netzwerke als Echokammern

Ein Zwischenfall, der dem Ansehen der Polizei besonders geschadet hat, fand am 21. Juli 2019 in der U-Bahn-Station Yuen Long statt (Abbildung). Dutzende weißgekleidete Männer schlugen damals minutenlang mit Bambusstangen und Eisenrohren willkürlich auf Fahrgäste ein. Mehr als 40 Personen wurden verletzt. Es gibt Vermutungen, dass die Täter der chinesischen Mafia angehören und womöglich bezahlt wurden. Ein Video, das den Peking-treuen Abgeordneten Junius Ho mit manchen der Männer zeigt, hat in der Öffentlichkeit den Verdacht genährt, dass es sich um ein abgekartetes Spiel handelte. Die Polizei griff erst ein, als der Mob den Tatort bereits verlassen hatte, mehr als eine halbe Stunde, nachdem die ersten von Hunderten Notrufen eingingen. Zwei Polizisten, die sich von Anfang an am Tatort befanden, zogen sich aus ungeklärten Gründen zurück. Sechs Monate nach dem Ereignis hat die polizeiinterne Beschwerdestelle ihren Bericht zu dem Zwischenfall noch immer nicht vorgelegt. Der Yuen-Long-Angriff gilt vielen Hongkongern als Wendepunkt in der aktuellen politischen Krise.

Angriff von weißgekleideten Männern auf Demonstranten in der U-Bahn-Station Yuen Long im Juli 2019. (© picture-alliance/AP)

Besonders umstritten ist auch ein Polizeieinsatz am 31. August in der U-Bahn-Station Prince Edward. Videos zeigten ein besonders harsches Vorgehen der Polizei. Entscheidender aber ist, dass sich in Teilen der Bevölkerung hartnäckig die Überzeugung hält, dass bei dem Einsatz Demonstranten getötet wurden und dies vertuscht worden sei. Belastbare Belege gibt es dafür nicht. Es zeigt aber den großen Einfluss der sozialen Medien, die auf beiden Seiten des Konflikts wie Echokammern wirken und eigene Einstellungen und Gerüchte zu vermeintlichen Wahrheiten verdichten.

Ereignisse wie in Yuen Long und Prince Edward haben die Maßstäbe verschoben und die Akzeptanz in der Bevölkerung für militante Protestformen erhöht. Die Tatsache, dass die Bewegung seit acht Monaten anhält, hat auch damit zu tun, dass sie finanziell und emotional von Teilen der Mittelklasse unterstützt wird. Dies äußert sich in Geld- und Sachspenden ebenso wie in der Bereitschaft, die Aktivisten mitten in der Nacht mit dem Auto von Protestveranstaltungen nach Hause zu fahren oder sie zeitweise im eigenen Haus aufzunehmen. Diese Bereitschaft hat auch damit zu tun, dass ein großer Teil der sogenannten Frontliner vergleichsweise jung ist. Ein Grund dafür mag sein, dass die Proteste während der Schulferien begannen. Einige Selbstmordfälle und die Tatsache, dass die Polizei gleich zu Anfang mit Tränengas gegen die damals noch ungeschützten Demonstranten vorging, mobilisierten viele, die bis dahin politisch kaum aktiv waren. Andere der sogenannten Frontliner hatten bereits an militanten Aktionen im Umfeld des Aktivisten Edward Leung teilgenommen, der seinerzeit für eine Unabhängigkeit Hongkongs eintrat und für seine Rolle bei gewaltsamen Protesten 2016 eine Haftstrafe absitzt. Sein Slogan "Liberate Hong Kong, Revolution of our time" ist zu einer zentralen Parole der aktuellen Protestbewegung geworden.

Führerlose Bewegung

Die aktuelle Bewegung grenzt sich bewusst von den Regenschirm-Protesten von 2014 ab, die auch deshalb scheiterten, weil die verschiedenen Lager sich gegenseitig kritisierten und uneins darüber waren, ob militante Aktionen legitim seien. Als Konsequenz daraus lehnen die Befürworter der aktuellen Protestbewegung eine Verurteilung gewaltsamer Aktionen ab und legen Wert darauf, keine Anführer zu haben. Das hat es den Sicherheitsbehörden erschwert, die Bewegung durch gezielte Festnahmen zu schwächen. Die Führerlosigkeit erschwert aber auch eine politische Lösung des Konflikts. Ernstzunehmende Gespräche in diese Richtung fanden bisher nicht statt.

Unterstützung erhielt die Bewegung von den Vereinigten Staaten. Am 27. November unterzeichnete Präsident Donald Trump den sogenannten Hong Kong Human Rights and Democracy Act. Er ermöglicht Sanktionen gegen Personen, die für Menschenrechtsverletzungen in Hongkong verantwortlich gemacht werden. Außerdem verlangt das Gesetz, dass das Außenministerium in Washington einmal jährlich überprüft, ob Hongkong weiterhin ausreichend autonom regiert wird, um einen besonderen Umgang im Handel mit den USA zu rechtfertigen. Der Verlust dieses Sonderstatus, der in einem Gesetz aus dem Jahr 1992 festgeschrieben ist, hätte erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf Hongkong, aber auch auf China insgesamt.

In der Protestbewegung gab es die Hoffnung, dass andere Länder dem Beispiel Washingtons folgen würden. Das internationale Interesse an dem Konflikt ließ aber zuletzt deutlich nach und damit auch das Druckpotenzial der Aktivisten.

Politisch kanalisierte Wut

Seit den Bezirkswahlen Ende November scheint das Maß an gewaltsamen Aktionen zurückgegangen zu sein. Das könnte daran liegen, dass der Wahlerfolg der prodemokratischen Abgeordneten jene Kräfte gestärkt hat, die dafür plädieren, den Protest wieder stärker in politische Kanäle zu tragen. Sie konzentrieren sich nun auf die Parlamentswahl im September 2020 – auch in der Hoffnung, in jenem Wahlgremium, das über einen künftigen Hongkonger Regierungschef entscheidet, weitere Sitze hinzuzugewinnen. Seit der Bezirkswahl verfügt das prodemokratische Lager dort über fast 450 der 1200 Sitze.

Die hohe Zahl der Festnahmen hat vielen Aktivisten offenbar auch vor Augen geführt, dass sie die Unterstützung etablierter politischer Netzwerke benötigen, die sie zuvor abgelehnt hatten. Der langjährige Abgeordnete und Jurist Albert Ho, ein Urgestein der Hongkonger Demokratiebewegung, sagte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Ende November: "Diese jungen Protestierenden brauchen uns." Gemeinsam mit anderen Anwälten hat Albert Ho juristische Unterstützung für festgenommene Aktivisten organisiert.

Vor der Bezirkswahl hatte es in den sozialen Netzwerken unzählige Appelle an den militanten Flügel der Protestbewegung gegeben, den Wahltag nicht für Protestaktionen zu nutzen. Sie wurden befolgt. Der Erfolg der Wahl hat radikalere Aktivisten, die zuvor die Dynamik der Bewegung bestimmten, ein Stück weit in den Hintergrund gedrängt. Dazu haben möglicherweise auch die Ereignisse um die Besetzung der Polytechnischen Universität Mitte November beigetragen, die nach Einschätzung vieler in einem Blutbad hätte enden können, wenn die Polizei nicht nach anfänglichem Zögern Vermittlern Zugang zu der Universität gewährt hätte. Der Blick in den Abgrund hat möglicherweise auf beiden Seiten dazu beigetragen, moderateren Stimmen Gehör zu verschaffen.

Ein Ende der Proteste ist jedoch weiterhin nicht abzusehen. Zugleich sieht es nicht danach aus, dass die Zentralregierung in Peking zu Zugeständnissen gegenüber den Aktivisten bereit wäre. Das dürfte die Entfremdung der Hongkonger vom Festland weiter vorantreiben. Laut einer Umfrage des Hong Kong Public Opinion Research Institute betrachten sich aktuell weniger als die Hälfte der Hongkonger als Bürger der Volksrepublik China.

ist Korrespondentin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für China, Nordkorea und die Mongolei. E-Mail Link: f.boege@faz.de