Einleitung
Der Niedergang des arabischen Nationalismus hatte schon lange vor dem Fall von Saddam Hussein begonnen, doch das Ende des Tyrannen in Bagdad ist das Ende einer Ära. Mit seiner Hinrichtung verliert die arabische umma den letzten laizistischen Kriegsherrn, der ebenso brutal wie kompromisslos die arabischen Völker unter seine Knute zwingen wollte. Nun ist die säkular geprägte Ideologie, die den Arabern den Weg zur Einheit weisen sollte, ohne Führer. Saddams entwürdigender Tod macht sie obsolet.
Die arabische umma ist geschwächt, das heißt, die Glaubensgemeinschaft der Sunniten. Denn die allermeisten Araber sind sunnitische Muslime.
Saudi-Arabien, Land der Heiligen Stätten des Islam und nach eigenem Verständnis die Schutzmacht der Sunniten, will den Hegemonialanspruch des Iran nicht hinnehmen. Die Machtübernahme pro-iranischer Schiiten in Bagdad und der symbolische Sieg der schiitischen Hisbollah gegen Israel im Sommer 2006 haben dem saudischen Königshaus vor Augen geführt, dass die Perser im Begriff sind, den Arabern in ihrer Heimat das Heft aus der Hand zu nehmen. Droht ein innerislamischer Konflikt, der Sunniten und Schiiten auch in eine Konfrontation zwischen Arabern und Persern stürzen könnte?
Angesichts des irakischen Dilemmas der USA scheint sich das Regime in Teheran in relativer Sicherheit zu wiegen. Sollte sich die Bush-Regierung dazu entschließen, den Iran anzugreifen, vertrauen die Mullahs wohl auf die Trümpfe, die sie im Irak gegen die USA einsetzen können. Ihre "fünfte Kolonne" könnte ein alles verschlingendes Feuer entfachen, dem alle Pläne der Amerikaner zur Stabilisierung des Irak zum Opfer fallen würden. Davon wären auch die Nachbarn des Zweistromlandes betroffen. Mit seinem Einfluss auf die Hisbollah, seiner Allianz mit dem Assad-Regime in Syrien und seinen Interventionsmöglichkeiten in Palästina verfügt der Iran über gefährliche Waffen, die die Vormachtstellung der USA in der Region weiter erschüttern könnten. Mit der fortdauernden Besetzung des Iraks, eines islamischen Kernlandes, verschärfen die USA die Konfrontation zwischen den militanten Kräften der islamischen Welt und dem Westen. Das ist die willkommene Gelegenheit für die "Gotteskrieger" der Al-Qaida und gleichgesinnte Gruppen, kampfbereiten Nachwuchs in den sunnitischen Nachbarländern zu mobilisieren, etwa in Saudi-Arabien, wo viele junge Männer den Drang verspüren, für die arabisch-islamische Sache zu kämpfen: gegen die "westlichen Eindringlinge" und ihre einheimischen "Handlanger".
Die Lage im Irak bietet dem herrschenden Klerus im Iran die Chance, den religiös orientierten irakischen Schiiten ihre Lesart islamistischer Staats- und Gesellschaftsdoktrin schmackhaft zu machen und diese unter den schiitischen Minderheitsgruppen in den arabischen Ländern am Golf zu verbreiten. Der saudische Monarch hat deshalb den Iran Anfang 2007 offiziell aufgefordert, jede missionarische Wühlarbeit zu unterlassen, um aus Sunniten revolutionäre Schiiten zu machen. Schon gut zwei Jahre zuvor hatte Jordaniens König Abdallah öffentlich vor der Entstehung eines "schiitischen Halbmondes" gewarnt, der Teheran mit Bagdad und Beirut verbinden und von Zentralasien bis zum östlichen Mittelmeer reichen würde. Tatsächlich bedeutet die Entmachtung der Sunniten, die im Irak als Minderheit über die schiitische Mehrheit herrschten, das Ende der dominanten Stellung der Sunniten im gesamten Nahen und Mittleren Osten. Die Machteinbuße der sunnitischen Regime hat zum Aufstieg der Schiiten geführt, die versuchen werden, ihren Einfluss zu nutzen. Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien sind betroffen und machen ihre amerikanischen Verbündeten dafür verantwortlich. Im arabischen Osten zwischen Damaskus und Bagdad - dort, wo früher das syrische und das irakische Baath-Regime um die Vorherrschaft rangen - ist ein Machtvakuum entstanden, in dem sich die Araber dem wachsenden Einfluss der "Perser" gegenübersehen, ein seit Jahrhunderten beispielloser Vorgang.
Angesichts der sunnitisch-schiitischen Gewaltspirale und unabhängig davon, ob der Irak im Bürgerkrieg versinkt, ist zu erkennen, dass die USA im Irak militärisch und politisch gescheitert sind. Von einem Triumph der "Kräfte der Freiheit" kann keine Rede sein. Vielmehr hat die amerikanische Besatzung den Staat zerstört und islamistischen Terroristen das Feld bereitet. Das ist eine schmerzliche Blamage für die neokonservativen Falken in Washington, die noch im Frühjahr 2006 die Bush-Doktrin des präventiven Militärschlages bestätigt haben. Mit dieser Sicherheitsstrategie reklamieren die USA das unilaterale Recht vorbeugender Kriegseinsätze (preemptive strikes), denn nur so könne man angemessen auf die veränderten Verhältnisse nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 reagieren. Gemeint ist die wachsende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die mit Hilfe weit reichender Raketen immer mehr "Schurkenstaaten" und Terrororganisationen befähige, Tod und Zerstörung über große Entfernungen hinweg herbeizuführen. Deshalb sieht sich das Regime in Teheran durch die USA bedroht. Der Iran will als regionale Großmacht den Lauf der Dinge am Golf bestimmen. Die Beherrschung des Nuklearkreislaufs betrachtet Teheran als Mittel zum Zweck. Die USA und Europa müssten akzeptieren, dass der Iran am östlichen Mittelmeer präsent ist und in Syrien und im Libanon politisch mitmischt. Losgelöst von der "Herrschaft des Gottesgelehrten" (Velayat-e Faqih) und den außenpolitischen Ambitionen ist ein Blick auf das Selbstverständnis der Zivilbevölkerung angebracht. Seit dem 19. Jahrhundert streben die Iraner danach, Fremdbestimmung zu verhindern. Damals führten das Zarenreich und das britische Empire die Perser am Gängelband. Deshalb steht heute fast die gesamte iranische Bevölkerung in der Atompolitik an der Seite des Regimes, wenn es um die Nutzung der zivilen Nukleartechnologie wie etwa der Urananreicherung geht. Das gilt selbst für weite Teile der pro-westlichen Dissidenten. Das Trauma des irakischen Überfalls 1980 prägt die kollektive Psyche der Iraner bis heute. Ein Verzicht auf die nukleare Option ist daher wenig wahrscheinlich.
Das gilt umso mehr, als sich der Iran durch die amerikanische Militärpräsenz umzingelt sieht, Präsident Bush ihn zur "Achse des Bösen" zählt und die Mullahs als Förderer des Terrorismus brandmarkt. Die Aussicht auf eine Hegemonialstellung des Iran im Mittleren Osten alarmiert indes nicht nur die USA und Israel. Auch die arabischen Nachbarn sind besorgt. Besonders der Verdacht, Teheran gehe es um die Fähigkeit, Atomwaffen herzustellen, beunruhigt die sunnitischen Regime. Das hat in Washington und in Tel Aviv zu neuen geopolitischen Gedankenspielen geführt. Die Rede ist von einer Allianz gemäßigter arabischer Staaten mit Saudi-Arabien an der Spitze, die im Verein mit den USA und Israel die Eindämmung des Iran betreiben sollen. Dieses sunnitisch-arabische Lager soll Amerika außerdem dabei helfen, das irakische Chaos zu beenden.
Bush versichert neuerdings, die USA seien fest entschlossen, den arabisch-israelischen Kernkonflikt um Palästina anzugehen. Doch gerade Bush jr. hat während der vergangenen fünf Jahre gezeigt, dass er die Interessen Israels und der USA als quasi deckungsgleich einstuft; sein Engagement erschöpfte sich in Lippenbekenntnissen für eine Zwei-Staaten-Lösung und der Zusicherung an Israel, es könne die Siedlungsblöcke im Westjordanland auf jeden Fall behalten. Deshalb will sich der saudische König Abdallah nicht mit Rhetorik abspeisen lassen. Obwohl die Saudis auf amerikanischen Schutz angewiesen bleiben, besteht König Abdallah auf dem Prinzip "Land gegen Frieden". Darauf basiert sein "arabischer Friedensplan" von 2002, den er auf der jüngsten Gipfelkonferenz der Arabischen Liga in Riad (März 2007) hat bestätigen lassen. Der Plan verspricht den Israelis Frieden, wenn es das 1967 eroberte Land zurückgibt, einen Staat Palästina mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt zulässt und das Rückkehrrecht der 1947/48 geflohenen oder vertriebenen Palästinenser grundsätzlich anerkennt. Die Botschaft an die USA und Israel ist klar: Wenn ihr ernsthaft an einer Regelung in Palästina interessiert seid, wollen wir substanziell verhandeln. Die Zeiten sind vorbei, in denen Israelis und Amerikaner die Verhandlungsmasse einseitig im Vorhinein zu Lasten der Palästinenser festlegen konnten.
Auf taktische Manöver, die dazu dienen, eine anti-iranische Allianz mit den sunnitischen Arabern zu schmieden, ohne eine Neuordnung in der Region durch die Lösung des Palästinaproblems zu bewirken, will sich Abdallah nicht einlassen. Er weiß, dass die Schwäche der Araber gegenüber dem offensiv agierenden Iran nur durch ein geeintes, glaubwürdiges und konsequentes Eintreten für die Palästinenser kompensiert werden kann. Denn die arabischen Völker fühlen sich trotz der konfessionellen Unterschiede mit dem schiitischen Iran verbunden, weil er sich aktiv gegen die israelische Besatzung wendet. Im Übrigen vermeidet Abdallah die offene Konfrontation und veranlasst Gespräche zwischen Ali Larijani, dem Abgesandten von Ajatollah Khamenei, der als geistliches Oberhaupt im Iran der mächtigste Mann ist, und Prinz Bandar, seinem eigenen Sicherheitsberater. Abdallah empfängt den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in Riad, um die schiitisch-sunnitische Spaltung nicht zu vertiefen. Andererseits wird Abdallah überall dort aktiv, wo der Iran den Gang der Dinge nach seinem Gusto lenken will. Im Libanon unterstützt er den sunnitischen Premierminister Fuad Siniora gegen die Hisbollah. Im Irak steht er auf der Seite der entmachteten Sunniten, und in Palästina ist es ihm gelungen, eine Koalitionsregierung zwischen Hamas und Fatah zustande zu bringen. Abdallah will dem Iran in Palästina den Wind aus den Segeln nehmen. Das gelingt ihm nur, wenn diese palästinensische Regierung Bestand hat und er die Hamas auf die arabische Friedensinitiative verpflichten kann. Substanzielle arabisch-israelische Verhandlungen unter Beteiligung der Hamas würden den Iran als selbst ernannten Sachwalter der Rechte der Palästinenser an den Rand oder gar aus dem Spiel drängen. Abdallah will die arabischen Völker nicht der demagogischen Propaganda des iranischen Präsidenten überlassen. Der Hardliner in Teheran stachelt die Massen auf und fordert, Israel solle von der Landkarte verschwinden. Dem muss Abdallah eine erfolgversprechende Politik entgegensetzen, doch das kann er nur, wenn die Menschen in der Region erkennen, dass die USA ein aufrichtiges Interesse an einer gerechten Friedenslösung in Palästina haben.
Der saudische Monarch tritt heute als Wortführer der überwiegend sunnitischen Araber auf, während Ägypten kaum mehr eine Rolle spielt. Abdallah scheut sich nicht, die amerikanische Besatzung des Irak für die arabische Galerie als rechtswidrig zu brandmarken. Dabei ist ihm klar, dass das irakische Debakel nur beendet werden kann, wenn Amerika sich entschließt, den Irak in einer überschaubaren Zeitspanne zu verlassen, und parallel dazu einen regionalen Sicherheitsdialog begründet. Nur die Schaffung eines wirklich souveränen Irak, der die Sunniten an der Macht und an den Öleinnahmen beteiligt, verspricht einen Ausweg aus der Krise und eine Eindämmung des islamistischen Terrorismus. Nur so ließe sich der neue Einfluss des Iran begrenzen, der in eine regionale Sicherheitsarchitektur integriert werden muss. All dies setzt voraus, dass die Palästinafrage auf der Basis "Land gegen Frieden" gelöst wird und Israel bereit ist, sich in diese neue regionale Sicherheitsordnung einzufügen.