Einleitung
Ob im Kampf gegen den Terror, bei Konflikten um Ressourcen oder im Nuklearstreit mit dem Iran: der Begriff der Geopolitik ist in aller Munde und geistert als Schlagwort nicht nur durch akademische Zirkel, sondern findet sich vermehrt auch in Leitartikeln wieder.
Die häufige und zumeist unreflektierte Verwendung des Begriffs der Geopolitik birgt Anlass genug, sich eingehender mit dem Konzept zu beschäftigen und alternative Verständnisse aufzuzeigen, die sich deutlich von klassischen Konzepten unterscheiden. Denn vielfach herrscht immer noch das Missverständnis, dass es sich bei der Geopolitik um eine stringente Schule oder gar ein feststehendes Theoriekonzept handelt, welches an der Schnittstelle zwischen Politik und Geographie politische Probleme leichtfertig zu lösen vermag. Dass diese Auffassung trügerisch ist, versuchen alternative Verständnisse von Raum und Geopolitik aufzuzeigen, wie sie zunehmend in der Politischen Geographie und den Internationalen Beziehungen Verbreitung finden. Allerdings haben sie bisher nur unzureichend den Sprung über ihre disziplinären Grenzen geschafft. Dabei kann gerade die Auseinandersetzung mit der Geopolitik, insbesondere abseits traditioneller Denkschulen, zu interessanten Beiträgen und alternativen Sichtweisen bei Konflikten um Macht und Raum führen.
Hintergründe der klassischen Geopolitik
Geopolitische Denkansätze haben eine lange Tradition. Territoriale Raster waren in der internationalen Politik bereits vor dem Westfälischen Frieden bedeutend. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges wurden sie zu einem Kernpunkt internationaler Politik.
Einer der wichtigsten Vertreter dieser Denkweise in Deutschland war Friedrich Ratzel (1844 - 1904). Mit seinen Werken suchte er die Synthese von Politik und Geographie und argumentierte, dass Expansion und Migration der Schlüssel zum langfristigen Erfolg und Überleben einer Nation seien.
Verwendet wurde der Begriff Geopolitik erstmalig 1899 vom schwedischen Wissenschaftler Rudolf Kjellén (1864 - 1922). Er verstand den Staat zwar als Lebensform - so auch der Titel seines bekanntesten Werkes -, allerdings war für Kjellén die Geographie letztendlich der Politik untergeordnet. Die territoriale Überlebensfähigkeit war zwar entscheidend, konnte aber durch politisches Handeln maßgeblich beeinflusst werden. Sowohl Rudolf Kjellén als auch Friedrich Ratzel legten die Grundsteine für eine weitere Entwicklung der Geopolitik im deutschen Sprachraum.
Im angloamerikanischen Sprachraum hat neben Alfred Thayer Mahan (1840 - 1917) vor allem Halford Mackinder (1861 - 1947) geopolitisches Denken beeinflusst.
Die Versuche von Ratzel, Kjellén, Mackinder und ihren zeitgenössischen Kollegen, Kausalität zwischen geographischer Lage und einem als Raumorganismus bezeichneten Staat herzustellen, wurden zusammen mit der verwendeten Terminologie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von einer Vielzahl von Wissenschaftlern aufgegriffen und erweitert. In Deutschland waren dies vor allem Karl Haushofer, Erich Obst, Hermann Lautersach und Otto Maull. Insbesondere Karl Haushofer (1869 - 1946), Professor für Geographie in München, griff die organisch-geopolitischen Konzepte auf und übertrug sie auf die vermeintliche Sonderstellung des deutschen Reiches.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Geopolitik in Deutschland mit dem Nationalsozialismus und vor allem mit der Person Karl Haushofers in Verbindung gebracht und weitestgehend diskreditiert. Wesentlich dazu beigetragen hat neben der verfehlten Lebensraumideologie die enge persönliche Verbindung Haushofers zum Nazi-Regime. Haushofer versteckte nach dem missglückten Putsch 1923 Rudolf Hess nicht nur bei sich in München, er wurde auch zu seinem wissenschaftlichen Mentor. Über Hess flossen auf diese Weise Haushofers geopolitische Ideen in Hitlers Vorstellungen ein.
Die Verstrickung mit nationalsozialistischen Ideologien bedeutete für die Nachkriegsgeographie, sich von alten Ansätzen radikal zu distanzieren und verfemte Konzepte zu negieren. Die Politische Geographie, als neutraler Gegenentwurf zur normativen Geopolitik konzipiert, führte bis in die 1990er Jahre ein Schattendasein in der deutschen Hochschullandschaft.
Auch in anderen Ländern führte das Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem Bruch mit geopolitischen Denkweisen. In Russland wurde die mit dem Nationalsozialismus assoziierte Geopolitik als faschistisch gebrandmarkt und vom wissenschaftlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen.
Als grundlegendes Element der Politik hat ein positivistischer Raumbegriff im westlichen Denken eine weit zurückreichende Tradition. Auch im Wettlauf um Kolonien und die Implementierung des internationalen Staatensystems erfuhren deterministische Konzepte ihren Höhepunkt.
Kritische Geopolitik
Während im deutschsprachigen Raum geo-politische Fragestellungen vom wissenschaftlichen und populären Diskurs weitestgehend ausgeschlossen wurden, war dies während des Kalten Krieges im angloamerikanischen Sprachraum keineswegs der Fall. Führende Vertreter waren hier Nicholas J. Spykman, später auch Kenneth Waltz, Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski, deren (neo-)realistische theoretische Ansätze als Fortsetzung der klassischen Geopolitik gesehen werden können. Neben dieser herkömmlichen Geopolitik entwickelten sich ab den 1970er Jahren vor allem im angelsächsischen Raum sowie in Frankreich alternative Verständnisse von Geopolitik, die sich mit traditionellen Herangehensweisen kritisch auseinander setzten.
Neue Theorien und Ansätze wurden gesucht, um das Ende des Kolonialismus ebenso zu erklären wie die neuen Geographien der Macht.
Stark geprägt von französischen Wissenschaftlern wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard oder Ferdinand de Saussure wird nach diesen postmodernen Ansätzen Raum - und somit die Grundlage der Geopolitik - nicht mehr als objektive "Sache", sondern vielmehr als sozial über Sprache hergestellt verstanden. In Umkehrung des traditionellen und realistischen Raumverständnisses formierte sich mehr und mehr ein Verständnis von Politischer Geographie und Geopolitik, welches die Spuren und Ansprüche geopolitischer Repräsentationen nachzuvollziehen versucht. Raum und Territorium werden nicht mehr als passive Bühne menschlichen Handelns verstanden, die den möglichen gestalterischen Rahmen für soziale Prozesse darstellt. Vielmehr rückt in den Blickpunkt, wie Raum für politische Zweckeinstrumentalisiert wird. Sprache, Texte, Reden und Kommunikation spielen dabei eine zentrale Rolle und stehen gleichsam im Fokus des Erkenntnisinteresses.
Denn obgleich in politischen Reden und militärischen Planungen immer wieder auf die besondere und quasi natürliche Bedeutung geographischer Besonderheiten verwiesen wird, sind weder Berge noch Meerengen per se strategisch. Qua ihrer Natur sind sie gleichsam bedeutungslos, ohne dass ihnen eine inhärente und objektive Sonderstellung innewohnt. Eine besondere Funktion oder ein strategischer Belang ist eine menschliche Zuschreibung. Geographische Besonderheiten werden erst durch soziale Attribute für gesellschaftliches Handeln bedeutsam. Ohne diese kommunikative Aufladung gibt es keine Relevanz. Anders ausgedrückt: Es gibt zahllose geographische Besonderheiten, die völlig unscheinbar existieren und nur bei bestimmten Gelegenheiten kommunikativ aktiviert werden. Der soziale Charakter geographischer Repräsentationen ist historisch wandelbar und immer auch das Resultat eines kontingenten Auswahlprozesses, der notgedrungen bar jeder Natürlichkeit oder Selbstverständlichkeit bleiben muss.
Den Ansätzen liegt die zentrale Annahme zugrunde, dass etwas nur entstehen und darüber hinaus als existent wahrgenommen werden kann, wenn es von etwas anderem abgegrenzt bzw. als überhaupt existierend konstruiert wird. Geopolitisches Denken ist in seiner Quintessenz daran interessiert, durch Grenzziehungen Raum zu strukturieren. Abgrenzungen sind zwar alltägliche Grundlage der Gliederung sowohl sozialer als auch natürlicher Umwelt, doch durch die fortlaufende Wiederholung werden realiter willkürliche Grenzziehungen, die häufig als Gegensatzpaare erscheinen, in ein Wissen um Grenzen transformiert, welches letztendlich als natürlich dechiffriert wird. Differenzierung, Normierung und Normalisierung zwischen dem "Eigenen" und dem "Anderen" ist ein entscheidendes Moment der geopolitischen Praxis. Abgrenzungen manifestieren sich dabei bereits auf subtile Weise. "Simply to describe a foreign-policy problem is to engage in geopolitics, for one is implicitly and tacitly normalizing a particular world. [...] Geopolitical reasoning begins at a very simple level and is a pervasive part of the practice of international politics."
Der Einwand, dass sich mit dem Wandel der politischen Umstände immer auch die Bedeutung geographischer Vorstellungen wandelt, ist richtig. Er unterstreicht nochmals das zentrale Argument. Erst politische Konstellationen und Diskurse weisen geographischen Belangen ihre naturalisierten Ausnahmestellungen zu. Dass geopolitische Annahmen ihren Charakter grundlegend wandeln, ist nicht ausgeschlossen. Daher ist es von besonderem Interesse, diesen Bedeutungswandel nachzuvollziehen und sowohl die eingesetzten kommunikativen Mittel als auch die Strategien der Abgrenzung zu verstehen.
Ziel der Critical Geopolitics ist deshalb nicht nur der kritische Umgang mit der klassischen Geopolitik, sondern auch und vor allem, dem Denken in Dichotomien, binären Abgrenzungen und Differenzen ein selbst-kritisches Denken entgegenzustellen, das die Heterogenität, die Vielfalt und Komplexität des "Anderen" anerkennt.
Dabei kann es gemäß einer konstruktivistischen Grundannahme keine übergeordnete Meta-Objektivität geben. Geopolitische Konstruktionen und Ordnungsvorstellungen müssen vielmehr als subjektive Kategorisierungen und Regionalisierungen verstanden werden, die als aktive Form von Geopolitik der Durchsetzung eigener politischer Interessen dienen. Selbstverständlich gilt dieser Anspruch auch für alternative geopolitische Ansätze. Basis der Kritischen Geopolitik ist kein theoretisches Fundament, sondern - ganz im Sinne der Postmoderne mit Bezügen zum Poststrukturalismus, Postkolonialismus und Feminismus - eine heterogene Herangehensweise mit einem Theorie- und Methodenpluralismus, der gesellschaftliche Phänomene zu verstehen versucht.
Die Beschreibung der Welt und die Wiederholung bestimmter Ordnungsvorstellungen (re-)produzieren Machtverhältnisse. Damit wird das Zusammenspiel von Geographie, Politik und Macht durch kritische Ansätze thematisiert. Solche machtvollen' Darstellungen finden sich auf allen Ebenen gesellschaftlichen Handelns wieder. Neben populären Darstellungen in Filmen und Büchern, in denen durch vermeintlich unschuldige' und neutrale Beschreibungen politische Ordnungen gefestigt und normalisiert werden, finden auch akademische Diskussionen Eingang in alltägliche Diskurse.
Einer der am meisten diskutierten Artikel der 1990er Jahre war 'The Clash of Civilizations?' von Samuel P. Huntington, publiziert in der einflussreichen amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs.
Zudem erinnert Huntingtons Konzept stark an die Kulturerdteile von Albert Kolb.
Schlussbemerkungen
Das Beispiel des "Kampfs der Kulturen" verdeutlicht eingängig, welche prägende Wirkung pauschalisierende Slogans und geopolitische Leitbilder haben können. Dabei sei hervorgehoben, dass mit dem angenommenen strukturierenden Gehalt geopolitischer Devisen nicht automatisch auf die Entlarvung absichtlicher Falschinformation abgezielt wird. Dies würde eine bewusste Propaganda bei der Verbreitung geopolitischer Diskurse voraussetzen. Vielmehr geht es darum, geopolitische Weltbilder in ihrer Funktion zu verstehen und ihre Wirkweisen nachzuzeichnen. Der theoretisch-methodische Pluralismus ist dabei Chance und Anlass für Kritik zugleich. Der Ansatz der Kritischen Geopolitik ist nicht frei von Antinomien, Unstimmigkeiten und Inkonsequenzen. Die Probleme reichen von "grundsätzlichen, ontologischen Einwänden bis hin zu konkreten Aspekten der methodischen Umsetzung in der empirischen Forschung".
Der geänderte Blickwinkel eröffnet nichtsdestotrotz eine Reihe neuer Forschungsfelder, die sich kritisch mit herkömmlichen Konzepten auseinandersetzen und über die traditionellen Analysekategorien und Themenbereiche hinausgehen. Politische Konflikte um ökologische Ressourcen rücken verstärkt ins Zentrum des Interesses einer postmodernen Politischen Geographie. Dabei stehen nicht nur die Konflikte selbst im Vordergrund, sondern es geht auch und vor allem darum, welche Strategien die beteiligten Akteure wählen, um Interessen oder Protest zu artikulieren und durchzusetzen.
Postmoderne Ansätze bieten die Gelegenheit, den häufig unreflektierten Gebrauch geopolitischer Begrifflichkeiten kritisch zu begleiten und eine Alternative zu herkömmlichen Verwendungen aufzuzeigen. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zu mehr Toleranz und Verständigung. Hierin ist ihre Stärke zu sehen, denn entgegen weit verbreiteter Herangehensweisen, nach denen die Geographie Hand in Hand mit der realistischen Schule geht, bieten konstruktivistische Verfahren die Chance, sich von diesen Annahmen abzugrenzen und soziale Determinanten in den Blick zu rücken. Der Raum als "Akteur" rückt in den Hintergrund; so wird die Chance eröffnet, sich kritisch mit sozialen Faktoren auseinander zu setzen. Das Verhältnis von Geographie und Politik wird damit umgekehrt. Zugleich schwinden alle Möglichkeiten, sich auf naturgegebene Faktoren zu berufen und in einen deterministischen Fatalismus zu ergeben.
Die neuen Erkenntnisgewinne sind aber nicht nur für abstrakte Wissenschaftsfelder von Interesse, sondern vermögen - trotz der zum Teil sperrigen Ausdrucksweisen und eventueller Berührungsängste mit ungewohnten philosophischen Grundannahmen - einen wichtigen Einblick für die Praxis in Politik und Schulen zu leisten. Ein kritisches Arbeiten, welches auch eigene Annahmen und Positionen ständig hinterfragt, leistet daher einen wichtigen Beitrag für eine differenzierte Sichtweise und verlangt mehr Toleranz sowohl im politischen als auch im alltäglichen Umgang. Der geschärfte Blick für Differenzen, Abgrenzungen und ihre konstitutive Wirkung ist es denn auch, der die dargestellten alternativen Perspektiven der Geopolitik so zeitgemäß erscheinen lässt.