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Geopolitik - Annäherung an ein schwieriges Konzept | Neue Formen der Staatlichkeit | bpb.de

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Geopolitik - Annäherung an ein schwieriges Konzept

Jan Helmig

/ 17 Minuten zu lesen

Geopolitische Argumentationen spielen in der Politik eine weiterhin wichtige Rolle. Neben klassischen geopolitischen Konzepten etabliert sich mehr und mehr ein alternatives Verständnis von räumlichen Abgrenzungsprozessen, welches die traditionelle Geopolitik selbst als machtpolitisches Mittel versteht.

Einleitung

Ob im Kampf gegen den Terror, bei Konflikten um Ressourcen oder im Nuklearstreit mit dem Iran: der Begriff der Geopolitik ist in aller Munde und geistert als Schlagwort nicht nur durch akademische Zirkel, sondern findet sich vermehrt auch in Leitartikeln wieder. Doch obwohl die Geopolitik im politischen Meinungsstreit beständig ins Feld geführt wird - sei es alsKronzeugin im "Kampf der Kulturen" oder in der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei -, scheint der Begriff inhaltlich zumeist seltsam anämisch zu bleiben. Ob als akademisches Füllwort oder als feuilletonistische Plattitüde: in den wenigsten Fällen entrinnt die Geopolitik ihrem Schicksal als schiere Worthülse mit wechselhaftem Inhalt. Was genau der Präfix 'geopolitisch' bedeutet, bleibt in vielen Fällen vage und der Phantasie des Lesers überlassen. Jedoch wird durch die beständige Verwendung geopolitischer Argumentationen der Raum zum essenziellen Agens im politischen Geschehen stilisiert. Erklärungen für die großen und kleinen Probleme der Welt werden somit, wie auch die impliziten Lösungen, en passant gleich mitgeliefert. Gerade hierin liegt die besondere Attraktivität geopolitischer Beweisführungen. Je nach politisch-ideologischem Gusto wird Geopolitik nicht nur zum Füllhorn, aus dem sich unterschiedliche Ansprüche, Forderungen und Erklärungen speisen, sondern die entsprechenden pseudo- wissenschaftlichen Begrifflichkeiten werden gleich mitgeliefert. Die potenzielle Beliebigkeit der Geopolitik kommt als schicksalhafte Realpolitik im naturalistischen Gewand daher.



Die häufige und zumeist unreflektierte Verwendung des Begriffs der Geopolitik birgt Anlass genug, sich eingehender mit dem Konzept zu beschäftigen und alternative Verständnisse aufzuzeigen, die sich deutlich von klassischen Konzepten unterscheiden. Denn vielfach herrscht immer noch das Missverständnis, dass es sich bei der Geopolitik um eine stringente Schule oder gar ein feststehendes Theoriekonzept handelt, welches an der Schnittstelle zwischen Politik und Geographie politische Probleme leichtfertig zu lösen vermag. Dass diese Auffassung trügerisch ist, versuchen alternative Verständnisse von Raum und Geopolitik aufzuzeigen, wie sie zunehmend in der Politischen Geographie und den Internationalen Beziehungen Verbreitung finden. Allerdings haben sie bisher nur unzureichend den Sprung über ihre disziplinären Grenzen geschafft. Dabei kann gerade die Auseinandersetzung mit der Geopolitik, insbesondere abseits traditioneller Denkschulen, zu interessanten Beiträgen und alternativen Sichtweisen bei Konflikten um Macht und Raum führen.

Hintergründe der klassischen Geopolitik

Geopolitische Denkansätze haben eine lange Tradition. Territoriale Raster waren in der internationalen Politik bereits vor dem Westfälischen Frieden bedeutend. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges wurden sie zu einem Kernpunkt internationaler Politik. Doch obwohl Geopolitik avant la lettre existierte, kann in keiner Weise von einer bewussten und expliziten geopolitischen Tradition gesprochen werden. Erst die Übernahme biologistischer Erklärungsmuster auch für gesellschaftliche Phänomene und die auf evolutionstheoretischen Grundlagen basierende Annahme von Staaten als organischen Lebewesen rechtfertigte nicht nur eine territoriale Expansion, sondern auch die Unterdrückung und Ausbeutung schwächerer Staaten als "natürliche Selektion". Deterministischen Argumentationen wurde Vorrang eingeräumt; soziale Phänomene wurden als notwendige Folge externer Bedingungen' aufgefasst.

Einer der wichtigsten Vertreter dieser Denkweise in Deutschland war Friedrich Ratzel (1844 - 1904). Mit seinen Werken suchte er die Synthese von Politik und Geographie und argumentierte, dass Expansion und Migration der Schlüssel zum langfristigen Erfolg und Überleben einer Nation seien. Seine positivistische Auffassung mündete in der Annahme, dass sich Staaten in einem ständigen Existenzkampf um essenziellen Lebensraum befänden. Die Annexion schwächerer Staaten wurde als natürlicher Vorgang im Entwicklungszyklus eines Staates aufgefasst, während gesellschaftliche, politische oder kulturelle Konstellationen lediglich eine nachgeordnete Rolle spielten. Damit lieferte Ratzel der politischen Rechten das nötige wissenschaftliche Vokabular, um den nationalistischen Expansionsdrang des deutschen Reiches zu legitimieren. Die geopolitische Prädisposition ließ den Imperialismus als zwangsläufige Folge erscheinen. Wenngleich die Polysemie der Ratzel'schen Begriffe viele (Be-)Deutungen von Raum und Politik denkbar gemacht hat, war in ihr bereits die Basis für die Lebensraumideologie des Dritten Reiches angelegt. Zwar wurde dem 'Rassendenken' schließlich Vorrang vor dem 'Raumdenken' eingeräumt, der Kampf um Lebensraum als legitimatorische Grundlage deutscher Expansionsbestrebungen blieb jedoch bestehen.

Verwendet wurde der Begriff Geopolitik erstmalig 1899 vom schwedischen Wissenschaftler Rudolf Kjellén (1864 - 1922). Er verstand den Staat zwar als Lebensform - so auch der Titel seines bekanntesten Werkes -, allerdings war für Kjellén die Geographie letztendlich der Politik untergeordnet. Die territoriale Überlebensfähigkeit war zwar entscheidend, konnte aber durch politisches Handeln maßgeblich beeinflusst werden. Sowohl Rudolf Kjellén als auch Friedrich Ratzel legten die Grundsteine für eine weitere Entwicklung der Geopolitik im deutschen Sprachraum.

Im angloamerikanischen Sprachraum hat neben Alfred Thayer Mahan (1840 - 1917) vor allem Halford Mackinder (1861 - 1947) geopolitisches Denken beeinflusst. Obwohl Mackinder in seiner Rede The Geographical Pivot of History am 25. Januar 1904 den Begriff Geopolitik nicht ausdrücklich erwähnte, wird sein Vortrag dennoch als Meilenstein in der Geschichte der Geopolitik gesehen; dies unter anderem deshalb, da Mackinder in seiner Grundsatzrede eine Neuorientierung der Geographie forderte, nämlich den Wandel von einer entdeckenden zu einer erklärenden Wissenschaft einschließlich dezidierter Politikberatung. Zudem verknüpfte er ausdrücklich Geographie und Politik, was nicht zuletzt seiner Position als Dozent für Geographie und als Abgeordneter im Parlament geschuldet war. Der Gegensatz von Land und Meer wurde von Mackinder jedoch grundsätzlich anders bewertet als vom Navalisten Mahan, der Seemächten größere Bedeutung zusprach. Mackinders Ideen hatten einen großen Einfluss auf politische Entscheidungsträger und schürten 35 Jahre später die Furcht der Alliierten vor einer deutsch-sowjetischen Allianz.

Die Versuche von Ratzel, Kjellén, Mackinder und ihren zeitgenössischen Kollegen, Kausalität zwischen geographischer Lage und einem als Raumorganismus bezeichneten Staat herzustellen, wurden zusammen mit der verwendeten Terminologie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von einer Vielzahl von Wissenschaftlern aufgegriffen und erweitert. In Deutschland waren dies vor allem Karl Haushofer, Erich Obst, Hermann Lautersach und Otto Maull. Insbesondere Karl Haushofer (1869 - 1946), Professor für Geographie in München, griff die organisch-geopolitischen Konzepte auf und übertrug sie auf die vermeintliche Sonderstellung des deutschen Reiches. Die daraus resultierenden normativen Handlungsanweisungen machte die Geopolitik im Dritten Reich zur wissenschaftlichen Erfüllungsgehilfin einer nationalsozialistischen Ideologie, die in den blutigen Expansionskriegen um Macht und Raum ihren Höhepunkt fand. Scheinbar räumliche Zwänge wurden mit gesellschaftlichen Faktoren eingängig verknüpft. Die Legitimation dieser aggressiven Politik fand in den Slogans Blut und Boden oder Kampf um Lebensraum ihre polemischen und plakativen Aussprüche.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Geopolitik in Deutschland mit dem Nationalsozialismus und vor allem mit der Person Karl Haushofers in Verbindung gebracht und weitestgehend diskreditiert. Wesentlich dazu beigetragen hat neben der verfehlten Lebensraumideologie die enge persönliche Verbindung Haushofers zum Nazi-Regime. Haushofer versteckte nach dem missglückten Putsch 1923 Rudolf Hess nicht nur bei sich in München, er wurde auch zu seinem wissenschaftlichen Mentor. Über Hess flossen auf diese Weise Haushofers geopolitische Ideen in Hitlers Vorstellungen ein. Der Umfang des Einflusses bleibt jedoch umstritten.

Die Verstrickung mit nationalsozialistischen Ideologien bedeutete für die Nachkriegsgeographie, sich von alten Ansätzen radikal zu distanzieren und verfemte Konzepte zu negieren. Die Politische Geographie, als neutraler Gegenentwurf zur normativen Geopolitik konzipiert, führte bis in die 1990er Jahre ein Schattendasein in der deutschen Hochschullandschaft. Mit wenigen Ausnahmen endete mit der Stigmatisierung und Tabuisierung des Begriffs in Deutschland auch die kritische Auseinandersetzung mit der Geopolitik; die Polysemie des Begriffes hat sicherlich dazu beigetragen. Eine kritische Aufarbeitung bzw. Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wurde so lange Zeit vernachlässigt. Dabei ist Geopolitik dezidiert und qua nomen kein ausschließliches Themengebiet der Geographie.

Auch in anderen Ländern führte das Ende des Zweiten Weltkrieges zu einem Bruch mit geopolitischen Denkweisen. In Russland wurde die mit dem Nationalsozialismus assoziierte Geopolitik als faschistisch gebrandmarkt und vom wissenschaftlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen. Gegenwärtig ist aber auch hier eine Wiederbelebung klassischer geopolitischer Argumentationen zu beobachten. In Frankreich hingegen wurde u.a. mit der Zeitschrift Hérodote nach dem Zweiten Weltkrieg die offensive Auseinandersetzung mit dem Begriff gesucht.

Als grundlegendes Element der Politik hat ein positivistischer Raumbegriff im westlichen Denken eine weit zurückreichende Tradition. Auch im Wettlauf um Kolonien und die Implementierung des internationalen Staatensystems erfuhren deterministische Konzepte ihren Höhepunkt. Diese Ansätze sind jedoch nicht nur aufgrund ihrer teilweisen Verknüpfung mit nationalsozialistischem Gedankengut in die Kritik geraten, sondern auch aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Grundannahmen. Alternative Ansätze verstehen sich daher als Gegenvorschlag zu traditionellen Konzepten und brechen mit einem realistischen Raumverständnis.

Kritische Geopolitik

Während im deutschsprachigen Raum geo-politische Fragestellungen vom wissenschaftlichen und populären Diskurs weitestgehend ausgeschlossen wurden, war dies während des Kalten Krieges im angloamerikanischen Sprachraum keineswegs der Fall. Führende Vertreter waren hier Nicholas J. Spykman, später auch Kenneth Waltz, Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski, deren (neo-)realistische theoretische Ansätze als Fortsetzung der klassischen Geopolitik gesehen werden können. Neben dieser herkömmlichen Geopolitik entwickelten sich ab den 1970er Jahren vor allem im angelsächsischen Raum sowie in Frankreich alternative Verständnisse von Geopolitik, die sich mit traditionellen Herangehensweisen kritisch auseinander setzten.

Neue Theorien und Ansätze wurden gesucht, um das Ende des Kolonialismus ebenso zu erklären wie die neuen Geographien der Macht. Bestehende Konzepte griffen zu kurz, um den geänderten Rahmenbedingungen nach dem Ende des ideologisch-politischen Dualismus vor dem Hintergrund der postmodernen Heterogenität gerecht zu werden. Dem klassischen geopolitischen Denken wurden alternative Ansätze zur Seite gestellt, nach deren Selbstverständnis geographische Repräsentationen in den Internationalen Beziehungen analysiert werden müssen. Demnach wird Geographie nicht als endgültige Wahrheit gefasst, sondern als eine Form sozial produzierten Wissens. Die Konzepte zielten auf den Transfer gesellschaftskritischer Ideen aus den Sozialwissenschaften und der Philosophie in die Geographie. Im Gefolge des linguistic turns, der Anerkennung der untrennbaren Verknüpfung von Sprache mit gesellschaftlichen Faktoren, setzte sich die Theorie durch, dass Sprache als konstituierendes und auf keiner äußeren objektiven Wahrheit basierendes Element zu berücksichtigen sei. Traditionelle Raumkonzepte, die auf die Neutralität und Objektivität des Raumes Bezug nehmen, wurden anfechtbar.

Stark geprägt von französischen Wissenschaftlern wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard oder Ferdinand de Saussure wird nach diesen postmodernen Ansätzen Raum - und somit die Grundlage der Geopolitik - nicht mehr als objektive "Sache", sondern vielmehr als sozial über Sprache hergestellt verstanden. In Umkehrung des traditionellen und realistischen Raumverständnisses formierte sich mehr und mehr ein Verständnis von Politischer Geographie und Geopolitik, welches die Spuren und Ansprüche geopolitischer Repräsentationen nachzuvollziehen versucht. Raum und Territorium werden nicht mehr als passive Bühne menschlichen Handelns verstanden, die den möglichen gestalterischen Rahmen für soziale Prozesse darstellt. Vielmehr rückt in den Blickpunkt, wie Raum für politische Zweckeinstrumentalisiert wird. Sprache, Texte, Reden und Kommunikation spielen dabei eine zentrale Rolle und stehen gleichsam im Fokus des Erkenntnisinteresses.

Denn obgleich in politischen Reden und militärischen Planungen immer wieder auf die besondere und quasi natürliche Bedeutung geographischer Besonderheiten verwiesen wird, sind weder Berge noch Meerengen per se strategisch. Qua ihrer Natur sind sie gleichsam bedeutungslos, ohne dass ihnen eine inhärente und objektive Sonderstellung innewohnt. Eine besondere Funktion oder ein strategischer Belang ist eine menschliche Zuschreibung. Geographische Besonderheiten werden erst durch soziale Attribute für gesellschaftliches Handeln bedeutsam. Ohne diese kommunikative Aufladung gibt es keine Relevanz. Anders ausgedrückt: Es gibt zahllose geographische Besonderheiten, die völlig unscheinbar existieren und nur bei bestimmten Gelegenheiten kommunikativ aktiviert werden. Der soziale Charakter geographischer Repräsentationen ist historisch wandelbar und immer auch das Resultat eines kontingenten Auswahlprozesses, der notgedrungen bar jeder Natürlichkeit oder Selbstverständlichkeit bleiben muss. Die Kritische Geopolitik weist geopolitische Argumente jedoch nicht völlig ab, sondern versucht vielmehr, die Wirkweisen zu verstehen, wie beispielsweise Simplifizierungen und Reduktionen eingesetzt werden, um bestimmte Politiken zu fördern oder zu stützen. Es geht daher weniger um eine Dekonstruktion, verstanden als absolute Negation, als vielmehr um das Begreifen der Funktion der Geopolitik. Ziel ist es, die ideologische Substanz der Rechtfertigungen von Weltpolitik aufzudecken und die Bindung an die Interessen bestimmter Akteure zu dokumentieren. Indem Geopolitik als soziales Phänomen aufgefasst wird, "verliert die Geopolitik ihren Status als Prophetin einer gleichsam naturgegebenen Wahrheit. Sie wird umgekehrt als eine diskursive Praxis aufgefasst, mit deren Hilfe die scheinbar natürliche räumliche Ordnung derinternationalen Politik erst (re-)produziert wird".

Den Ansätzen liegt die zentrale Annahme zugrunde, dass etwas nur entstehen und darüber hinaus als existent wahrgenommen werden kann, wenn es von etwas anderem abgegrenzt bzw. als überhaupt existierend konstruiert wird. Geopolitisches Denken ist in seiner Quintessenz daran interessiert, durch Grenzziehungen Raum zu strukturieren. Abgrenzungen sind zwar alltägliche Grundlage der Gliederung sowohl sozialer als auch natürlicher Umwelt, doch durch die fortlaufende Wiederholung werden realiter willkürliche Grenzziehungen, die häufig als Gegensatzpaare erscheinen, in ein Wissen um Grenzen transformiert, welches letztendlich als natürlich dechiffriert wird. Differenzierung, Normierung und Normalisierung zwischen dem "Eigenen" und dem "Anderen" ist ein entscheidendes Moment der geopolitischen Praxis. Abgrenzungen manifestieren sich dabei bereits auf subtile Weise. "Simply to describe a foreign-policy problem is to engage in geopolitics, for one is implicitly and tacitly normalizing a particular world. [...] Geopolitical reasoning begins at a very simple level and is a pervasive part of the practice of international politics."

Der Einwand, dass sich mit dem Wandel der politischen Umstände immer auch die Bedeutung geographischer Vorstellungen wandelt, ist richtig. Er unterstreicht nochmals das zentrale Argument. Erst politische Konstellationen und Diskurse weisen geographischen Belangen ihre naturalisierten Ausnahmestellungen zu. Dass geopolitische Annahmen ihren Charakter grundlegend wandeln, ist nicht ausgeschlossen. Daher ist es von besonderem Interesse, diesen Bedeutungswandel nachzuvollziehen und sowohl die eingesetzten kommunikativen Mittel als auch die Strategien der Abgrenzung zu verstehen.

Ziel der Critical Geopolitics ist deshalb nicht nur der kritische Umgang mit der klassischen Geopolitik, sondern auch und vor allem, dem Denken in Dichotomien, binären Abgrenzungen und Differenzen ein selbst-kritisches Denken entgegenzustellen, das die Heterogenität, die Vielfalt und Komplexität des "Anderen" anerkennt. Die zentrale Fragestellung der Kritischen Geopolitik lautet entsprechend, welche Grenzen gezogen werden, wo dieses geschieht, wie Aufteilungen legitimiert und naturalisiert werden und welche Mechanismen von Exklusion und Inklusion buchstäblich zur Sprache kommen. Der Fokus auf geopolitischen Konstruktionen, Sprachspielen und rhetorischen Argumentationszusammenhängen verdeutlicht, wie politische Akteure mit vermeintlich objektiven und "richtigen" Fakten ihre eigenen Interessen durchzusetzen versuchen.

Dabei kann es gemäß einer konstruktivistischen Grundannahme keine übergeordnete Meta-Objektivität geben. Geopolitische Konstruktionen und Ordnungsvorstellungen müssen vielmehr als subjektive Kategorisierungen und Regionalisierungen verstanden werden, die als aktive Form von Geopolitik der Durchsetzung eigener politischer Interessen dienen. Selbstverständlich gilt dieser Anspruch auch für alternative geopolitische Ansätze. Basis der Kritischen Geopolitik ist kein theoretisches Fundament, sondern - ganz im Sinne der Postmoderne mit Bezügen zum Poststrukturalismus, Postkolonialismus und Feminismus - eine heterogene Herangehensweise mit einem Theorie- und Methodenpluralismus, der gesellschaftliche Phänomene zu verstehen versucht.

Die Beschreibung der Welt und die Wiederholung bestimmter Ordnungsvorstellungen (re-)produzieren Machtverhältnisse. Damit wird das Zusammenspiel von Geographie, Politik und Macht durch kritische Ansätze thematisiert. Solche machtvollen' Darstellungen finden sich auf allen Ebenen gesellschaftlichen Handelns wieder. Neben populären Darstellungen in Filmen und Büchern, in denen durch vermeintlich unschuldige' und neutrale Beschreibungen politische Ordnungen gefestigt und normalisiert werden, finden auch akademische Diskussionen Eingang in alltägliche Diskurse.

Einer der am meisten diskutierten Artikel der 1990er Jahre war 'The Clash of Civilizations?' von Samuel P. Huntington, publiziert in der einflussreichen amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs. Die kontroverse Diskussion der Abhandlung veranlasste ihn, seine Thesen auf mehreren hundert Seiten drei Jahre später auch als Buch zu veröffentlichen. Das Fragezeichen in seiner Überschrift verschwand und ließ den Kampf der Kulturen in greifbare Nähe rücken. Dabei simplifiziert und "homogenisiert" Huntington Nationalstaaten, Regionen und Gesellschaften zu "Gebilden einheitlicher Kultur". Anstelle ideologischer Trennfaktoren werden scheinbar unüberwindliche Kulturgegensätze, bestehend aus Religion, Ethnie, Sprache und Geschichte konstruiert, die mittels "tektonischer Bruchlinien" ökonomische Gegensätze vergessen lassen und die Abschottung des Westens legitimieren. Konflikte zwischen den unterschiedlichen Kulturkreisen - oder vielmehr the West against the Rest - erscheinen aus dieser Sicht unabwendbar. Huntington konstruiert, den deterministischen Argumentationslogiken klassischer Geopolitik folgend, ein 'Wir' gegen 'Sie', 'Innen' gegen 'Außen'. Die Differenz wird zum Identitätsmerkmal, wobei nicht berücksichtigt wird, dass "Prozesse der Entgrenzung und des Ausgleichs auf den ersten Blick ebenso evident [sind] wie solche der Fragmentierung".

Zudem erinnert Huntingtons Konzept stark an die Kulturerdteile von Albert Kolb. Anders als dieser stellt Huntington jedoch die Abgrenzung der Kulturen in den Vordergrund. Mit ein und derselben Leitidee sind sowohl Friedensgeographie, wie sie Kolb im Sinn hat, als auch Konfliktrhetorik à la Huntington möglich. Huntington gelingt dies auch deshalb so gut, weil er auf bereits in der Gesellschaft vorhandene Diskurse zurückgreift und seine Thesen damit verknüpft. Er schließt sich der klassischen geopolitischen Tradition im Sinne des politischen Realismus an und führt die Dichotomisierung des Kalten Krieges auf anderer Ebene weiter. Die verwendeten geopolitischen Sprachspiele zeigen, wie durch ihre vereinfachenden interpretativen Abgrenzungs- und Trennungsrhetoriken Subjekte und Objekte auf eine territoriale Schablone reduziert werden. Der "Kampf der Kulturen" stellt ein prominentes Beispiel dar für den Versuch, angesichts wachsender Unübersichtlichkeit und Unsicherheit im Zeitalter der Postmoderne vertraute Denkmuster zu retten und auf ein territoriales Raster zu projizieren. Das räumliche 'Vertigo' der neuen Welt(un)ordnung wird durch den Bezug auf bekannte Schemata gemindert. Die verlockende Einfachheit geographischer Konflikt-Verortungen bietet die Gelegenheit, Ordnung in das Chaos zu bringen. Diese Diskurse mit ihren subtilen Konstruktionen finden gerade durch die einladende Schlichtheit der Erklärungen Eingang in die Alltagssprache und darüber in das alltägliche Handeln der Menschen. Rassistische Pauschalisierungen und Diskriminierungen können die Folge sein.

Schlussbemerkungen

Das Beispiel des "Kampfs der Kulturen" verdeutlicht eingängig, welche prägende Wirkung pauschalisierende Slogans und geopolitische Leitbilder haben können. Dabei sei hervorgehoben, dass mit dem angenommenen strukturierenden Gehalt geopolitischer Devisen nicht automatisch auf die Entlarvung absichtlicher Falschinformation abgezielt wird. Dies würde eine bewusste Propaganda bei der Verbreitung geopolitischer Diskurse voraussetzen. Vielmehr geht es darum, geopolitische Weltbilder in ihrer Funktion zu verstehen und ihre Wirkweisen nachzuzeichnen. Der theoretisch-methodische Pluralismus ist dabei Chance und Anlass für Kritik zugleich. Der Ansatz der Kritischen Geopolitik ist nicht frei von Antinomien, Unstimmigkeiten und Inkonsequenzen. Die Probleme reichen von "grundsätzlichen, ontologischen Einwänden bis hin zu konkreten Aspekten der methodischen Umsetzung in der empirischen Forschung".

Der geänderte Blickwinkel eröffnet nichtsdestotrotz eine Reihe neuer Forschungsfelder, die sich kritisch mit herkömmlichen Konzepten auseinandersetzen und über die traditionellen Analysekategorien und Themenbereiche hinausgehen. Politische Konflikte um ökologische Ressourcen rücken verstärkt ins Zentrum des Interesses einer postmodernen Politischen Geographie. Dabei stehen nicht nur die Konflikte selbst im Vordergrund, sondern es geht auch und vor allem darum, welche Strategien die beteiligten Akteure wählen, um Interessen oder Protest zu artikulieren und durchzusetzen. Politische Konflikte um territoriale Kontrolle und Grenzkonflikte sind weitere Themengebiete, in denen sich neue Forschungsperspektiven eröffnen. Eng damit verbunden ist der Fokus auf politische Konflikte um raumbezogene Identitäten und deren geopolitische Instrumentalisierbarkeit in Bezug auf traditionelle Konzepte wie Ethnie, Nation, Region oder Religion. Aber auch regionale Konflikte und die Rolle neuer sozialer Bewegungen bzw. die Wirkung transnationaler Akteure auf Prozesse der Globalisierung rücken ins Zentrum des Interesses der Politischen Geographie bzw. der Kritischen Geopolitik.

Postmoderne Ansätze bieten die Gelegenheit, den häufig unreflektierten Gebrauch geopolitischer Begrifflichkeiten kritisch zu begleiten und eine Alternative zu herkömmlichen Verwendungen aufzuzeigen. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zu mehr Toleranz und Verständigung. Hierin ist ihre Stärke zu sehen, denn entgegen weit verbreiteter Herangehensweisen, nach denen die Geographie Hand in Hand mit der realistischen Schule geht, bieten konstruktivistische Verfahren die Chance, sich von diesen Annahmen abzugrenzen und soziale Determinanten in den Blick zu rücken. Der Raum als "Akteur" rückt in den Hintergrund; so wird die Chance eröffnet, sich kritisch mit sozialen Faktoren auseinander zu setzen. Das Verhältnis von Geographie und Politik wird damit umgekehrt. Zugleich schwinden alle Möglichkeiten, sich auf naturgegebene Faktoren zu berufen und in einen deterministischen Fatalismus zu ergeben.

Die neuen Erkenntnisgewinne sind aber nicht nur für abstrakte Wissenschaftsfelder von Interesse, sondern vermögen - trotz der zum Teil sperrigen Ausdrucksweisen und eventueller Berührungsängste mit ungewohnten philosophischen Grundannahmen - einen wichtigen Einblick für die Praxis in Politik und Schulen zu leisten. Ein kritisches Arbeiten, welches auch eigene Annahmen und Positionen ständig hinterfragt, leistet daher einen wichtigen Beitrag für eine differenzierte Sichtweise und verlangt mehr Toleranz sowohl im politischen als auch im alltäglichen Umgang. Der geschärfte Blick für Differenzen, Abgrenzungen und ihre konstitutive Wirkung ist es denn auch, der die dargestellten alternativen Perspektiven der Geopolitik so zeitgemäß erscheinen lässt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für Kommentare und Anregungen danke ich Kristina Pezzei und Jörg Mose.

  2. Vgl. John Agnew/Stuart Corbridge, Mastering Space: Hegemony, Territory and International Political Economy, London 1994, S. 14ff.

  3. Vgl. John Agnew, Geopolitics: Re-Visioning World Politics, London 1998, S. 86 - 124.

  4. Vgl. Friedrich Ratzel, Anthropogeograpie, Stuttgart 1899(2), ders., Politische Geographie, München 1897.

  5. Vgl. Brian W. Blouet, Geopolitics and Globalization in the Twentieth Century, London 2001, S. 29.

  6. Vgl. Klaus Kost, Die Einflüsse der Geopolitik auf Forschung und Theorie der Politischen Geographie von ihren Anfängen bis 1945, Bonn 1988, S. 22ff., 47ff.

  7. Vgl. Gerhard Sandner, Deterministische Wurzeln und funktionaler Einsatz des "Geo" in Geopolitik, in: WeltTrends, 2 (1994) 4, S. 11.

  8. In Frankreich waren dies u.a. Paul Vidal de la Blache, in kritischer Abgrenzung Émile Durkheim und Lucien Febvre. Vgl. dazu auch die Einführungen und Grundlagentexte in: Jörg Dünne/Stephan Günzel, Raumtheorie, Frankfurt/M. 2006.

  9. Vgl. Brian W. Blouet, Global Geostrategy: Mackinder and the Defence of the West, New York 2005.

  10. Vgl. Geraóid Ó Tuathail, Critical Geopolitics: The Politics of Writing Space, Minneapolis 1996, S. 25.

  11. Vgl. Michel Korinman, Quand l'Allemagne pensait le monde, Paris 1990.

  12. Vgl. Hans Grimm, Volk ohne Raum, München 1926.

  13. Vgl. dazu bspw. Bruno Hipler, Hitlers Lehrmeister: Karl Haushofer als Vater der NS-Ideologie, St. Ottilien 1996; Frank Ebeling, Geopolitik. Karl Haushofer und seine Raumwissenschaft, Berlin 1994; Hans Adolf Jacobsen, Karl Haushofer. Leben und Werk, Boppard am Rhein 1979.

  14. Vgl. Mathias Albert/Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer, Kritische Geopolitik, in: Siegfried Schieder/Manuela Spindler, Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2003, S. 514.

  15. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde in Deutschland der Begriff der Geopolitik wieder verstärkt geführt. Vgl. dazu u.a. Heinz Brill, Geopolitik heute. Deutschlands Chance?, Frankfurt/M. 1994; ders., Geopolitische Analysen. Beiträge zur deutschen und internationalen Sicherheitspolitik (1974 - 2004), Beissendorf 2005; Felix Buck, Weltordnung im Wandel - Geopolitik 2000. Deutschland in der Welt am Vorabend des 3. Jahrtausend, Frankfurt/M. 1996; Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.

  16. Vgl. Stefan Fröhlich, Amerikanische Geopolitik. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, Landsberg 1998, S. 39 - 54.

  17. Vgl. Dirk Kretzschmar, Region oder Imperium? Zur Semantik von Geopolitik, Raum und Kultur in Russland, in: Rudolf Maresch/Nils Werber, Raum, Wissen, Macht, Frankfurt/M. 2002.

  18. Vgl. Yves Lacoste, Geographie und politisches Handeln. Perspektiven einer neuen Geopolitik, Berlin 1990.

  19. Vgl. Ulrich Ante, Politische Geographie, Braunschweig 1981.

  20. Vgl. Klaus Dodds, Geopolitics and Foreign Policy: Recent Developments in Anglo-American Political Geography and International Relations, in: Progress in Human Geography, 18 (1994) 2, S. 193.

  21. Vgl. Klaus Kost, Begriffe und Macht. Die Funktion der Geopolitik als Ideologie, in: Geographische Zeitschrift, 74 (1986), S. 14 - 33.

  22. Vgl. G. Ó Tuathail (Anm. 10), S. 59.

  23. Vgl. Simon Dalby, Creating the Second Cold War. The Discourse of Politics, New York 1990.

  24. Vgl. Doreen Massey/John Allen/Philip Sarre, HumanGeography Today, Cambridge 1999.

  25. Zum Wandel der geographischen Abgrenzung der EU vgl. Hans-Dietrich Schultz, Die Türkei: (k)ein Teil des geographischen Europas?, in: Claus Leggewie, Die Türkei und Europa: Die Positionen, Frankfurt/M. 2004.

  26. Julia Lossau, Die Politik der Verortung: Eine postkoloniale Reise zu einer Anderen Geographie der Welt, Heidelberg 2001, S. 62.

  27. Geraóid Ó Tuathail/John Agnew, Geopolitics and Discourse: Practical Reasoning in American Foreign Policy, in: Geraóid Ó Tuathail/Simon Dalby/Paul Routledge, The Geopolitics Reader, London 1998, S. 81.

  28. J. Vgl. Lossau (Anm. 26), S. 63.

  29. Vgl. M. Albert/P. Reuber/G. Wolkersdorfer (Anm. 14), S. 515.

  30. Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, 72 (1993) 3.

  31. Vgl. ders., The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.

  32. Georg Stöber/Hermann Kreutzmann, Zum Gebrauchswert von Kulturräumen, in: Geopolitik: Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte, Kritische Geopolitik 14, Wien 2001, S. 216.

  33. Vgl. Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer, Politische Geographie: Handlungsorientierte Ansätze und Critical Geopolitics, Heidelberg 2001, S. 25ff.

  34. Ebd., S. 24.

  35. J. Lossau (Anm. 26), S. 12.

  36. Vgl. Albert Kolb, Die Geographie und die Kulturerdteile, in: Adolf Leidelmair (Hrsg.), Herrmann von Wissmann Festschrift, Tübingen 1962, S. 42 - 49.

  37. Vgl. Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer, Clash of Civilizations aus Sicht der Kritischen Geopolitik, in: Geographische Rundschau, 54 (2002) 7/8, S. 24 - 28.

  38. Vgl. G. Ó Tuathail (Anm. 10), S. 240 - 249.

  39. "Schurkenstaaten" oder die "Achse des Bösen" sind weitere Beispiele.

  40. M. Albert/P. Reuber/G. Wolkersdorfer (Anm. 14), S. 524.

  41. Vgl. Geoffrey Parker, Geopolitics: Past, Present and Future, London 1998.

  42. Zu den neuen Forschungsfeldern ausführlicher: P.Reuber/G. Wolkersdorfer (Anm. 33), S. 3 - 16.

Dipl.-Geogr., M.A., geb. 1976; Promovent im Graduiertenkolleg "Weltbegriffe und globale Strukturmuster" an der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Postfach 100131, 33501 Bielefeld. E-Mail: E-Mail Link: jan.helmig@uni-bielefeld.de