Einleitung
Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der These auseinander, dass der Wandel von Staatlichkeit in der Moderne nur angemessen beschrieben werden kann, wenn gleichzeitig die Bedeutungsverschiebungen des Politischen in den Blick genommen werden. Dahinter steht die Annahme, dass Staat und Politik keineswegs - wie im Alltag oft unterstellt - gleichbedeutend sind.
Historisch gesehen rücken die Begriffe "Staat" und "Politik" erst seit der Frühen Neuzeit in ein Verhältnis der gegenseitigen Bedeutungsbedingung, und erst im 19.Jahrhundert setzt sich auf breiter Front die Auffassung durch, man habe unter Politik im Wesentlichen das Handeln beziehungsweise Tätigkeitsfeld souveräner Staaten und ihrer Regierungen zu verstehen.
Betrachtet man nur die normative Ebene, scheint das Übergewicht der Staaten ungebrochen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Staat überall. Spätestens seit den Dekolonisierungswellen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die gesamte Landmasse der Erde - mit Ausnahme der Antarktis - in souveräne Territorialstaaten unterteilt. Die globale Durchsetzung des Systems einer dem Anspruch nach exklusiven und effektiven Gebietsherrschaft verwundert insofern nicht, als es als im Völkerrecht normativ geformter Ausdruck der weltweiten Akzeptanz westlicher Rationalitätsstandards gelten kann. Die Kehrseite der globalen Durchstaatlichung ist jedoch die hochgradige Unterschiedlichkeit der konkreten Ausgestaltung von Staatlichkeit. Hinter der Fassade der im Völkerrecht normierten - und für das Völkerrecht konstitutiven - souveränen Gleichheit aller Staaten finden sich konsolidierte Wohlfahrtsstaaten unterschiedlicher Färbung
Untersucht man den Wandel von Staatlichkeit, bieten sich jenseits der Betrachtung des institutionellen Wandels vor allem zwei Beobachtungsperspektiven an, anhand derer sich das fortwährende Spiel der Be- und Entgrenzungen von Staatlichkeit im Kontext von Globalisierungsprozessen fokussieren lässt. Die erste dieser Beobachtungsperspektiven wird durch das Verhältnis der Praxis von Staatlichkeit zum Idealbild des souveränen Territorial- und später Nationalstaates bestimmt. Die zweite Perspektive richtet sich traditionellerweise auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft beziehungsweise zwischen öffentlichen und privaten Akteuren.
Vor allem hinsichtlich des zweiten Aspekts drängt sich die Frage auf, inwieweit der Staat und der Raum des Politischen als gleichförmig gedacht werden können. Hier kann es nun nicht darum gehen, diese Grundfrage politischer Theorie und die unterschiedlichen Antworten darauf einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Vielmehr sollen Möglichkeiten erörtert werden, wie die in der Geschichte zu beobachtenden Grenzverschiebungen des Politischen als Sonde dienen können, um den Wandel von Staatlichkeit differenziert beschreiben zu können.
Wir gehen dabei in zwei Schritten vor. Zunächst wird ausgehend von einer historisch-semantischen Reflexion ein Begriff des Politischen entwickelt, der abstrakt genug ist, um Politisierungs- wie Depolitisierungstendenzen in der Geschichte unabhängig von epochen- und kulturspezifischen Formen der Herrschaftsausübung zu betrachten.
Historische Semantik des Politischen
Ein Rückblick in die Geschichte des Politikvokabulars seit der Frühen Neuzeit offenbart eine große Bandbreite möglicher Verwendungsweisen. Der Wortgebrauch und damit die Bedeutungen von "Politik" variierten je nach Land, Sprache, Sprecher und Situation.
Der Politikbegriff ist mit der mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption in die europäischen Sprachen eingeführt worden und hat sich seitdem semantisch angereichert. Die meisten der im Laufe der Jahrhunderte hinzugekommenen Sinngehalte sind bis heute abrufbar geblieben. Nur wenige vormoderne Bedeutungen von "Politik" und "politisch" gerieten im 19. oder 20. Jahrhundert in Vergessenheit, so die im Kontext der höfischen Gesellschaft geläufige Verwendung, nach der "politisch" sein hieß, dass man im geselligen Verkehr geschickt bis zur Skrupellosigkeit seinen Vorteil zu wahren verstand. Nicht mehr selbstverständlich präsent ist heute auch der ältere, auf Aristoteles zurückgehende Begriff von "Politik" als einer Disziplin oder Kunstlehre neben Ethik und Ökonomie. Stärker noch als die "Ökonomie", die weiterhin sowohl die Lehre von der Wirtschaft als auch das Wirtschaftsleben selbst meinen kann, hat sich "Politik" gewissermaßen verdinglicht und verweist heute einerseits auf das Handeln politischer Akteure (wer immer sie seien), andererseits auf die Sphäre, in der sich ihr Handeln vollzieht: Man "macht" Politik oder man agiert "in" der Politik. Der ältere Disziplinbegriff von "Politik" ist weit gehend vergessen.
Dauerhaft präsent geblieben ist hingegen die aristotelische Grundvorstellung, dass "Politik" es mit dem Wohlergehen des "großen Ganzen", mit der guten Ordnung des Gemeinwesens zu tun habe, wie immer es im Einzelfall ausgestaltet sein mochte. Der Politikbegriff in dieser, auf das "große Ganze" gerichteten Bedeutung mag im Denken der Antike untrennbar mit der Form der polis verknüpft gewesen sein,
Dass Regeln des Zusammenlebens auch gewaltsam oder durch Intrigen und Hinterlist, notfalls mit Krieg und Terror durchgesetzt werden konnten, lag ursprünglich jenseits des aus der Antike überlieferten Politikbegriffs, gehört jedoch in Europa seit dem 16. Jahrhundert zu seinem festen Bedeutungsinventar. Es ist vielleicht die wichtigste semantische Anreicherung, die er in der Geschichte erfahren hat. Sie wurde zuerst, etwas zu Unrecht, mit dem Namen Machiavelli in Verbindung gebracht,
Häufig negativ konnotiert ist im öffentlichen Sprachgebrauch auch derjenige Aspekt von Politik, der in der Politikwissenschaft als "politics"-Dimension bezeichnet und im Deutschen seit dem späten 19. Jahrhundert als kleingeistige Partei-, Interessen- und Berufspolitik diffamiert, seltener (wie bei Max Weber) als notwendiges Übel analysiert wird.
Das Politische jenseits des Staates
Was folgt aus der vorstehenden historisch-semantischen Skizze zum Politikvokabular? Es ist für historiographische und gegenwartsanalytische Zwecke wenig gewinnbringend, den Politikbegriff in der Weise essenzialistisch zu fassen, dass man ihn an bestimmte, historisch kontingente Formen der Organisation von Gemeinwesen (etwa souveräne Staaten) oder an bestimmte Akteurskonstellationen (Herrscher, Regierungen, Parlamente) bindet, wie es in der Politikgeschichtsschreibung und Politikwissenschaft lange üblich war. Man verstellt sich dadurch die Möglichkeit, die ganze Vielfalt vergangener, gegenwärtiger und zukünftig möglicher Erscheinungsformen in den Blick zu nehmen, in denen Menschen ihre das "große Ganze" betreffenden Angelegenheiten geregelt haben oder regeln könnten. Wird der Politikbegriff zu eng an den Staat oder die Vorstellung eines Machtzentrums angelehnt, von dem aus effektive Gebietshoheit durchgesetzt wird, würden mittelalterliche Herrschaftsverbände ebenso als "politiklos" gelten müssen wie die gegenwärtig sich entwickelnden Formen von "global governance".
Selbst die weit gefasste, in der neuen Politikgeschichte beliebte und an Niklas Luhman angelehnte Definition, nach der es Politik mit der Herbeiführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen zu tun habe,
Kommunikation hingegen ist eine unabdingbare Voraussetzung, wenn man von Politik reden will. Ohne Kommunikation, sei sie sprachlich, symbolisch oder auch handgreiflich-gewaltsam, ist keine Regelung der allgemeinen Angelegenheiten denkbar. Aber nicht jede Kommunikation ist deshalb politisch. Politisch sind Kommunikationsakte dann, wenn sie sich auf Belange eines "großen Ganzen" beziehen, das heißt auf Breitenwirksamkeit, Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit zielen oder in diesem Sinne gedeutet werden. Wie groß die Gemeinschaft ist, in der so kommuniziert wird, wie lange die Regeln, über die verhandelt wird, am Ende halten, und ob die Regeln von allen als verbindlich angesehen werden, ist demgegenüber sekundär. Mit dieser Definition lassen sich Politisierungs- und Depolitisierungsprozesse in der Geschichte verfolgen, ohne dass bestimmte Institutionen, Akteure oder Handlungsmodi explizit oder implizit vorausgesetzt werden. Der Begriff ist abstrakt genug, um epochen- und kulturübergreifende Politikforschung zu ermöglichen, besitzt aber genügend Trennschärfe, um Phänomene auszuschließen, die den Anforderungen an "politische" Kommunikation nicht genügen.
Global Governance und Globale Politisierung
Der hier vorgeschlagene Begriff des Politischen zeichnet sich dadurch aus, dass er das Politische nicht notwendig an bestimmte - und das heißt in der Moderne vor allem: staatliche - Institutionen bindet. Es handelt sich in diesem Sinne um einen "weiten" Politikbegriff, der aber doch hinreichend genug spezifiziert ist, um nicht dem Trugschluss zu erliegen, "alles" sei politisch.
Dass das Politische und der Staat gemäß des hier verwendeten Verständnisses nicht als deckungsgleich angesehen werden, heißt selbstverständlich nicht, dass die Entwicklung moderner Staatlichkeit und die ständige Aus- und Neugestaltung des Politischen und seiner Grenzen nicht aufs Engste miteinander verknüpft wären. Die Entkopplung von Politisierungsprozessen auf der einen und der Entwicklung staatlicher Institutionen auf deranderen Seite erlaubt es jedoch, sich insbesondere der Frage der Herausbildung von Organisationsformen von Staatlichkeit jenseits des Nationalstaates zu nähern, ohne diese Perspektive von vornherein durch die Brille eines "methodologischen Nationalismus" (Ulrich Beck) zu betrachten. Auf diese Weise können unter der Rubrik des Wandels von Staatlichkeit nicht nur die Transformationsprozesse im (westlichen) "demokratischen Rechts- und Interventionsstaat"
Mit einer solchen Perspektive wird begrifflich darauf reagiert, dass den vielfältigen Diagnosen eines "Regierens" jenseits des Nationalstaates beziehungsweise der sich konsolidierenden Formen politischer Steuerung auf globaler Ebene ("global governance") der Staat "abhanden" gekommen ist. Demgegenüber ermöglicht ein Begriff des Politischen, der wie erläutert auf die Breitenwirksamkeit, Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit politischer Kommunikation abzielt, ein weiterführendes Verständnis, demzufolge das Regieren jenseits des Nationalstaats beziehungsweise die Strukturen der global governance als genuine Politisierungsprozesse mit einer nachholenden Institutionenbildung zu begreifen sind. Diese bilden auf globaler Ebene Formen politischer Kommunikation aus, die auf kollektive Verbindlichkeit angelegt sind, und übernehmen außerdem wenigstens rudimentäre Funktionen bei der Gewährleistung von Sicherheit, Wohlfahrt und Legitimität (Rechtsstaatlichkeit). Der hier vorgeschlagene "weite" Politikbegriff erlaubt es, aufbauend auf diesen Bausteinen globaler Politik in den Elementen der Herausbildung von Weltöffentlichkeit und einer Weltsemantik - also gleichsam einer Sprache zur "Selbstbeobachtung" der Welt als Welt - Indizien für das Entstehen einer Form von globaler Staatlichkeit jenseits des Nationalstaates zu sehen. Genau diese im Gegensatz zu Institutionalisierungsprozessen qualitativ andersartigen Elemente globaler politischer Strukturbildung werden jedoch in der mittlerweile kaum noch zu überschauenden Literatur zur "global governance" kaum erwähnt, welche vor allem auf die Entstehung globaler politischer Regime nebst ihrer Verrechtlichung sowie die (zivil-)gesellschaftliche Begleitung dieses Prozesses durch nichtstaatliche Akteure abhebt.
Gerade in der Flankierung eines zivilgesellschaftlich unterstützten, zunehmend verrechtlichten globalen Institutionalisierungsprozesses durch die Herausbildung von Weltsemantik und -öffentlichkeit entwickelt sich ein globaler Raum des Politischen, der die Bedingung der Möglichkeit für eine nachhaltige globale politische Strukturbildung und ihre Konsolidierung als besondere Form von Staatlichkeit abgibt. Es versteht sich dabei von selbst, dass einer solchen Diagnose nur unter der Maßgabe Folge geleistet werden kann, wenn man sich von der Vorstellung einer "anarchischen", in ihrer Anarchie immer nur zu bändigenden, nie aber zu überwindenden Staatenwelt als Grundmuster der internationalen Beziehungen zu verabschieden bereit ist, die weiterhin einen beharrlichen Hintergrundton in einem Großteil der Literatur zu global governance abgibt.
Weltöffentlichkeit und Weltsemantik
Eine Weltöffentlichkeit bereitet den Boden für die Breitenwirksamkeit politischer Kommunikation. Es wäre jedoch falsch, als Voraussetzung einer solchen Weltöffentlichkeit eine mehr oder weniger integrierte Medienlandschaft zu erwarten, an der alle "Welt"-Bürger in gleichem Maße teilhaben. Eine Öffentlichkeit tritt dem politischen System nicht als etwas Äußeres gegenüber und drückt nicht etwa die aggregierte Meinung eines Demos aus.
So verstanden kann die Entstehung einer Weltöffentlichkeit schon in ihrer Inszenierung etwa in den Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, spätestens aber in dem Moment angesiedelt werden, in welchem mit der Gründung des Völkerbundes politische Herrschaft zumindest symbolisch auf eine globale Ebene übertragen wurde.
Komplementär zur Weltöffentlichkeit entwickelt sich eine Weltsemantik, welche gleichsam die sprachlich-diskursive "Hintergrundfolie" darstellt, die es erlaubt, die Einheit eines globalen politischen Systems in diesem System selbst zu thematisieren. Obwohl sich hinsichtlich dieser Semantik durchaus auch Rückschritte beobachten lassen (so etwa in der Bevorzugung des Begriffes der "internationalen Politik" gegenüber dem der "Weltpolitik"), konsolidiert sie sich doch über einen normativ dicht besetzten Gebrauch des Begriffs der "internationalen Gemeinschaft". Im Völkerrecht dient dieser Begriff der Selbstvergewisserung der Tatsache, dass es sich beim internationalen Staatensystem nicht um ein rechts- und regelloses anarchisches System handelt. Zudem geht es um einen Begriff, mit dem das globale politische System sich als bestimmten normativen Standards genügend beobachtet.
Dies kommt insbesondere in der Frage nach der Zugehörigkeit zur internationalen Gemeinschaft zum Ausdruck: Während die Frage nach (Kriterien) der Zugehörigkeit zur internationalen Gemeinschaft wenigstens implizit ein wesentliches Motiv in der umfangreichen Forschung zur Problematik der so genannten "failed states" oder "rogue states" darstellt, wird erst in jüngerer Zeit explizit die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen Staaten aus der internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen werden beziehungsweise ausgeschlossen werden sollten.
Globale Staatlichkeit
Zusammen schaffen eine sich bildende Weltöffentlichkeit und Weltsemantik den Horizont, innerhalb dessen sich die vielfach beobachteten (und in den anderen Beiträgen dieses Hefts in unterschiedlichen Facetten beleuchteten) Prozesse globaler politischer Strukturbildung und ihrer rechtlichen Ausgestaltung - auch und gerade unter Einbezug nichtstaatlicher Akteure - in Richtung auf die Entwicklung einer Form "globaler Staatlichkeit" entwickeln können. Es soll an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob die Rede von einer "globalen Staatlichkeit" der von einer "Weltstaatlichkeit" vorzuziehen ist oder nicht, da insbesondere der zweitgenannte Begriff eng mit der traditionellen Weltstaats-Diskussion der politischen Philosophie zusammenhängt, die den Weltstaat noch in Analogie zum Nationalstaat konzipierte.
Man könnte die Herausbildung einer Form von Globalstaatlichkeit als eine akademische Fingerübung abtun. Aber gerade hier hilft ein Rückgriff auf den durch den Rekurs auf das Politische als Kommunikationsraum gewonnenen Blick auf die historische Dynamik von Politisierungsprozessen. Hier zeigt sich, dass Politisierungsprozesse, verstanden als das Ausgreifen des Politischen auf verschiedene (welt-)gesellschaftliche Bereiche, kaum oder überhaupt nicht zurückzunehmen sind. Genau in diesem Sinne kann auch die Herausbildung einer globalen Form von Staatlichkeit als ein robuster Prozess angesehen werden. "Robust" heißt in diesem Zusammenhang, dass es keine empirisch feststellbare Trendumkehr gibt. Rückschläge und Stillstände im Prozess der internationalen Institutionalisierung, ihrer rechtlichen Flankierung, der Beteiligung nichtstaatlicher Akteure, der Herausbildung einer Weltöffentlichkeit und Weltsemantik mögen vielerorts zu beobachten sein. Es gibt jedoch bislang keine Hinweise auf ihre langfristige Konsolidierung.
Ein Weltstaat ist nicht "unausweichlich",