Einleitung
Obwohl Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen für die Erklärung des Verlaufs von Migrations- und Eingliederungsprozessen von einiger Bedeutung sind, werden sie in der Migrationsforschung selten explizit thematisiert. Die Ursachen hierfür sind in den Forschungstraditionen der Migrationssoziologie zu suchen, die einerseits dem individuellen Akteur im Migrationsprozess und andererseits der ethnic community im Aufnahmekontext große Beachtung geschenkt hat.
Die familialen und verwandtschaftlichen Beziehungen, die die Akteure während ihrer Migrations- und Eingliederungsprozesse unterhalten, werden dabei allenfalls beiläufig erwähnt. Zudem wird in Analysen ethnischer Kolonien - zumeist implizit - davon ausgegangen, dass Familien-, Verwandtschafts- und intraethnische Beziehungen weitgehend strukturgleich sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen keine gesonderte Beachtung zu schenken. Im Folgenden soll anhand von Partnerwahlprozessen und Generationenbeziehungen die Bedeutsamkeit der Familie für den Integrationsprozess von Migranten verdeutlicht werden.
Partnerwahl und Eheschließung
Partnerwahl und Eheschließungen gehören neben der intergenerativen Transmission in den Eltern-Kind-Beziehungen zu den "strategischen" Entscheidungen von Migranten bezüglich des Eingliederungsverhaltens im Generationenzusammenhang. Die Modalitäten der Partnerwahl haben entscheidenden Einfluss darauf, in welcher Weise die Beziehungen zur Migrantenminorität und zur Herkunftsgesellschaft aufrechterhalten werden. Grundsätzlich lassen sich hierbei drei Heiratsmärkte voneinander unterscheiden: die Aufnahmegesellschaft, die eigene Migrantenminorität und die jeweilige Herkunftsgesellschaft bzw. darin eine spezifische ethnische, regionale oder verwandtschaftliche Abstammungsgemeinschaft. Je nachdem, auf welchem der drei Heiratsmärkte der Ehepartner gewählt wird, hat dies weit reichende Folgen für den Eingliederungsprozess und weitere Mobilitätsoptionen des oder der Heiratenden, für den Sozialisations- und Akkulturationsprozess der aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder und für die Ausgestaltung der familialen Solidarpotenziale.
Bei binationalen Eheschließungen spielt die Ko-Orientierung der Ehepartner zwangsläufig eine große Rolle, während Heiraten innerhalb der eigenen Migrantenminorität bzw. innerhalb der eigenen Herkunftsgemeinschaft mit größerer Wahrscheinlichkeit eine hohe Integration in die jeweiligen Verwandtschaftssysteme aufweisen. Binationale Ehepaare können damit zwar weniger stark auf außerfamiliäre soziale Ressourcen zurückgreifen und unterliegen weitaus weniger der sozialen Kontrolle durch die Verwandtschaft, haben dafür aber weitaus höhere Anpassungskapazitäten an die Aufnahmegesellschaft. Binationale Ehepaare unterliegen damit weit stärker den Risiken starker innerfamiliärer Konflikte und des Scheiterns der Beziehung, sie schaffen aber gleichzeitig günstige Voraussetzungen für den Verlauf des Eingliederungsprozesses.
Für das Verständnis von Eheschließungen bei Migrantinnen und Migranten ist es notwendig, einerseits zwischen ethnisch endogamen und exogamen Heiraten zu unterscheiden - das heißt ob innerhalb der eigenen ethnisch-kulturellen Gruppe geheiratet wird oder nicht - und andererseits zwischen nationalitätsinternen und -externen Heiraten. Die Unterscheidung ist nötig, weil Staatsangehörigkeit und ethnische Herkunft in der Einwanderungssituation oft nicht miteinander übereinstimmen. Zunehmende Einbürgerungen von in Deutschland lebenden Ausländern werden dazu führen, dass nationale und ethnische Zugehörigkeiten häufiger auseinander fallen. Die Zahl der Ehen, in denen die Partner zwar unterschiedliche Pässe, aber dieselbe ethnisch-kulturelle Herkunft haben, steigt ebenso wie die Zahl derer, die durch Einbürgerung die gleiche Staatsangehörigkeit haben, jedoch einen unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergrund. Es ist zukünftig zu erwarten, dass Angehörige von Zuwanderungsnationalitäten in Europa sich in verschiedene Staaten einbürgern lassen, aber intraethnische, transnationale Netzwerke etablieren, die auch als Heiratsmärkte genutzt werden.
Binationale Partnerwahlen hängen - wie Partnerwahlen generell - von zwei Faktoren ab: erstens von den jeweiligen Gelegenheitsstrukturen, einen Partner zu finden, und zweitens von den individuellen Präferenzen der Partnersuchenden. Die Gelegenheitsstrukturen für intraethnische Partnerwahlen in der Aufnahmegesellschaft hängen ganz erheblich von der Gruppengröße der jeweiligen Ethnie ab, die sich im Zuwanderungsprozess deutlich verändert. Hinzu kommt typischerweise ein erhebliches Ungleichgewicht in den Geschlechterproportionen, das heißt in der Pioniermigrationssituation besteht wegen des Überhangs an Männern eine größere Nachfrage nach Frauen, als der intraethnische Heiratsmarkt in der Aufnahmegesellschaft hergeben kann. Dies führt dazu, dass männliche Migranten verstärkt in die einheimische Bevölkerung einheiraten, während in späteren Wanderungsphasen auch vermehrt Migrantinnen der eigenen ethnischen Gruppe als Heiratspartner zur Verfügung stehen.
Diese Tendenzen sind vielfach als besorgniserregende Tendenz "zunehmender ethnischer Schließung" und wachsender Konfliktträchtigkeit interethnischer Beziehungen missdeutet worden, da diese Entwicklung nicht auf die veränderten Gelegenheitsstrukturen, sondern auf sich verändernde Präferenzen zurückgeführt wurden. Veränderungen in den Präferenzen treten jedoch erst langfristig ein. Von solchen ist dann auszugehen, wenn entweder die ethnische Zugehörigkeit ihre Bedeutsamkeit als Selektionskriterium verloren hat oder eine bewusste Distanzierung von der Herkunftskultur erfolgt. Dies kann im Ergebnis vollzogener Assimilationsprozesse der ersten Migrantengeneration geschehen, oder wenn im Laufe der Zeit eine zunehmende Zahl von Angehörigen der zweiten Migrantengeneration in den Heiratsmarkt eintritt. Diese beiden, sich überlagernden Prozesse führen mittelfristig zu dem für Zuwanderernationalitäten typischen u-förmigen Entwicklungsverlauf bi-nationaler Eheschließungen. Diese U-Kurve ist inzwischen nicht nur für viele andere Zuwanderungsgesellschaften, sondern auch für den Verlauf der Einheiratungsquoten der meisten Nationalitäten von Arbeitsmigranten in Deutschland beobachtet worden.
Neben den Gelegenheitsstrukturen sind auch kulturelle Faktoren bei der Partnerwahl von Bedeutung. Das jeweilige soziale Prestige der ethnischen Gruppen hat hierbei ebenso Auswirkungen auf die interethnische Partnerwahl wie die wahrgenommene kulturelle Nähe bzw. Distanz zur eigenen Kultur. Angehörige verschiedener Nationalitäten heiraten in sehr unterschiedlichem Umfang in die deutsche Bevölkerung ein. Bei deutschen Männern wird die Liste der häufigst gewählten Ausländerin mit großem Abstand von Polinnen angeführt, gefolgt von Frauen aus Thailand, Russland, Rumänien, der Türkei und der Ukraine. Bei deutschen Frauen dominieren hingegen die Männer aus der Türkei, gefolgt von solchen aus Italien, Serbien-Montenegro und den USA.
Entgegen weit verbreiteten Vorstellungen kommt eine binationale Partnerwahl gehäuft vor, wenn zumindest ein Partner Abitur oder Fachhochschulreife hat.
Zweifellos wird Heiratsmigration in ihrer quantitativen Bedeutung in Zukunft noch zunehmen. Dies ist nicht nur auf die sich verschärfenden Ungleichgewichte auf dem internen Partnerschafts- und Heiratsmarkt zurückzuführen, sondern auch auf die anhaltende Nachfrage von Angehörigen der Migrantenminorität der "Zweiten Generation" nach Heiratspartnern aus den Herkunftsgesellschaften ihrer Eltern.
Diese Befunde und Schlussfolgerungen machen deutlich, dass Heiratsmigration ein wichtiger Mechanismus der Selbstergänzung von Migrantenminoritäten in Deutschland ist. Sie trägt somit dazu bei, dass auch bei den etablierten Zuwanderernationalitäten weiterhin mit Migranten der ersten Generation zu rechnen ist. Durch vorhandene soziale Beziehungen treffen sie aber während des Eingliederungsprozesses auf vergleichsweise günstige Bedingungen. Empirische Analysen über die Struktur internationaler Heiratsmärkte fehlen bislang vollständig. So ist es beispielsweise eine völlig offene Frage, ob diese Form von statusorientierter Heiratsmigration vorzugsweise von solchen Migranten praktiziert wird, die über vergleichsweise geringe Ressourcen verfügen und somit "alternativlos" handeln: Der abgesicherte Aufenthaltsstatus wäre dann möglicherweise häufig "das Einzige", was sie auf dem Heiratsmarkt in der Herkunftsgesellschaft einzusetzen in der Lage sind. Ebenso ist jedoch denkbar, dass Heiratsmigration umso wahrscheinlicher ist, je höher die einzusetzenden Ressourcen auf diesem Heiratsmarkt sind: Hierzu würden dann nicht nur ein abgesicherter Aufenthaltsstatus, sondern auch eine gute Ausbildung und damit eine besonders aussichtsreiche materielle Zukunft gehören. Dafür sprechen die Befunde zur positiven Selektion bei den binationalen Ehen.
Intergenerative Beziehungen
In der Migrationssoziologie hat intergenerativer Wandel seit der Konzeptualisierung der "race-relations-cycles" in den dreißiger Jahren stets eine bedeutsame Rolle in der Erforschung von Eingliederungsprozessen gespielt, wenn das Verhalten von Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation miteinander verglichen wurde.
Eltern wie Kinder geben mehrheitlich an, dass sie miteinander überwiegend in der Herkunftssprache kommunizieren. Die Unterschiede zwischen Italienern und Türken bestehen vornehmlich darin, dass eine deutlichere Trennung in der Sprachverwendung mit den Eltern und mit den Geschwistern besteht: Während mit den Eltern noch ganz überwiegend Türkisch gesprochen wird, bevorzugen die Geschwistern - wie bei den Italienern - bereits zur Hälfte überwiegend die deutsche Sprache. Am Arbeitsplatz und in der Schule ist für Italiener und Türken die Verwendung der deutschen Sprache unumgänglich geworden. So verständigen sich in den Pausen von Arbeit und Unterricht schon mehr als 80 Prozent der Jugendlichen und mehr als 95 Prozent der Kinder in deutscher Sprache.
Der überwiegende Teil der Italiener befürwortet eine Heirat von Angehörigen der zweiten Generation mit Deutschen. Im Gegensatz dazu kann sich die Mehrheit der Türken nicht vorstellen, dass eine deutsche Person in ihre Familie einheiratet. Die Unterschiede zwischen den Generationen weisen tendenziell eine größere Zustimmung der Jugendlichen und Kinder auf, aber sie sind eher von geringem Ausmaß.
Generationenbeziehungen sind aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Familien ausländischer Herkunft und für die Funktionsweise familialer Solidarpotenziale unter Migrationsbedingungen. Erstens: Die meisten Familien ausländischer Herkunft stammen aus Gesellschaften ohne ein ausgebautes sozialstaatliches Sicherungssystem. Entsprechend werden alle Sozialleistungen und Absicherungen gegen die Risiken des Lebens zum überwiegenden Teil unmittelbar zwischen den Generationen erbracht. Diese Funktionen der materiellen Absicherung durch Generationenbeziehungen haben weit reichende Auswirkungen auf ihre kulturelle Ausgestaltung, das heißt darauf, was Eltern und Kinder gegenseitig voneinander erwarten und welchen "Wert" sie füreinander haben.
Das Paradoxe an der Migrationssituation ist, dass die Elterngeneration zu gleicher Zeit einer größeren Schwierigkeit und einer größeren Notwendigkeit intergenerativer Transmission von Kultur gegenübersteht. Einerseits haben elterliche Vorbilder im Aufnahmekontext ihren adaptiven Wert eingebüßt, andererseits können sich die Migranteneltern veranlasst sehen, mit noch größeren Anstrengungen ihre Herkunftskultur an die Kinder weiterzugeben, insbesondere wenn eine Unterstützung durch kulturvermittelnde Institutionen (etwa Kindergärten und Schulen) weitgehend fehlt. Es kann deshalb nicht verwundern, wenn in Migrantenfamilien intergenerative Beziehungen besonders hoch motiviert und stärker koordiniert sind als in nichtgewanderten Familien in der Herkunfts- oder in der Aufnahmegesellschaft. So zeigt ein Vergleich von türkischen Migrantenfamilien mit solchen, die in der Herkunftsgesellschaft verblieben sind, dass die intergenerative Transmission in Migrantenfamilien stärker ausgeprägt ist. Die Einstellungen von Eltern und Kindern sind konformer, die Ko-Orientierung höher und die Synchronität stärker als in nichtgewanderten Familien. Kinder ausländischer Familien antizipieren und internalisieren die Erwartungen der Eltern in hohem Maße und zeigen eine hohe Bereitschaft, die von ihnen erwarteten Solidarleistungen zu erbringen. Diese Stärkung der intergenerativen Beziehungen ist eine Folge der Anpassung an die Minoritätensituation. Stabile intergenerative Beziehungen in Migrantenfamilien sind der wichtigste Schutzfaktor gegen eine mögliche Marginalisierung von Jugendlichen der zweiten Generation. Bei aller Synchronität und Koordiniertheit ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen den Generationen hinsichtlich der Stellung im Eingliederungsprozess. Jugendliche der zweiten Zuwanderungsgeneration sind im Vergleich zu ihren Eltern deutlich stärker assimiliert, sie nehmen diskriminierende Handlungen seltener wahr als ihre Eltern, haben eine geringere soziale Distanz zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft, spüren gleichzeitig eine größere Entfremdung zur Herkunftsgesellschaft und haben seltener konkrete Rückwanderungsabsichten.
Generell zeigen die empirischen Befunde einen klaren intergenerativen Trend in Richtung stärkeren kulturellen und sozialen Kontakts bei der zweiten Migrantengeneration. Es gibt jedoch einige Abweichungen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Hierzu gehört einmal die besondere Situation von Aussiedlern, bei denen hohe ethnische Identifikation nicht am Ende des Eingliederungsprozesses steht, sondern an dessen Anfang bzw. die ein zentrales Migrationsmotiv darstellt.
Zusammenfassung und Ausblick
Die empirischen Befunde zu Familienbeziehungen von Migranten in Deutschland haben deren Einfluss auf die Sozialintegration im Eingliederungsprozess verdeutlicht.
1. Die Migrationssituation selbst hat unmittelbare Auswirkungen auf die Generationenbeziehungen. Internationale Migration vollzieht sich typischerweise nicht als individuelle Entscheidung von Monaden, sondern als kollektive Unternehmung von Familienverbänden. Die Herkunftsfamilien stellen hierbei zumeist zu Beginn des Migrationsprozesses erhebliche Ressourcen zur Verfügung, die erste Platzierung in der Aufnahmegesellschaft von Nachwandernden vollzieht sich zumeist unter aktiver Beteiligung von Verwandten, die bereits im Aufnahmekontext leben. Entsprechend sind Kettenwanderungen und familiär-verwandtschaftliche transnationale Netzwerke eine effiziente Form der erfolgreichen Bewältigung des Eingliederungsprozesses. Migration führt deshalb im Regelfall eher zu einer Intensivierung der Generationenbeziehungen und - trotz der erheblichen Belastungen des unterschiedlich verlaufenden Akkulturationsprozesses - nicht zu besonders ausgeprägten Generationenkonflikten. Von besonderer Bedeutung sind diese Generationenbeziehungen bei einem ungesicherten Aufenthaltsstatus. Eine gewünschte oder erzwungene Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft bedeutet zugleich, wieder auf soziale Sicherungssysteme zurückgreifen zu müssen, die nicht auf Versicherungsleistungen, sondern auf Generationenbeziehungen basieren.
2. Die Heiratsmigration wird in ihrer quantitativen Bedeutung in Zukunft zunehmen. Dies gilt insbesondere, solange eine restriktive Zuwanderungspolitik keine anderen Zuwanderungsmöglichkeiten zulässt und entsprechend insbesondere für solche Personengruppen, deren Herkunftsländer von restriktiven Zuwanderungsregelungen betroffen sind. Heiratsmigration ist ein wichtiger Mechanismus der Selbstergänzung von Migrantenminoritäten in Deutschland. Sie trägt dazu bei, dass auch bei den etablierten Zuwanderernationalitäten weiterhin mit Migranten der ersten Generation zu rechnen ist, die jedoch durch vorhandene soziale Beziehungen günstige Voraussetzungen zur Eingliederung haben.
Entsprechend unterstreichen die empirischen Befunde zu den Familienbeziehungen von Migranten die Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die im Zusammenhang mit dem 6. Familienbericht der Bundesrepublik Deutschland zur Situation "Familien ausländischer Herkunft in Deutschland" formuliert worden sind: