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Integration und Familie | Integration | bpb.de

Integration Editorial Integration - gesellschaftliches Risiko und politisches Symbol - Essay Integration und Sprache Integration und Arbeit Integration und Familie Integration und interkulturelle Konzepte in Kommunen Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik

Integration und Familie

Bernhard Nauck

/ 15 Minuten zu lesen

Stabile Generationenbeziehungen sind oft die wichtigste Ressource im Eingliederungsprozess. Sie bieten Schutz gegen die drohende Marginalisierung von Jugendlichen der zweiten Generation.

Einleitung

Obwohl Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen für die Erklärung des Verlaufs von Migrations- und Eingliederungsprozessen von einiger Bedeutung sind, werden sie in der Migrationsforschung selten explizit thematisiert. Die Ursachen hierfür sind in den Forschungstraditionen der Migrationssoziologie zu suchen, die einerseits dem individuellen Akteur im Migrationsprozess und andererseits der ethnic community im Aufnahmekontext große Beachtung geschenkt hat.

Die familialen und verwandtschaftlichen Beziehungen, die die Akteure während ihrer Migrations- und Eingliederungsprozesse unterhalten, werden dabei allenfalls beiläufig erwähnt. Zudem wird in Analysen ethnischer Kolonien - zumeist implizit - davon ausgegangen, dass Familien-, Verwandtschafts- und intraethnische Beziehungen weitgehend strukturgleich sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen keine gesonderte Beachtung zu schenken. Im Folgenden soll anhand von Partnerwahlprozessen und Generationenbeziehungen die Bedeutsamkeit der Familie für den Integrationsprozess von Migranten verdeutlicht werden.

Partnerwahl und Eheschließung

Partnerwahl und Eheschließungen gehören neben der intergenerativen Transmission in den Eltern-Kind-Beziehungen zu den "strategischen" Entscheidungen von Migranten bezüglich des Eingliederungsverhaltens im Generationenzusammenhang. Die Modalitäten der Partnerwahl haben entscheidenden Einfluss darauf, in welcher Weise die Beziehungen zur Migrantenminorität und zur Herkunftsgesellschaft aufrechterhalten werden. Grundsätzlich lassen sich hierbei drei Heiratsmärkte voneinander unterscheiden: die Aufnahmegesellschaft, die eigene Migrantenminorität und die jeweilige Herkunftsgesellschaft bzw. darin eine spezifische ethnische, regionale oder verwandtschaftliche Abstammungsgemeinschaft. Je nachdem, auf welchem der drei Heiratsmärkte der Ehepartner gewählt wird, hat dies weit reichende Folgen für den Eingliederungsprozess und weitere Mobilitätsoptionen des oder der Heiratenden, für den Sozialisations- und Akkulturationsprozess der aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder und für die Ausgestaltung der familialen Solidarpotenziale.

Bei binationalen Eheschließungen spielt die Ko-Orientierung der Ehepartner zwangsläufig eine große Rolle, während Heiraten innerhalb der eigenen Migrantenminorität bzw. innerhalb der eigenen Herkunftsgemeinschaft mit größerer Wahrscheinlichkeit eine hohe Integration in die jeweiligen Verwandtschaftssysteme aufweisen. Binationale Ehepaare können damit zwar weniger stark auf außerfamiliäre soziale Ressourcen zurückgreifen und unterliegen weitaus weniger der sozialen Kontrolle durch die Verwandtschaft, haben dafür aber weitaus höhere Anpassungskapazitäten an die Aufnahmegesellschaft. Binationale Ehepaare unterliegen damit weit stärker den Risiken starker innerfamiliärer Konflikte und des Scheiterns der Beziehung, sie schaffen aber gleichzeitig günstige Voraussetzungen für den Verlauf des Eingliederungsprozesses. Intraethnische Heiraten sind dagegen - nicht zuletzt wegen der höheren sozialen Kontrolle - weitaus sicherer; die Ehepaare haben jedoch das Problem, den Eingliederungsprozess der Familienmitglieder mit dem Verwandtschaftssystem koordinieren und ihn vor ihm legitimieren zu müssen. Dies wird vielfach zur Folge haben, dass sich der Eingliederungsprozess verlangsamt.

Für das Verständnis von Eheschließungen bei Migrantinnen und Migranten ist es notwendig, einerseits zwischen ethnisch endogamen und exogamen Heiraten zu unterscheiden - das heißt ob innerhalb der eigenen ethnisch-kulturellen Gruppe geheiratet wird oder nicht - und andererseits zwischen nationalitätsinternen und -externen Heiraten. Die Unterscheidung ist nötig, weil Staatsangehörigkeit und ethnische Herkunft in der Einwanderungssituation oft nicht miteinander übereinstimmen. Zunehmende Einbürgerungen von in Deutschland lebenden Ausländern werden dazu führen, dass nationale und ethnische Zugehörigkeiten häufiger auseinander fallen. Die Zahl der Ehen, in denen die Partner zwar unterschiedliche Pässe, aber dieselbe ethnisch-kulturelle Herkunft haben, steigt ebenso wie die Zahl derer, die durch Einbürgerung die gleiche Staatsangehörigkeit haben, jedoch einen unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Hintergrund. Es ist zukünftig zu erwarten, dass Angehörige von Zuwanderungsnationalitäten in Europa sich in verschiedene Staaten einbürgern lassen, aber intraethnische, transnationale Netzwerke etablieren, die auch als Heiratsmärkte genutzt werden.

Binationale Partnerwahlen hängen - wie Partnerwahlen generell - von zwei Faktoren ab: erstens von den jeweiligen Gelegenheitsstrukturen, einen Partner zu finden, und zweitens von den individuellen Präferenzen der Partnersuchenden. Die Gelegenheitsstrukturen für intraethnische Partnerwahlen in der Aufnahmegesellschaft hängen ganz erheblich von der Gruppengröße der jeweiligen Ethnie ab, die sich im Zuwanderungsprozess deutlich verändert. Hinzu kommt typischerweise ein erhebliches Ungleichgewicht in den Geschlechterproportionen, das heißt in der Pioniermigrationssituation besteht wegen des Überhangs an Männern eine größere Nachfrage nach Frauen, als der intraethnische Heiratsmarkt in der Aufnahmegesellschaft hergeben kann. Dies führt dazu, dass männliche Migranten verstärkt in die einheimische Bevölkerung einheiraten, während in späteren Wanderungsphasen auch vermehrt Migrantinnen der eigenen ethnischen Gruppe als Heiratspartner zur Verfügung stehen.

Diese Tendenzen sind vielfach als besorgniserregende Tendenz "zunehmender ethnischer Schließung" und wachsender Konfliktträchtigkeit interethnischer Beziehungen missdeutet worden, da diese Entwicklung nicht auf die veränderten Gelegenheitsstrukturen, sondern auf sich verändernde Präferenzen zurückgeführt wurden. Veränderungen in den Präferenzen treten jedoch erst langfristig ein. Von solchen ist dann auszugehen, wenn entweder die ethnische Zugehörigkeit ihre Bedeutsamkeit als Selektionskriterium verloren hat oder eine bewusste Distanzierung von der Herkunftskultur erfolgt. Dies kann im Ergebnis vollzogener Assimilationsprozesse der ersten Migrantengeneration geschehen, oder wenn im Laufe der Zeit eine zunehmende Zahl von Angehörigen der zweiten Migrantengeneration in den Heiratsmarkt eintritt. Diese beiden, sich überlagernden Prozesse führen mittelfristig zu dem für Zuwanderernationalitäten typischen u-förmigen Entwicklungsverlauf bi-nationaler Eheschließungen. Diese U-Kurve ist inzwischen nicht nur für viele andere Zuwanderungsgesellschaften, sondern auch für den Verlauf der Einheiratungsquoten der meisten Nationalitäten von Arbeitsmigranten in Deutschland beobachtet worden.

Neben den Gelegenheitsstrukturen sind auch kulturelle Faktoren bei der Partnerwahl von Bedeutung. Das jeweilige soziale Prestige der ethnischen Gruppen hat hierbei ebenso Auswirkungen auf die interethnische Partnerwahl wie die wahrgenommene kulturelle Nähe bzw. Distanz zur eigenen Kultur. Angehörige verschiedener Nationalitäten heiraten in sehr unterschiedlichem Umfang in die deutsche Bevölkerung ein. Bei deutschen Männern wird die Liste der häufigst gewählten Ausländerin mit großem Abstand von Polinnen angeführt, gefolgt von Frauen aus Thailand, Russland, Rumänien, der Türkei und der Ukraine. Bei deutschen Frauen dominieren hingegen die Männer aus der Türkei, gefolgt von solchen aus Italien, Serbien-Montenegro und den USA. Allerdings geben solche Statistiken keine Auskunft darüber, in welchem Umfang es sich bei den Heiraten mit Partnerinnen oder Partnern aus Osteuropa um "?Kettenmigration" handelt, die von eingebürgerten Aussiedlern ausgelöst worden ist, die jemanden aus ihrer Herkunftsregion geheiratet haben. Ebenso bleibt verborgen, in welchem Ausmaß es sich bei den deutschen Ehepartnern um Eingebürgerte handelt, die ein Mitglied ihrer Herkunftsgesellschaft heiraten.

Entgegen weit verbreiteten Vorstellungen kommt eine binationale Partnerwahl gehäuft vor, wenn zumindest ein Partner Abitur oder Fachhochschulreife hat. Binationale Partnerwahl scheint somit bei Deutschen wie bei Ausländern an den Bildungsstand gekoppelt zu sein. Analysen auf der Basis des Mikrozensus zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit von ausländischen Männern, eine deutsche Frau zu heiraten, ganz erheblich mit ihrem Bildungsgrad ansteigt: Italienische Männer mit einem Hauptschulabschluss heiraten bereits mit einer um 57 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit eine deutsche Frau als Italiener ohne Schulabschluss; bei Italienern mit mittlerer Reife steigt diese Wahrscheinlichkeit auf 79, fällt dann bei den Abiturienten allerdings wieder auf 11 Prozent. Bei türkischen Männern ist diese Tendenz noch ausgeprägter: Männer mit Hauptschulabschluss heiraten mit 42 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit eine deutsche Frau als solche ohne Schulabschluss; bei Männern mit mittlerer Reife und Abitur erhöht sich diese Wahrscheinlichkeit auf 193 bzw. 184 Prozent. Binationale Ehen erbringen damit einen Beitrag zum Import von Humankapital, da die ausländischen Ehepartner über einen gleich hohen oder höheren Bildungsgrad verfügen.

Zweifellos wird Heiratsmigration in ihrer quantitativen Bedeutung in Zukunft noch zunehmen. Dies ist nicht nur auf die sich verschärfenden Ungleichgewichte auf dem internen Partnerschafts- und Heiratsmarkt zurückzuführen, sondern auch auf die anhaltende Nachfrage von Angehörigen der Migrantenminorität der "Zweiten Generation" nach Heiratspartnern aus den Herkunftsgesellschaften ihrer Eltern. Wegen der Assimilation der zweiten Generation an die kulturellen Standards der Aufnahmegesellschaft nehmen diese Beziehungen zunehmend den Charakter bi-kultureller Partnerschaften und Ehen an. Solche Anreize für transnationale Partnersuche in Migrantenminoritäten sind dann sehr hoch, wenn eine restriktive Zuwanderungspolitik keine anderen Zuwanderungsmöglichkeiten zulässt und gilt entsprechend insbesondere für solche Personengruppen, deren Herkunftsländer von restriktiven Zuwanderungsmöglichkeiten betroffen sind. Nach den Ergebnissen des Mikrozensus 1989 bis 2000 sind 29,9 Prozent der Ehefrauen türkischer Migranten der ersten und 25,8 Prozent der Ehefrauen von Angehörigen der zweiten Zuwanderergeneration erst nach der Heirat zugewandert. Demgegenüber liegen die entsprechenden Anteile bei den italienischen Migranten bei 8,2 bzw. 2,4 Prozent. Auch bei den Heiraten der in Deutschland lebenden Migrantinnen sind die Befunde ähnlich: 11,5 Prozent der Ehemänner türkischer Migrantinnen der ersten und 24,8 Prozent der Ehemänner der zweiten Zuwanderergeneration sind erst nach der Heirat zugewandert. Die entsprechenden Anteile bei den italienischen Migrantinnen liegen bei 0,3 bzw. 2,3 Prozent. Der eigene verfestigte Aufenthaltsstatus des Angehörigen der zweiten Zuwanderergeneration dient als Offerte auf dem Heiratsmarkt in der Herkunftsgesellschaft, um dort einen Ehepartner mit höherem sozialem Status zu finden - ein Vorteil, der in der Aufnahmegesellschaft weder bezüglich der Einheimischen noch der Angehörigen der eigenen Zuwanderungsminorität zur Geltung käme.

Diese Befunde und Schlussfolgerungen machen deutlich, dass Heiratsmigration ein wichtiger Mechanismus der Selbstergänzung von Migrantenminoritäten in Deutschland ist. Sie trägt somit dazu bei, dass auch bei den etablierten Zuwanderernationalitäten weiterhin mit Migranten der ersten Generation zu rechnen ist. Durch vorhandene soziale Beziehungen treffen sie aber während des Eingliederungsprozesses auf vergleichsweise günstige Bedingungen. Empirische Analysen über die Struktur internationaler Heiratsmärkte fehlen bislang vollständig. So ist es beispielsweise eine völlig offene Frage, ob diese Form von statusorientierter Heiratsmigration vorzugsweise von solchen Migranten praktiziert wird, die über vergleichsweise geringe Ressourcen verfügen und somit "alternativlos" handeln: Der abgesicherte Aufenthaltsstatus wäre dann möglicherweise häufig "das Einzige", was sie auf dem Heiratsmarkt in der Herkunftsgesellschaft einzusetzen in der Lage sind. Ebenso ist jedoch denkbar, dass Heiratsmigration umso wahrscheinlicher ist, je höher die einzusetzenden Ressourcen auf diesem Heiratsmarkt sind: Hierzu würden dann nicht nur ein abgesicherter Aufenthaltsstatus, sondern auch eine gute Ausbildung und damit eine besonders aussichtsreiche materielle Zukunft gehören. Dafür sprechen die Befunde zur positiven Selektion bei den binationalen Ehen.

Intergenerative Beziehungen

In der Migrationssoziologie hat intergenerativer Wandel seit der Konzeptualisierung der "race-relations-cycles" in den dreißiger Jahren stets eine bedeutsame Rolle in der Erforschung von Eingliederungsprozessen gespielt, wenn das Verhalten von Migranten der ersten, zweiten und dritten Generation miteinander verglichen wurde. Ein wichtiges Ergebnis dieser Analysen besteht darin, dass eine erstaunliche Streuungsbreite sowohl individuell zwischen dem Eingliederungsverhalten einzelner Zuwanderer bzw. von Generationenketten von Zuwanderern als auch kollektiv zwischen dem der verschiedenen Zuwanderernationalitäten zu beobachten ist und Assimilation keineswegs ein "zwangsläufiges" Ergebnis von Eingliederungsprozessen sein muss. Hiervon sind erst jüngst durchgeführte Analysen zu unterscheiden, die Generationenunterschiede nicht durch Vergleiche von Kohorten (Jahrgangsgruppen), sondern direkt in den dyadischen Beziehungen in Migrantenfamilien untersuchen. Dies ist in dem Survey "Intergenerative Beziehungen in Migrantenfamilien" geschehen, in dem jeweils das Verhalten von Jugendlichen mit dem des gleichgeschlechtlichen Elternteils verglichen worden ist. Beispielhaft werden die Angaben der Italiener - als Einwanderer mit älterer Einwanderungsgeschichte sowie als EU-Bürger - und der Türken - als Einwanderer mit vergleichsweise großer kultureller Distanz aus einem Nicht-EU-Land - herangezogen, um die Generationenunterschiede im Sprachgebrauch (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version) und in der ethnischen Identifikation (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version) zu veranschaulichen.

Eltern wie Kinder geben mehrheitlich an, dass sie miteinander überwiegend in der Herkunftssprache kommunizieren. Die Unterschiede zwischen Italienern und Türken bestehen vornehmlich darin, dass eine deutlichere Trennung in der Sprachverwendung mit den Eltern und mit den Geschwistern besteht: Während mit den Eltern noch ganz überwiegend Türkisch gesprochen wird, bevorzugen die Geschwistern - wie bei den Italienern - bereits zur Hälfte überwiegend die deutsche Sprache. Am Arbeitsplatz und in der Schule ist für Italiener und Türken die Verwendung der deutschen Sprache unumgänglich geworden. So verständigen sich in den Pausen von Arbeit und Unterricht schon mehr als 80 Prozent der Jugendlichen und mehr als 95 Prozent der Kinder in deutscher Sprache.

Der überwiegende Teil der Italiener befürwortet eine Heirat von Angehörigen der zweiten Generation mit Deutschen. Im Gegensatz dazu kann sich die Mehrheit der Türken nicht vorstellen, dass eine deutsche Person in ihre Familie einheiratet. Die Unterschiede zwischen den Generationen weisen tendenziell eine größere Zustimmung der Jugendlichen und Kinder auf, aber sie sind eher von geringem Ausmaß.

Generationenbeziehungen sind aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Familien ausländischer Herkunft und für die Funktionsweise familialer Solidarpotenziale unter Migrationsbedingungen. Erstens: Die meisten Familien ausländischer Herkunft stammen aus Gesellschaften ohne ein ausgebautes sozialstaatliches Sicherungssystem. Entsprechend werden alle Sozialleistungen und Absicherungen gegen die Risiken des Lebens zum überwiegenden Teil unmittelbar zwischen den Generationen erbracht. Diese Funktionen der materiellen Absicherung durch Generationenbeziehungen haben weit reichende Auswirkungen auf ihre kulturelle Ausgestaltung, das heißt darauf, was Eltern und Kinder gegenseitig voneinander erwarten und welchen "Wert" sie füreinander haben. Zweitens: Die Migrationssituation selbst hat unmittelbare Auswirkungen auf die Generationenbeziehungen, lassen sich doch viele Migrationsziele nur im Generationenzusammenhang legitimieren und realisieren. Von besonderer Bedeutung sind diese Generationenbeziehungen bei einem ungesicherten Aufenthaltsstatus. Eine gewünschte oder erzwungene Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft bedeutet zugleich, wieder auf soziale Sicherungssysteme zurückgreifen zu müssen, die auf Generationenbeziehungen basieren.

Das Paradoxe an der Migrationssituation ist, dass die Elterngeneration zu gleicher Zeit einer größeren Schwierigkeit und einer größeren Notwendigkeit intergenerativer Transmission von Kultur gegenübersteht. Einerseits haben elterliche Vorbilder im Aufnahmekontext ihren adaptiven Wert eingebüßt, andererseits können sich die Migranteneltern veranlasst sehen, mit noch größeren Anstrengungen ihre Herkunftskultur an die Kinder weiterzugeben, insbesondere wenn eine Unterstützung durch kulturvermittelnde Institutionen (etwa Kindergärten und Schulen) weitgehend fehlt. Es kann deshalb nicht verwundern, wenn in Migrantenfamilien intergenerative Beziehungen besonders hoch motiviert und stärker koordiniert sind als in nichtgewanderten Familien in der Herkunfts- oder in der Aufnahmegesellschaft. So zeigt ein Vergleich von türkischen Migrantenfamilien mit solchen, die in der Herkunftsgesellschaft verblieben sind, dass die intergenerative Transmission in Migrantenfamilien stärker ausgeprägt ist. Die Einstellungen von Eltern und Kindern sind konformer, die Ko-Orientierung höher und die Synchronität stärker als in nichtgewanderten Familien. Kinder ausländischer Familien antizipieren und internalisieren die Erwartungen der Eltern in hohem Maße und zeigen eine hohe Bereitschaft, die von ihnen erwarteten Solidarleistungen zu erbringen. Diese Stärkung der intergenerativen Beziehungen ist eine Folge der Anpassung an die Minoritätensituation. Stabile intergenerative Beziehungen in Migrantenfamilien sind der wichtigste Schutzfaktor gegen eine mögliche Marginalisierung von Jugendlichen der zweiten Generation. Bei aller Synchronität und Koordiniertheit ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen den Generationen hinsichtlich der Stellung im Eingliederungsprozess. Jugendliche der zweiten Zuwanderungsgeneration sind im Vergleich zu ihren Eltern deutlich stärker assimiliert, sie nehmen diskriminierende Handlungen seltener wahr als ihre Eltern, haben eine geringere soziale Distanz zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft, spüren gleichzeitig eine größere Entfremdung zur Herkunftsgesellschaft und haben seltener konkrete Rückwanderungsabsichten.

Generell zeigen die empirischen Befunde einen klaren intergenerativen Trend in Richtung stärkeren kulturellen und sozialen Kontakts bei der zweiten Migrantengeneration. Es gibt jedoch einige Abweichungen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Hierzu gehört einmal die besondere Situation von Aussiedlern, bei denen hohe ethnische Identifikation nicht am Ende des Eingliederungsprozesses steht, sondern an dessen Anfang bzw. die ein zentrales Migrationsmotiv darstellt. Dies führt u.a. zu einer größeren sozialen Distanz zur Aufnahmegesellschaft bei der Folgegeneration als bei ihren Eltern. Die andere Abweichung betrifft die Gruppe der türkischen männlichen Jugendlichen, die sich beispielsweise auch in Bezug auf Sprachbewahrung deutlich anders verhalten als die übrigen Angehörigen der zweiten Zuwanderergeneration. Befunde zu türkischen Söhnen deuten darauf hin, dass sich bei ihnen am ehesten das Phänomen der "Ethnic retention" bzw. eines "Ethnic revival" zeigt: Türkische Migrantensöhne antizipieren höhere Erwartungen seitens der Eltern an sich, als sie von ihren Eltern selbst geäußert werden, sie haben stärkere normative Geschlechtsrollenorientierungen und stärkere externale Kontrollüberzeugungen als ihre Väter, das heißt sie gehen von einer eher geringen Situationskontrolle aus. Diese Einstellung führt männliche türkische Jugendlichen nicht nur in der Familie, sondern besonders in der Aufnahmegesellschaft zu einem normativen Konflikt; entsprechend häufig - im Vergleich zu anderen Migrantenjugendlichen - fühlen sich türkische Söhne diskriminiert und entsprechend selten haben sie die Erwartung, sich an die Aufnahmegesellschaft anzugleichen.

Zusammenfassung und Ausblick

Die empirischen Befunde zu Familienbeziehungen von Migranten in Deutschland haben deren Einfluss auf die Sozialintegration im Eingliederungsprozess verdeutlicht.

1. Die Migrationssituation selbst hat unmittelbare Auswirkungen auf die Generationenbeziehungen. Internationale Migration vollzieht sich typischerweise nicht als individuelle Entscheidung von Monaden, sondern als kollektive Unternehmung von Familienverbänden. Die Herkunftsfamilien stellen hierbei zumeist zu Beginn des Migrationsprozesses erhebliche Ressourcen zur Verfügung, die erste Platzierung in der Aufnahmegesellschaft von Nachwandernden vollzieht sich zumeist unter aktiver Beteiligung von Verwandten, die bereits im Aufnahmekontext leben. Entsprechend sind Kettenwanderungen und familiär-verwandtschaftliche transnationale Netzwerke eine effiziente Form der erfolgreichen Bewältigung des Eingliederungsprozesses. Migration führt deshalb im Regelfall eher zu einer Intensivierung der Generationenbeziehungen und - trotz der erheblichen Belastungen des unterschiedlich verlaufenden Akkulturationsprozesses - nicht zu besonders ausgeprägten Generationenkonflikten. Von besonderer Bedeutung sind diese Generationenbeziehungen bei einem ungesicherten Aufenthaltsstatus. Eine gewünschte oder erzwungene Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft bedeutet zugleich, wieder auf soziale Sicherungssysteme zurückgreifen zu müssen, die nicht auf Versicherungsleistungen, sondern auf Generationenbeziehungen basieren.

2. Die Heiratsmigration wird in ihrer quantitativen Bedeutung in Zukunft zunehmen. Dies gilt insbesondere, solange eine restriktive Zuwanderungspolitik keine anderen Zuwanderungsmöglichkeiten zulässt und entsprechend insbesondere für solche Personengruppen, deren Herkunftsländer von restriktiven Zuwanderungsregelungen betroffen sind. Heiratsmigration ist ein wichtiger Mechanismus der Selbstergänzung von Migrantenminoritäten in Deutschland. Sie trägt dazu bei, dass auch bei den etablierten Zuwanderernationalitäten weiterhin mit Migranten der ersten Generation zu rechnen ist, die jedoch durch vorhandene soziale Beziehungen günstige Voraussetzungen zur Eingliederung haben.

Entsprechend unterstreichen die empirischen Befunde zu den Familienbeziehungen von Migranten die Schlussfolgerungen und Empfehlungen, die im Zusammenhang mit dem 6. Familienbericht der Bundesrepublik Deutschland zur Situation "Familien ausländischer Herkunft in Deutschland" formuliert worden sind: Familien ausländischer Herkunft brauchen eine langfristige Perspektive, um sich erfolgreich integrieren zu können. Dies setzt insbesondere Überschaubarkeit und Kontinuität in den politischen und administrativen Rahmenbedingungen und Steuerungsinstrumenten voraus. Häufige Änderungen in den familien- und ausländerpolitischen Regelungen und eine allzu starke Betonung des Opportunitätsprinzips bei der Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen sind zu vermeiden, denn sie verunsichern Migrantenfamilien, hemmen deren Eigeninitiative und verhindern damit langfristige Investitionen in das Humankapital nachfolgender Generationen. Die Handlungsbedingungen für Familien ausländischer Herkunft sind so zu gestalten, dass sie ihren familiären Solidarverpflichtungen nachkommen können. Anpassungsleistungen unter Migrationsbedingungen, die Übernahme neuer Rollen und die fortlaufende Gestaltung des Generationenverhältnisses sind von der Familie als Solidargemeinschaft abhängig. Familien ausländischer Herkunft entfalten diese Solidarpotenziale selbst dann zu außerordentlich großer Wirksamkeit, wenn keine ethnischen Kolonien unterstützend verfügbar sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001.

  2. Vgl. Thomas T. Kane/Elisabeth H. Stephen, Patterns of intermarriage of guestworker populations in the Federal Republic of Germany: 1960 - 1985, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 14 (1988), S. 187 - 204; Thomas Klein, Partnerwahl zwischen Deutschen und Ausländern, in: Sachverständigenkommission 6.Familienbericht (Hrsg.), Familien ausländischer Herkunft in Deutschland (Bd. 1: Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation), Opladen 2000; Amparo Gonzalez-Ferrer, Who do Immigrants Marry? Partner Choice among Immigrants in Germany, in: European Sociological Review, 22 (2006), S. 171 - 185.

  3. Vgl. Bernhard Nauck, Binationale Paare, in: Karl Lenz/Frank Nestmann (Hrsg.), Handbuch Persönliche Beziehungen, Weinheim (i.E.)

  4. Vgl. T. Klein (Anm. 2); Julia H. Schroedter, Binationale Ehen in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, 4 (2006), S. 419 - 431; A. Gonzalez-Ferrer (Anm. 2); David Glowsky, EU-Bürgerschaft als Ressource bei der Heirat ausländischer Frauen. Eine Analyse deutsch-ausländischer Ehen mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels, Berlin 2006

  5. Vgl. Stephan Weick, Bei höherer Schulbildung neigen ausländische Männer eher zur Ehe mit deutscher Partnerin. Untersuchung zu Familie und Partnerwahl in der ausländischen Bevölkerung mit Daten des Mikrozensus, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren, 25 (2001), S. 12 - 14.

  6. Vgl. Bernhard Nauck, Generationenbeziehungen und Heiratsregimes - theoretische Überlegungen zur Struktur von Heiratsmärkten und Partnerwahlprozessen am Beispiel der Türkei und Deutschlands, in: Thomas Klein (Hrsg.), Partnerwahl und Heiratsmuster. Sozialstrukturelle Voraussetzungen der Liebe, Opladen 2001.

  7. Vgl. Bernhard Nauck, Interkultureller Kontakt und intergenerationale Transmission in Migrantenfamilien, in: Yasemin Karakasoglu/Julian Lüddecke (Hrsg.), Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik. aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis, Münster - New York - München 2004; ders., Soziales Kapital, intergenerative Transmission und interethnischer Kontakt in Migrantenfamilien, in: Hans Merkens/Jürgen Zinnecker (Hrsg.), Jahrbuch Jugendforschung, Wiesbaden 2004.

  8. Vgl. J.H. Schroedter (Anm. 4), S. 428.

  9. Vgl. Hartmut Esser, Aspekte der Wanderungssoziologie, Darmstadt-Neuwied 1980.

  10. Susann Krentz, Intergenerative Transmission von Erziehungseinstellungen bei Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland und Israel, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 22 (2002), S. 79 - 99; Bernhard Nauck, Eltern-Kind-Beziehungen in Migrantenfamilien - ein Vergleich zwischen griechischen, italienischen, türkischen und vietnamesischen Familien in Deutschland, in: Sachverständigenkommission 6.Familienbericht (Hrsg.), Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation. Materialien zum 6.Familienbericht. Band 1, Opladen 2000; Bernhard Nauck/Anette Kohlmann, Verwandtschaft als soziales Kapital - Netzwerkbeziehungen in türkischen Migrantenfamilien, in: Michael Wagner/Yvonne Schütze (Hrsg.), Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart 1998; Bernhard Nauck/Anette Kohlmann/Heike Diefenbach, Familiäre Netzwerke, intergenerative Transmission und Assimilationsprozesse bei türkischen Migrantenfamilien, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 49 (1997), S. 477 - 499; Bernhard Nauck/Yasemin Niephaus, Intergenerative Konflikte und gesundheitliche Belastungen in Migrantenfamilien. Ein interkultureller und interkontextueller Vergleich, in: Peter Marschalck/Karl H. Wiedl (Hrsg.), Migration und Krankheit, Osnabrück 2001; Anja Steinbach/Bernhard Nauck, (2000), Die Wirkung institutioneller Rahmenbedingungen für das individuelle Eingliederungsverhalten von russischen Immigranten in Deutschland und Israel, in: Regina Metze/Kurt Mühler/Karl D. Opp (Hrsg.), Normen und Institutionen: Entstehung und Wirkungen. Theoretische Analysen und empirische Befunde, Leipzig 2000.

  11. Vgl. B. Nauck (Anm. 10); Bernhard Nauck, Der Wert von Kindern für ihre Eltern. "Value of Children" als spezielle Handlungstheorie des generativen Verhaltens und von Generationenbeziehungen im interkulturellen Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 53 (2001), S. 407 - 435.

  12. Vgl. B. Nauck (Anm. 10).

  13. Vgl. A. Steinbach/B. Nauck (Anm. 10).

  14. Vgl. B. Nauck (Anm. 10).

  15. Vgl. BMFSFJ (Hrsg.), Sechster Familienbericht: Familien ausländischer Herkunft. Leistungen - Belastungen - Herausforderungen, Bonn 2000.

Dr. phil. habil., geb. 1945; Professor an der Technischen Universität Chemnitz, Institut für Soziologie, Reichenhainer Str. 41, 09107 Chemnitz.
E-Mail: E-Mail Link: bernhard.nauck@phil.tu-chemnitz.de
Internet: Externer Link: www.tu-chemnitz.de/phil/soziologie/nauck/index.htm