In einer Nacht im November fühlt sich Görlitz auf einmal an, wie Berlin schon lange nicht mehr ist. Zwar ist wie jeden Abend bereits viel Licht und Leben aus den Straßen geflohen, zwar wacht der große Philosoph Jakob Böhme einsam über den Friedenspark, er sitzt auf seinem Sockel, zu Recht, aber wie immer, wenn man an einem Denkmal vorbeiläuft, kann auch hier die Frage keimen, wie klein sich jede Gegenwart macht, die zu ehrfürchtig das Vergangene ehrt. Zwar kriecht auch die Kälte in dieser Nacht im November 2019 so langsam in alle Knochen, aber an der Ecke desselben Parks schwingt auch eine Holztür auf und hinter dieser Holztür raucht und trinkt die Hoffnung.
Wer vorher noch nie im Café Hotspot gewesen ist, der muss sich in dieser Nacht sofort an sowie in Ort und Stelle verlieben. Junge Menschen sitzen in Knäueln hier und dort herum, sie spielen Skat oder sprechen wechselnd in verschiedenen Sprachen und das in einem Bundesland, wo man sonst oft nur verschiedene Sorten Sächsisch zu hören bekommt. Das Café Hotspot versteht sich selbst als "interkultureller Erprobungsraum", es geht hier ernsthaft, aber äußerlich unangestrengt darum, einander zuzuhören, zu verstehen, zu helfen, ganz gleich ob jemand aus Görlitz kommt oder von sonstwo auf der Welt, ganz gleich ob er Hilfe für den nächsten Umzug braucht oder eine Idee einbringen will für die Stadt und das Zusammenleben. Und wem danach ist, der kann hier auch seinen Magen als interkulturellen Erprobungsraum zur Verfügung stellen und zum Beispiel vom polnischen Haselnusswodka probieren, auch das gehört ja zur europäischen Idee, gerade hier im Dreiländereck.
Der Name dieses wunderbaren Cafés lässt sich wie ein Funksignal ausbringen, er steht letztlich für die ganze Region. Sie ist in Gänze ein Hotspot deutscher Gegenwart und die konnotative Ambivalenz dieses Wortes kommt nicht von ungefähr. Die Lausitz steht einmal mehr vor einer gewaltigen Herausforderung, die in der Sprache von Politik und Nachrichten oft nur kühl "Strukturwandel" genannt wird. Strukturwandel bedeutet aus Perspektive der Lausitz zunächst einmal: Stress. Dass er auch eine Chance bedeuten kann, gerät deswegen oft in Vergessenheit. Dabei gilt es, beidem, dem Stress und der Chance, hinreichend Aufmerksamkeit zu schenken, anders lässt sich die Lausitz nicht begreifen.
Zunächst zum Stress. Ein großer Teil des regionalen Stolzes und der regionalen Identität speiste sich in der Lausitz lange aus dem Bergbau. Wie man sich das vorzustellen hat, war 2018 in der popkulturellen Wiederauferstehung des Liedermachers Gerhard Gundermann noch einmal zu erfahren. Wer den Film von Andreas Dresen sah, der schaute sich auch die Liedzeilen von Gundermann wieder an, und wer Glück hatte, blieb dabei an diesen Zeilen aus "Brigitta" hängen: "Ich war ’n Bergmann, weiter hab’ ich nüscht gelernt / Ich hab dieses Land in jedem Winter treu gewärmt." Dass die Zeiten sich ändern, weiß nicht nur Bob Dylan, in dessen Vorprogramm Gundermann einmal spielte. Wie schnell es gehen kann und dass Braunkohle mittlerweile bei vielen Menschen synonym steht für die Gräueltaten des Menschen an der Natur, das ist fordernd. Ein politisches Ergebnis dieser Veränderung ist der für spätestens 2038 terminierte Kohleausstieg in Deutschland. Der zeitliche Rahmen für den Stress ist damit gesetzt.
Die Lausitz hat seit 1990 wie kaum eine andere Region Deutschlands gelitten. Die Natur litt, vorher noch mehr als seitdem, unter der Braunkohle, die Braunkohle litt unter den politischen Entwicklungen, und auch sonst brachen reihenweise große Industrien fort. Derlei Rückschläge verlängerten ihre Wirkung in die Demografie und nährten eine Erzählung vom Abstieg, die letztlich auch den politischen und gesellschaftlichen Raum übel vergiftete, auch dies ließ sich in Görlitz besonders gut spüren, im Oberbürgermeisterwahlkampf des frühen Sommers 2019.
Die AfD hatte mit dem Kandidaten Sebastian Wippel Chancen, den ersten OB-Posten in Deutschland überhaupt zu besetzen. Ihm gegenüber standen die Kandidaturen des späteren Siegers Octavian Ursu (CDU) und vor allem die der Grünen Franziska Schubert. Die Wahlkämpfe von Wippel und Schubert offenbarten eine Bruchlinie der Lausitz. Notwendigerweise verkürzt betrachtet, machten hier zwei politische Lager zwei sehr unterschiedliche Angebote. Das erste Angebot lautete, die Verhältnisse möglichst radikal zu schützen, also unbedingt zu bewahren, was und wie es schon immer war (beziehungsweise imaginiert wurde). Das zweite Angebot lautete, den gewaltigen Veränderungsdruck auf die Region anzuerkennen, anzunehmen und schrittweise Ideen der Anpassung zu entwickeln.
Diese Bruchlinie ist auch in der Retrospektive dieser politischen Auseinandersetzung interessant. Das Wählerpotenzial der AfD in der Lausitz ist enorm, das haben weitere Wahlen mehrfach erwiesen. Es sind nicht allein ältere Bürger, die diese Partei stützen. Sie wird von einer Sehnsucht getragen, die auch jüngere Jahrgänge in Teilen erfasst, einer Sehnsucht nach der Beständigkeit alter Ordnungen. Wie sehr man dieser Sehnsucht trauen kann und wie aussichtsreich es ist, sich auf diese zu verlassen, muss und darf jeder für sich selbst definieren. An der Gegenposition, die die Grünen in einem anderen Wahlkampf auch mal mit der schönen Nena-Zeile paraphrasierten, Zukunft werde aus Mut gemacht, lässt sich zumindest gedanklich schneller und leichter der Weg vom Stress zur Chance finden.
Stress, Chance, Zukunft. Das Zusammenspiel dieser Kräfte auch anderswo im Osten beschäftigt mich schon eine Weile, und ich habe für mich eine Maßeinheit erfunden, um dieses Zusammenspiel zu messen. Ich nenne diese Maßeinheit Deutschland-Dioptrien. Mein Deutschland-Dioptrienwert liegt bei ungefähr +50, ich bin also deutschlandweitsichtig. Praktisch sieht das so aus, dass ich auf Überlandfahrten durch den Osten generell und ganz besonders eben in der Lausitz oft durch Orte komme, in denen ich nicht anders kann, als mich zu fragen, wie sieht es hier einmal aus, in fünfzig Jahren?
Die Orte, in denen ich mich das frage, haben Gemeinsamkeiten. In ihnen hängen Rollläden vor Fenstern wie schwere Lider vor müden Augen. In ihnen kleben Zettel an Türen von Geschäften und berichten von deren Aufgabe: "Liebe Kunden, nach 35 Jahren …". In diesen Orten kommt mir oft der Esel aus den Bremer Stadtmusikanten in den Sinn. Jener Esel, der behauptete, etwas Besseres als der Tod sei überall zu finden.
Sooft ich diese Orte dann wieder verlasse, nie verlassen sie mich. Der Grund dafür liegt in den düsteren Prognosen, die über dem Osten liegen wie ein tief dräuender Himmel. Diese Prognosen haben die Frage des Ob schon beantwortet und bislang nur offengelassen, wo genau und wie heftig es bald knallen und gewittern wird. Rund 3,7 Millionen vor allem jüngere Menschen haben den Osten seit 1990 verlassen, ein Viertel seiner Gesamtbevölkerung. Das Durchschnittsalter ist auch deswegen von 37,9 auf 46,3 Jahre gestiegen. Fast drei Viertel derer, die noch im Osten leben, wohnen im ländlichen Raum. Ihr Vermögen, ihr Lohn, folglich ihr Steueraufkommen – alles liegt im Durchschnitt deutlich unter dem Niveau des Westens, und wenn es mal wieder ein "Ranking der Regionen" in Deutschland gibt, ist klar, wo die roten Laternen leuchten. Sie hängen in der Lausitz, sie hängen in Mansfeld-Südharz, in Vorpommern-Greifswald, im Altmarkkreis Salzwedel.
Die Bürgermeisterin des sächsischen Pulsnitz erzählte vor ein paar Jahren, ihr Ort sei ein Schwerpunkt der Altenpflege und das vierte Pflegeheim gerade fertiggestellt und eingerichtet worden, "bis zur letzten Tasse". Eröffnen konnte sie es trotzdem nicht, es fehlte an Bewerbern für die Arbeitsplätze in dem Heim. Der Bürgermeister von Rothenburg in der Oberlausitz sagte, seine Leute im Ort würden den eigenen Markt nur noch "die toten Augen von Rothenburg" nennen, so viele stumpfe Schaufenster gebe es dort, so wenige offene Geschäfte. Der Bürgermeister von Johanngeorgenstadt im Erzgebirge erwiderte, das Problem habe er so nicht, denn einen richtigen Markt gebe es bei ihm nicht mehr.
In Sebnitz habe ich einen Pfarrer mal gefragt, wie viele Beerdigungen, Taufen und Hochzeiten er im Jahr durchführe. Er sagte, Hochzeiten seien es etwa zwei, Taufen vielleicht zehn, Beerdigungen locker fünfzig. In Zittau erzählte mir eine ältere Frau, es gehe schon lange nicht mehr darum, ob man bei Krankheit einen guten Arzt finde. "Man muss froh sein, wenn man überhaupt einen findet!" Und wo wir jetzt gerade doch schon wieder in die Lausitz zurückgekehrt sind: Der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Ragnitz sagte in einer Diskussion zur Zukunft der Region, eigentlich könne man "über jeden Arbeitsplatz froh sein, der nicht entsteht, weil wir ihn sowieso nicht besetzen könnten".
In Sachsen-Anhalt trat in einem Landtagswahlkampf eine satirische Initiative auf und schlug vor, nur Halle und Magdeburg zu erhalten und den weiten Rest des Landes einfach aufzuforsten. Es passierte mehr als einmal, dass auf diesen Vorschlag nicht nur Gelächter folgte, sondern Leute so ein lüsternes "Warum eigentlich nicht?"-Gesicht machten. Nie vergessen werde ich eine Veranstaltung in Pirna, auf der eine Studie vorgestellt wurde. Es ging um urbane Wachstumszentren und auch um die Frage, wie die Zukunft außerhalb dieser aussehen könnte. Meine Heimat Sachsen war auf einer Karte wie so oft ziemlich kräftig eingefärbt, und als ich in der Legende nachlas, was es mit dieser kräftigen Farbe auf sich hatte, blieben mir Luft und Spucke weg: Die meisten Orte im ländlichen Raum, so lautete der offizielle und nicht gänzlich satirische Vorschlag an die Politik, solle man "palliativ begleiten".
Ich sehe die Statistik und die Prognosedaten, ich höre die Geschichten – und ich frage mich, was das alles gemessen in Deutschland-Dioptrien bedeutet. Ist der demografische Kipppunkt bereits erreicht, und forsten wir zum Beispiel die Lausitz irgendwann einfach auf, und das wäre ja auch nicht weiter schlimm, weil vor allem ein Beitrag zum Klimaschutz? Oder ist dieses Endspiel um einen ganzen Landesteil noch nicht verloren, ist es womöglich grundsätzlich gar nicht zu verlieren, weil auch das Überleben des ländlichen Raums keine Frage des Ob ist, sondern nur eine des Niveaus?
Wenn ich in der Frage eines sicher weiß, dann, dass ich keine Ahnung habe. Ich weiß ja nicht mal, ob es schon ein Wert an sich ist, wenn irgendwo Menschen wohnen. Ob das besser ist, als wenn da niemand wohnte. Ich weiß aber, dass trotz Freizügigkeit und gleichwertiger Lebensverhältnisse und trotz allem anderen, was noch so im Grundgesetz steht, nicht jedes Straßendorf aufrechterhalten werden wird. Die Frage ist also nur, ob gerade etwas stirbt – oder ob es schon gestorben ist und der Tod sich bislang nur versteckt wie bei einem Baum, der von außen noch im Leben steht, während drinnen schon die Fäule tobt.
Es ließen sich etliche Bereiche nennen, in denen Systeme kollabieren werden, von der medizinischen Versorgung über den Feuerwehrnachwuchs bis zum Busfahrplan. Aber dann bliebe am Ende wieder nur ein bequemer Grusel beim Aus-der-Ferne-Betrachten des Endzeit-Thrillers Demografie. Und so düster die Aussichten für einige Regionen speziell im Osten sind, so oft haben sich in der Vergangenheit Aussichten dann überraschend doch einmal geändert. Die "Österreichische Neue Tageszeitung" titelte schon 1959: "Sozialstaat ist in der Sackgasse – Wer zahlt morgen die Renten?" Und sechs Jahre zuvor hatte Adenauer die damalige Bevölkerungsentwicklung mit dem ziemlich voreiligen Satz kommentiert: "Dann sterben wir ja aus."
Gegen die Prognosedaten stehen auch viele Pioniere und Bürgerinnen, Ehrenamtliche und Bürgermeisterinnen in den abgehängten und abgerankten Regionen. Sie geben den genannten Zahlen trotz aller Schwierigkeiten ein oft erstaunlich fröhliches Gesicht – und eine Zukunftslaune, die so langsam von der Depression fortgeht in Richtung Sven Regeners Delmenhorst: "Erst wenn alles scheißegal ist, macht das Leben wieder Spaß."
Es sind Menschen, die mehr Vertrauen in ihre Stadt haben als in kalte Extrapolationen irgendwelcher Daten. Und es kann doch sein. Es kann sein, dass gerade in den Regionen, die nicht unter so einem hohen sozialen und wirtschaftlichen Druck stehen wie gegenwärtig die größeren Städte, sich neue Formen des Zusammenlebens etablieren. Formen, in denen das Wachstum materiellen Wohlstands nicht mehr das dominante (und auf hohem Niveau ein bisschen dumme) Ziel allen Strebens ist. Es kann sein, dass die durchaus noch jungen Leute, die zum Beispiel in der Lausitz gerade zunehmend Verantwortung übernehmen für ihre Heimat, auf lange Sicht genauso belebend wirken wie zuletzt die Leuchtturmpolitik und der Rückzug des Staates aus der Fläche abtötend gewirkt hatten. Es kann sein, dass Regionen sich in den nächsten Jahren gesundsterben, dass sie einige Orte aufgeben und dafür einen kräftigen zivilen Kern so stärken, dass dort Geschäfte geöffnet bleiben und die Häuser entgegen aller Prognosen nur nachts ihre Rolllädenlider senken. Und solange solche Dinge sein können, ist das Endspiel nicht vorbei. Der Glaube daran kann mithelfen, selbst Zahlenberge zu versetzen.
Damit das geschieht, muss von diesen Menschen mindestens genauso umfangreich erzählt werden, wie oft über die Ängste und auch die Ressentiments von Menschen berichtet wird. Es muss erzählt werden vom Kühlhaus in Görlitz, in dem staatliche Prepper zu DDR-Zeiten Vorräte einlagerten, um in Ernstfällen die Bevölkerung versorgen zu können – und wo heute junge Menschen mit großer Eigenleistung Räume und ein Klima schaffen, in dem andere junge Menschen Platz finden, sich zu entwickeln. Es muss erzählt werden von dem gar nicht mehr so jungen Oberbürgermeister von Weißwasser, Torsten Pötzsch, der den Wettlauf in seiner Stadt angenommen hat, der Überalterung und Fortzug mit Mitstreitern die Entwicklung eines soziokulturellen Zentrums entgegenstellt, in dem es an guten Tagen schlichtweg wieder brummt vor Leben. Es muss erzählt werden von vielen jungen Frauen, die sich in der Lausitz vernetzen und die teilweise in Stadträte eingezogen sind, um dort sehr verengte Perspektiven wieder zu erweitern. Es muss erzählt werden von Thomas Zenker, der als Oberbürgermeister von Zittau die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas mitgetragen hat, die mindestens in ein paar Köpfen mal wieder wichtige Funken schlug und in Erinnerung rief: Nicht alles wird kleiner, hört auf, ist schlecht. Es gibt immer noch Anfänge.
Es ist hilfreich und erbaulich, sich mit jenen zu unterhalten, die jetzt nicht nur den Stress erleben, sondern die vor allem die Zukunft in größerem Umfang noch erleben werden. Da trifft es sich ganz gut, dass in der Nacht im November im Café Hotspot auch Lukas Rietzschel an der Bar sitzt. Rietzschel, 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen geboren, hat einen Entwicklungsroman über seine Heimat geschrieben. Sein Buch heißt "Mit der Faust in die Welt schlagen", und es verhandelt bedrückend Konflikte und Ratlosigkeiten, wie sie in den Biografien hier weder zufällig noch selten auftreten.
Die Lausitz ist das Revier von Rietzschel, er hat sich, nach ein paar Jahren in Kassel, neu verschossen in seine Heimat. Kassel muss man wollen, das schon, aber das gilt für die Lausitz nicht minder, und Lukas Rietzschel hat Bock, das kann man so sagen. Bevor er da gleich selbst ins Detail geht, kommt noch eine Art Haftungsausschluss. Die Zeit könne man natürlich nicht zurückdrehen, die Abwanderung nicht, deswegen auch nicht die Überalterung. Selbst die frühere Innovationskraft der Lausitz lässt sich auch mit 18 Milliarden Euro staatlicher Umbauhilfe nicht einfach wieder aufdrehen wie ein Heizkörper an einem hässlichen Wintertag. Aber das heiße eben nicht, dass man gar nichts tun könne. Rietzschel wünscht sich, dass nicht wieder nur Straßen gebaut und Sanierungen gefördert werden. Er wünscht sich, dass am besten jetzt seine Heimat zu einer Art Modellregion, zu einem Labor wird, in dem nicht alle aufs Bruttoinlandsprodukt schielen und sich von ihm sagen zu lassen, wie glücklich sie gerade sein dürfen und sollten. Wirtschaft komplett neu organisieren, Ökologie in den Mittelpunkt nehmen, ja, warum denn eigentlich nicht? "Dass das nicht passiert, ärgert mich wie Sau", sagt Rietzschel.
Er wünscht sich auch, dass die Leute sich wieder mehr Zeit nehmen, zum Beispiel für das Fragen nach Identität. Herausfinden, wer und was da mal war, wo ich herkomme. Die Wurzeln spüren, darüber Halt finden, eine Verantwortung entwickeln und empfinden für die eigene Heimat. Das wären seine Wünsche, aber statt Interesse an der Zukunft und Wissen um Vergangenheit wuchert überall ja nur noch Echtzeit. Im Internet ist alles Leben eine Story, mit 24 Stunden Maximalhaltbarkeitsdatum – und dann, sagt Rietzschel, "haben wir auch noch eine große Koalition, die keine richtige Idee von Zukunft vermittelt, alle sind irgendwie im Jetzt gefangen und der einzige Weg da raus führt angeblich zurück, wenn überhaupt".
In der Lausitz läuft gerade der langsamste Countdown der Welt weiter, noch knapp 19 Jahre bis zum Kohleausstieg. Wie mutig und schön wäre es, wenn sie in der Lausitz mit dem Geld, das sie jetzt zur Abfederung dieses Ausstiegs bekommen, mal wirklich etwas komplett Anderes und Neues anstellen würden, außerhalb aller bisherigen Pfade. Das ganze Land könnte davon profitieren. Es geht also in der Lausitz, ganz grundsätzlich gesprochen, um eine wichtige Wurst. Und wie man sich im Konkreten gut verhält, wenn es um die Wurst geht, auch dafür hatte Lukas Rietzschel bei einem anderen Treffen schon mal einen Vorschlag unterbreitet, zur Mittagszeit, bei einem kurzen Stopp zum Lunch in einer Fleischerei. Rietzschel hatte zügig zwei Käsewiener mit Kartoffelsalat bestellt, eine solide Wahl, aus Erfahrung. Erst danach aber hatte er sich etwas Zeit genommen, in die Auslage geschaut und gesehen, dass auch komplett andere Varianten ein gutes Essen ergeben hätten. Ein Aha-Moment für mehr Flexibilität im Leben. Oder anders formuliert, aus der Sicht und mit den spontanen Worten von Lukas Rietzschel: "Boah, Brühpolnische, auch geil!"