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Der Wiederaufbau der deutschen Literatur | Gruppe 47 | bpb.de

Gruppe 47 Editorial Gruppenkritik Aufstieg und Ende der Gruppe 47 Der Wiederaufbau der deutschen Literatur Die APO und der Zerfall der Gruppe 47 Die Gruppe 47 und die DDR "Der Ruf" - Stimme für ein neues Deutschland

Der Wiederaufbau der deutschen Literatur

Rhys W. Williams

/ 18 Minuten zu lesen

Der Wiederaufbau der deutschen Literatur in den Westzonen war geprägt von der Auseinandersetzung mit der "Inneren Emigration", der Exilliteratur und der Literatur des Widerstandes.

Einleitung

In einem 1985 veröffentlichten Gespräch mit Hans Dieter Zimmermann charakterisierte Hans Werner Richter die Mitgliedschaft bei der Gruppe 47 folgendermaßen: "Wer im Nationalsozialismus wirklich mitgemacht hatte, konnte nicht bei der Gruppe 47 sein! Bei einigen jungen Leuten, die einmal an den Nationalsozialismus geglaubt hatten, habe ich das allerdings übersehen; das konnte man übersehen, die hatten ja keine andere Chance gehabt. Streng galt aber die Regel: Wer im Dritten Reich mitgeschrieben hatte war nicht eingeladen! Später habe ich festgestellt, eigentlich erst in jüngster Zeit, dass einige doch im Dritten Reich publiziert hatten; es waren Lyriker, die ab und zu mal ein Gedicht veröffentlichten."


Der Versuch, jeden Zusammenhang zwischen dem Nationalsozialismus und der Gruppe herunterzuspielen, die Geste des großzügigen Hinwegsehens über die Fehlbarkeit des einen oder anderen jungen Schriftstellers oder das Eingeständnis, dass der eine oder andere Dichter jenes sonderbare Gedicht publiziert hatte, sollte den Eindruck verstärken, dass die Gruppe einen klaren Bruch mit der NS-Vergangenheit verkörperte, einen Neubeginn für die deutsche Literatur nach dem Krieg. Detaillierte Studien über die Vergangenheit einzelner Schriftsteller, die zum Großteil von amerikanischen und britischen Wissenschaftlern stammen, sowie zum Beispiel das von Günter Grass "Beim Häuten der Zwiebel" geäußerte Bekenntnis zu seiner Verbindung mit der Waffen-SS haben ein heilsames Korrektiv für diese "Stunde-Null"-Theorie geliefert. Es mag nichtdeutschen Gelehrten leichter fallen, diese unangenehmen Tatsachen aufzugreifen, doch sollte nicht vergessen werden, dass das Schwinden des britischen und amerikanischen Engagements für die Entnazifizierung mit Beginn des Kalten Krieges wesentlich zum Entstehen der Kultur des Totschweigens der Vergangenheit beigetragen hat.

Wenn ich mein Hauptaugenmerk hier auf die frühen Treffen der Gruppe und auf deren Gründerväter Alfred Andersch und Hans Werner Richter lenke, ist es von Interesse, zu beleuchten, wie und warum die Gruppe sich so entwickelte, wie sie es tat. Es stellt sich heraus, dass die Verbindungen zur Vergangenheit und die Art und Weise, wie das schriftstellerische Schaffen in der "Inneren Emigration" und im Exil beurteilt wird, für den Erfolg der Gruppe von grundlegender Bedeutung sind. Richters laxe Umsetzung seiner strengen Regeln trug wesentlich dazu bei, dass die Unterschiede zwischen jenen Autoren, die in der Vergangenheit publiziert hatten, und jenen, die einen echten Neuanfang nach 1945 symbolisierten, verschwammen.

In "Im Etablissement der Schmetterlinge" gibt Richter im Abschnitt über Andersch einen erhellenden Einblick in ihre gemeinsame Erfahrung: "Wir hatten beide das Dritte Reich überstanden, ohne Konzessionen zu machen, wir hatten uns beide demütigen lassen, ohne nachzugeben." Der Begriff "Demütigung" muss zu denken geben; beide Gründer der Gruppe hatten viel mehr Konzessionen gemacht, als sie anfangs zugeben wollten. Beide hatten schon vor 1945 - wenn auch bescheidene - literarische Karrieren begonnen; beide konnten also noch eben als Vertreter der "Inneren Emigration" angesehen werden, was ihr zwiespältiges Verhältnis zu den Werken der besser bekannten "inneren Emigranten" erklärt. Sowohl Andersch als auch Richter widmeten den Großteil ihres literarischen Schaffens der Neubewertung ihrer persönlichen Erfahrungen im Dritten Reich, spielten rückblickend mögliche Reaktionen auf den Nationalsozialismus durch, rechtfertigten und erklärten ihr Versäumnis, Widerstand zu leisten (oder ins Exil zu gehen) und stellten sich als psychologische Opfer eines totalitären Regimes dar. Es war ihnen bewusst, dass es der Kommunismus versäumt hatte, den Nazis wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Aus dieser Erkenntnis rührte ihr tiefes Misstrauen gegenüber den kommunistischen Regimes in Osteuropa nach 1945, ja gegenüber Ideologien überhaupt. Nach ihrer Vorstellung sollte die neue (west-)deutsche Literatur im Interesse einer neuen politischen und literarischen Zukunft den Versäumnissen der Vergangenheit ins Auge sehen. Dass Andersch und Richter während des Dritten Reiches in Deutschland geblieben waren und dass trotz ihrer literarischen Ambitionen vor 1945 wenig von ihnen publiziert wurde, schuf für beide exzellente Voraussetzungen, als Sprachrohr der jungen Generation anerkannt zu werden.

Neu geschriebene Vergangenheit

Der persönliche Hintergrund erklärt die Einstellung Anderschs und Richters nach dem Krieg. Andersch war vor 1933 Leiter der Kommunistischen Jugend für Südbayern gewesen und hatte sich nebenbei journalistisch versucht. Nach dem Reichstagsbrand wurde er wie die meisten kommunistischen Funktionäre verhaftet. Nach sechs Wochen durfte er Dachau verlassen, dank der Intervention seiner Mutter, die die Mitwirkung von Anderschs Vater beim Aufstieg des Nationalsozialismus ins Feld geführt hatte. Nach einer weiteren kurzen Inhaftierung im Herbst 1933 brach er mit der kommunistischen Partei und kehrte der Politik zugunsten der Literatur den Rücken.

Anfang 1943 bewarb sich Andersch bei der Reichsschrifttumskammer. Seine Ansuchen war erfolgreich, er wurde aber "von der Mitgliedschaft befreit", wie es für Schriftsteller üblich war, die wenig publiziert hatten. Im Oktober 1943 wurde Andersch nach Dänemark versetzt, wo er im April 1944 einen Brief vom Suhrkamp Verlag erhielt, der seinen geplanten Band "Erinnerte Gestalten" ablehnte. Eine der drei Geschichten dieses Bandes wurde im April 1944 in der "Kölnischen Zeitung" veröffentlicht. Obwohl Andersch nach dem Krieg aus verständlichen Gründen Stillschweigen über seine literarischen Aktivitäten vor 1945 bewahrte, war er doch ein Autor der "Inneren Emigration".

Nach seiner Desertion und der Gefangenschaft in Italien wurde Andersch Mitglied des Redaktionsteams von "Der Ruf", einer 14-täglich erscheinenden Zeitschrift, die an alle deutschen Kriegsgefangenenlager in den USA ging. Er schrieb dort regelmäßig und war erste Wahl als Herausgeber, als am 15. August 1946 die deutsche Ausgabe von "Der Ruf" erschien. Im Leitartikel schlug er eine Synthese von Sozialismus und Humanismus vor und warnte vor der Gefahr für die Freiheit, die vom orthodoxen marxistischen Determinismus ausgehe. "Der Ruf", unter amerikanischer Lizenz herausgegeben, war dem amerikanischen Liberalismus gegenüber freundlich gesonnen, trat aber beharrlich für das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung ein, was einen Konflikt zwischen den Redakteuren und den amerikanischen Behörden heraufbeschwor. Andersch machte keinen Hehl aus seinem Bekenntnis zum Sozialismus in Westeuropa, was das Misstrauen der Amerikaner wecken musste. Es ist unschwer nachzuvollziehen, warum Andersch und Richter als Herausgeber von "Der Ruf" im April 1947 den Hut nehmen mussten: Das war der Preis für die Verlängerung der Lizenz durch die Amerikaner. Der unglückliche Versuch der beiden Redakteure, ein neues literarisches Magazin, "Der Skorpion", zu gründen, und die Redaktionsversammlung in Bannwaldsee führten zur Geburtsstunde der Gruppe 47.

Richters Laufbahn verlief in mancherlei Hinsicht ähnlich wie die von Andersch: Auch er hatte sich nach 1933 entschieden, in Deutschland zu bleiben, hatte sich mit dem Regime arrangiert und mit der Veröffentlichung einiger Zeitungsartikel und Kurzgeschichten eine bescheidene literarische Karriere begonnen. Auch er suchte am 26. Juli 1938 um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer nach und erhielt am 17. Mai 1939 den Befreiungsschein. Wie Andersch kämpfte er später in Italien, geriet in amerikanische Gefangenschaft und arbeitete beim amerikanischen "Ruf", bevor er nach Deutschland zurückkehrte. Sowohl Andersch als auch Richter hatten ihre Lehrjahre in den literarischen Techniken der "Inneren Emigration" absolviert. Ihre Haltung gegenüber dem schriftstellerischen Schaffen, das aus der "Inneren Emigration" bzw. aus dem Exil kam, ist aufschlussreich. Richters anfängliche Reaktion war gänzlich negativ. In "Literatur im Interregnum", erschienen am 15. März 1947 in "Der Ruf", verurteilte er die Exilliteratur als fern von den echten Bedürfnissen des besiegten Deutschlands und zog in gleicher Weise über die Literatur der "Inneren Emigration" her. "Der Ästhetizismus feierte abseits der blutigen Heerstraße unserer Zeit Triumphe der Einsamkeit (...). Aus dieser Flucht wird es keine Rückkehr geben. Eine Generation hat versagt." Richter plädierte für nackten Realismus, den er in seinen frühen Nachkriegsromanen zu liefern versuchte.

Andersch war vorsichtiger. Sein Essay "Deutsche Literatur in der Entscheidung", der bei der zweiten Tagung der Gruppe 47 in Herrlingen verlesen wurde, sollte einer der wenigen theoretischen Texte bleiben, die von der Gruppe jemals unterstützt wurden. Andersch lieferte darin eine Analyse der literarischen Situation im Jahre 1947, wobei er auch die Zeit des Nationalsozialismus unter die Lupe nahm. Er war sich zwar bewusst, dass der Begriff "Innere Emigration" eine Vielzahl verschiedener Reaktionen auf das Regime umfasst, behielt ihn aber bei und weitete ihn auf die gesamte in Deutschland nach 1933 produzierte Literatur aus. Seine Argumentation lautete: Da alles, was ausdrücklich als Nazi-Schriftstellerei gilt, nicht den Namen Literatur verdiene, könne es bequemerweise ignoriert werden. Daraus folgt, dass jede wirkliche Literatur Nazideutschlands in Opposition zum Regime entstanden sei. Mit diesem Trick rettet er einige ins Zwielicht geratene Personen: Hans Grimm, Erwin Guido Kolbenheyer, Wilhelm Schäfer, Emil Strauß. Diese Schriftsteller hätten, so Andersch, "eine Art subjektiver Ehrlichkeit" zum Ausdruck gebracht und könnten deshalb als Gegner des Regimes angesehen werden.

Eine zweite, ältere Generation wird als einer Tradition der "bürgerlichen Klassik" zugehörig beschrieben: Gerhart Hauptmann, R. A. Schröder, Hans Carossa, Ricarda Huch, Gertrud von Le Fort. Mit Ausnahme Carossas, der "aus sehr noblen Gründen" Kompromisse geschlossen habe, werden sie alle als Regimegegner beschrieben, die wegen ihrer humanistischen Werte in die Isolation gedrängt wurden. Eine dritte und letzte Gruppe wird in der Kategorie "Widerstand und Kalligraphie" zusammengefasst: Stefan Anders, Horst Lange, Hans Leip, Martin Raschke und Eugen Gottlob Winkler. Sie bewahrten ihre Unabhängigkeit von der Reichsschrifttumskammer durch die Form ihrer Arbeit. Andersch beschließt seinen Abschnitt über jene, die in Deutschland geblieben sind, mit einer Studie über Ernst Jünger, dessen Werk als Beweis dafür angeführt wird, dass echte künstlerische Leistung mit Opposition zum Naziregime identisch sei.

Anderschs Haltung gegenüber der Exilliteratur ist, wie jene Richters, eine vorsichtige: Er bewunderte Persönlichkeiten wie Thomas Mann, betonte aber auch, dass sie nur dann die zukünftige Literatur Deutschlands beeinflussen können, wenn sie zurückkehrten. Kritisch beurteilte er die "realistische Tendenzkunst", die den Nationalsozialismus ausdrücklich abgelehnt hatte (Heinrich Mann, Franz Werfel, Arnold Zweig und Alfred Döblin), denn ihr Realismus trage einen didaktischen, propagandistischen Anstrich, ähnlich den so genannten "Satirikern" (Kurt Tucholsky, Alfred Polgar, Carl von Ossietzky, Walter Mehring, Erich Kästner), die in seinen Augen zu sehr Satiriker und nicht genug echte Künstler seien. Auch von den "proletarischen Schriftstellern" (Oskar Maria Graf, Willi Bredel, Anna Seghers, Theodor Plivier) war er nicht überzeugt: Ihre Arbeit werde durch ihre marxistischen Werte eingeschränkt.

Hier deutete sich Anderschs Antipathie gegenüber der Kulturpolitik der SBZ/DDR an. Zweifellos wurde "Deutsche Literatur in der Entscheidung" von den Anwesenden gut aufgenommen. Andersch war es gelungen, fast die gesamte schriftstellerische Tätigkeit in Deutschland während des Dritten Reiches zu rehabilitieren und die Gegensätze zwischen den Autoren einer älteren Generation, die weiterhin in Deutschland gearbeitet hatte, und einer jüngeren Generation, deren Stimme erstmals nach 1945 gehört wurde, zu verwischen. Dies sah er als Möglichkeit, sich als antikommunistisch oder zumindest antistalinistisch zu definieren und sich dennoch gleichzeitig der Kontrolle durch die Amerikaner zu widersetzen und für einen Realismus einzutreten, der unklar genug definiert war, um viele verschiedene Stile zuzulassen. Hierin liegt die logische Erklärung für den Eklektizismus der Gruppe 47, für ihr Bestreben, die Unterschiede zwischen jenen Autoren, die in Nazideutschland publiziert hatten, und jenen, die echte Newcomer der Nachkriegsära waren, herunterzuspielen.

Vermarktete Gegenwart

In den frühen Jahren ging der Erfolg der Gruppe 47 weniger von den Tagungen als vielmehr von der effizienten medialen Vermarktung aus, und hier spielte Andersch eine führende Rolle. Als Radiojournalist warb er in Essays und Radioprogrammen für Autoren der Gruppe 47, wobei er deren Schaffen in einen unverkennbar westlichen Kontext stellte. Bei Radio Frankfurt (dem späteren Hessischen Rundfunk) gab er die Sendereihe "studio frankfurt" heraus, in der Texte von Heinrich Böll, Wolfgang Weyrauch, Wolfgang Hildesheimer, Ingeborg Bachmann und Ilse Schneider-Lengyel (in deren Haus die erste Tagung der Gruppe stattfand) vorgestellt wurden. Die Reihe umfasste auch Schriftsteller außerhalb der Gruppe wie Arno Schmidt, für den Andersch trotz der Vorbehalte Richters eintrat.

Im Juli 1949 stellte er in einem Beitrag mit dem Titel "Fazit eines Experiments neuer Schriftsteller" die Gruppe 47 einem breiteren Publikum vor. Er brachte lange Exzerpte aus Werken von Richter, Wolfdietrich Schnurre und Günter Eich und stellte jüngere Talente lobend heraus: Hans Jürgen Soering, Wolfgang Bächler, Georg Hensel. Doch erneut wurden wichtige Unterschiede verwischt. Die Rolle von Andersch bei der Vermarktung der Aktivitäten der Gruppe und seine Suche nach neuen Talenten war - zumindest in den frühen Jahren - ebenso bedeutsam wie jene Richters. In einem Brief an Franz Josef Schneider vom 22. März 1949 sprach Richter eine Einladung zu der Tagung in Marktbreit aus, schloss jedoch mit den Worten: "Andersch wird sicher inzwischen schon mit Ihnen gesprochen haben. Vielleicht hat er Sie auch schon eingeladen." Natürlich war Andersch, der seiner Arbeit für das Radio enge Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten verdankte, ermächtigt, Einladungen auszusprechen und sogar Einfluss auf Richters Einladungspolitik auszuüben: Paul Celans erste Lesung 1952 in Niendorf war auf negative Kritik gestoßen, nicht zuletzt bei Richter; im März 1954 intervenierte Andersch, um sicherzugehen, dass Celan eine neue Gelegenheit bekam, teilzunehmen, und Richter bekräftigte das Angebot mehrmals in den folgenden Jahren, trotz Celans standhafter Weigerung, es anzunehmen.

Als Friedrich Sieburg im August 1952 die Gruppe angriff, war es Andersch, den Richter um eine Entgegnung bat. Er lieferte eine öffentliche Verteidigung, die von den Teilnehmern der Tagung im Oktober 1952 begeistert aufgenommen wurde, und las mit großem Erfolg aus "Die Kirschen der Freiheit". Andersch war im April 1952 Leiter der Feature-Abteilung des NWDR in Hamburg geworden. Am 1.Januar 1955 wechselte er zum Süddeutschen Rundfunk und gab das Journal "Texte und Zeichen" heraus. Mit seinem Programm "Radio-Essay" übte Andersch enormen Einfluss auf eine neue Generation junger Radiohörer aus, und die Autoren, mit denen ihn die Gruppe 47 zusammenführte, zogen den größten Nutzen daraus: Worauf er im Radio aufmerksam machte, das publizierte er auch in seiner Zeitschrift.

Übertünchte Risse

Das Verhältnis zwischen Andersch und Richter war gekennzeichnet durch ein ständiges Auf und Ab, und ihre Meinungsverschiedenheiten spiegelten Spannungen innerhalb der Gruppe wider. Anlässlich der Bebenhausener Tagung 1955 verlas Andersch wieder einen theoretischen Essay, "Die Blindheit des Kunstwerks", in dem er seine Vorstellung von einer Literatur umriss, in der so viele unterschiedliche Strömungen Platz haben sollten wie in der Gruppe 47. Andersch war seit den späten 1940er Jahren für die Avantgarde eingetreten und bestrebt, mit der falschen Auffassung aufzuräumen, dass experimentelle Literatur notwendigerweise eskapistisch sei: "Die Abstraktion ist die instinktive oder bewusste Reaktion der Kunst auf die Entartung der Idee zur Ideologie." In einem totalitären System (sowohl der Rechten als auch der Linken) hat die abstrakte Kunst die fundamentale Aufgabe, sich Versuchen, die Kunst der Ideologie untertänig zu machen, entgegenzustellen. Andersch schloss mit dem viel zitierten Satz: "Die Literatur ist Arbeit an den Fragen der Epoche, auch wenn sie dabei die Epoche transzendiert." Es gelang ihm, einen neutralen Standpunkt herauszuarbeiten und dabei gleichzeitig eine politisch engagierte Literatur (vorausgesetzt, sie dient keiner Ideologie) und eine Literatur des formellen Experiments (vorausgesetzt, sie verfällt nicht in Formalismus) zu rechtfertigen. Die Gruppe 47 umfasste ein breites Spektrum von Meinungen, und Andersch liefert hier eine Rechtfertigung für ihren Pluralismus.

Ende 1954 begannen sich Spannungen zwischen den beiden wichtigsten Vertretern abzuzeichnen. Andersch wollte der Gruppe ein klares ästhetisches Programm vorgeben, während Richter sich allen Versuchen, die Position der Gruppe theoretisch festzumachen, widersetzte. Richter: "Er ließ durchblicken, dass ich das alles ohne klare Zielsetzung (...) mache, es sei, so erklärte er mir, dringend erforderlich, ein Programm zu machen, ein literarisches natürlich, ein zeitgemäßes, mit Blick nach vorn natürlich, ein avantgardistisches Programm." Andersch hatte gerade damit begonnen, solch eine avantgardistische Zeitschrift herauszugeben, "Texte und Zeichen", und versuchte, diese Zeitschrift mit der Gruppe zu identifizieren. Auf jeden Fall war der Konflikt von kurzer Dauer. Am 11. Februar 1955 kündigte Richter die Berliner Tagung für den Mai an. Außerdem bat er Andersch, "es schon jetzt mitherumzusprechen". Richters Reaktion auf die erste Nummer von "Texte und Zeichen" im selben Brief spielt auf die kurz davor aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten an: "Alles in allem ist sie konservativer, als ich erwartet hatte. Ein Charakterzug, der mich in diesem Zusammenhang freut." Weit davon entfernt, ein radikales Programm für die literarische Avantgarde vorzustellen, enthält die Zeitschrift ein Bekenntnis zum Pluralismus der Gruppe 47.

Richter hatte aber auch kritische Anmerkungen: Er war immer noch unglücklich über Arno Schmidt, gab aber zu, dass ihn die Celan-Gedichte, die Andersch in die Zeitschrift aufgenommen hatte, schließlich doch überzeugt hätten. Anderschs Entscheidung, eine Bibliographie der Gruppe 47 in der Zeitschrift abzudrucken, rief bei Richter eine gemischte Reaktion hervor: Er zeigte sich besorgt, dass die Bibliographie den unüberlegten Leser zu der Annahme verleiten würde, die Gruppe hätte eine feste Mitgliederschaft. Auf der anderen Seite gefiel ihm die Idee, in einer späteren Nummer eine detaillierte Analyse der Gruppe zu bringen (eine Analyse, die nie erschien). Trotzdem war die Verbindung zwischen "Texte und Zeichen" und der Gruppe 47 eng genug, um Verwirrung in Anderschs Leserschaft hervorzurufen. Nach dem Erscheinen der Bibliographie sah sich Andersch gezwungen, den Lesern zu versichern, dass "unsere Zeitschrift von allen literarischen Verbänden und Gruppen unabhängig ist und im Geiste solcher Unabhängigkeit redigiert wird"; er bedauert, dass seine Entscheidung, die Bibliographie abzudrucken, Kritiker zu der irrtümlichen Annahme verleitet habe, "es handele sich bei Texte und Zeichen um ein Organ der Gruppe 47". Dass dieser Widerruf herausgegeben werden musste, belegt die sehr enge Verbindung, die zwischen Anderschs redaktioneller Arbeit und der Gruppe bestand.

Ästhetische und politische Unterschiede zwischen Andersch und Richter ab Mitte der 1950er Jahre spiegelten die tiefer gehenden Spannungen wider, die in der Gruppe insgesamt zutage traten. Der Erfolg von "Sansibar oder der letzte Grund" (1957) ermöglichte es Andersch, in die Schweiz zu ziehen und dort einer literarischen Vollzeitkarriere nachzugehen, während Richter sich zunehmend im "Grünwalder Kreis" engagierte, einer Gruppe, die sich der "demokratischen Brandbekämpfung" verschrieben hatte, indem sie gegen die Remilitarisierung und die Restaurationsbestrebungen der Regierung Adenauer auftrat. Die erste Vollversammlung des Kreises fand im Februar 1956 in Hamburg statt, und in den folgenden Jahren wurde der Gegensatz zwischen Richters politischen Engagement und Anderschs radikalerer Überzeugung, dass die Bundesrepublik ein hoffnungsloser Fall sei, immer schärfer. Die beiden traten erst wieder im Oktober 1962 in engeren Kontakt, als Andersch beschloss, an der Tagung der Gruppe in Berlin teilzunehmen, zum ersten Mal nach vielen Jahren. Die Entscheidung, in Berlin zusammenzutreffen, sollte verhängnisvoll werden. Das Ereignis wurde von der "Spiegel"-Affäre überschattet. Andersch verfasste zusammen mit Hans Magnus Enzensberger und Klaus Röhler das Protestschreiben, das von 49 Autoren der Gruppe unterzeichnet wurde; Grass und Schnurre weigerten sich, den Protest zu unterstützen, was zum Bruch zwischen Andersch und Grass beitrug. Im Rückblick war Richter geneigt, Andersch die Schuld zu geben: "Die Bundesrepublik war für ihn nicht mehr ein Land bürgerlicher Restauration, sondern schon so etwas wie der Vorhof einer neuen faschistischen Zeit."

Seine Sichtweise ließ Andersch auch in Konflikt mit Heinrich Böll geraten. Ein zufälliges Treffen in Rom im Dezember 1962 führte zu einem politischen Streit, den Böll in seinem Essay "Was heute links sein könnte" (1963) öffentlich machte. Böll hatte zweifellos Andersch im Sinn, als er meinte: "Eine Linke, die sich jetzt noch als heimatlos bezeichnet, ist nur noch weinerlich. Das Recht, sich heimatlos zu nennen, hatten die Emigranten, ein teuer erkauftes, bitter erworbenes Recht." Auf eine seltsame Art spiegelten die Reaktionen Anderschs und Richters auf die politische Stimmung in der Bundesrepublik in den frühen 1960er Jahren ihre Einstellung zu ihrer eigenen Vergangenheit wider. Richter hatte seine Entscheidung, nicht zu emigrieren, immer damit gerechtfertigt, nicht vor seiner - wie er es nannte - politischen Verantwortung davongelaufen zu sein. Andersch, der ebenfalls in Deutschland geblieben war, hatte es rückblickend als verpasste Gelegenheit angesehen, nicht emigriert zu sein. Seine verspätete "Emigration" in die Schweiz Ende der 1950er Jahre betrachtete er, vielleicht unbewusst, als Berichtigung der Versäumnisse der Vergangenheit.

Andersch versuchte zwar, die Gruppe für eine Kampagne gegen den seiner Meinung nach immer stärkeren Rechtsruck der Bundesrepublik zu instrumentalisieren, lehnte aber eine ausdrückliche Unterstützung der SPD, wie sie Richter und Grass befürworteten, ab. Aus persönlichen Gründen zog sich Andersch aus der Tagung in Schweden im September 1964 zurück. Richter reagierte verstimmt. Uwe Johnson, Siegfried Lenz, Günter Eich, Ilse Aichinger, Böll, Bachmann, Walser und Hildesheimer nahmen die Einladung ebenfalls nicht an, weil sie in dem repräsentativen Charakter der Sigtuna-Tagung eine latente Billigung der Kulturpolitik der Bundesrepublik sahen. Wolfgang Hildesheimer zum Beispiel warf Richter vor: "In meinen Augen begehst Du einen Fehler, wenn Du Deinen Ehrgeiz darin siehst, Deine Gruppe über das internationale Parkett zu steuern (...). Ich sehe in der neuen Gruppe 47 bedenkliche Zeichen einer Eingliederung". Hildesheimer ließ Andersch eine Kopie seines Briefes zukommen, und dieser teilte seine Bedenken: "ich teile wolfgangs ansicht, dass wir von dem system, das heute in deutschland herrscht, durch politische taktik nichts zu gewinnen haben." Richter vermutete eine Verschwörung, und gewiss spiegelte die Ansicht von Hildesheimer und Andersch die Haltung einer ansehnlichen Minderheit innerhalb der Gruppe wider.

Rekapitulation des Erreichten

Der Wiederaufbau der deutschen Literatur, mit dem Richter und Andersch 1947 begonnen hatten, trug im Erfolg der Gruppe 47 Früchte. Anderschs redaktionelle Tätigkeit für "Texte und Zeichen" von 1955 bis 1958 veranschaulicht die der Gruppe innewohnenden kulturellen Werte besser als Richters Erklärungen mitsamt seiner offenen Aversion gegenüber allem Theoretischen. Aber wenn Anderschs Zeitschrift auch den Höhepunkt der frühen Phase des Erfolgs der Gruppe verkörperte, so trug sie auch schon den Keim der Zerstörung der Gruppe in sich. "Texte und Zeichen" war der Inbegriff der avantgardistischen, oppositionellen Literatur der Ära Adenauer. Dennoch war die Opposition zum Restaurationskonservativismus nur eine Facette dessen, was Andersch bewirkte. Indem er davon ausging, dass der avantgardistischen Kunst die Ablehnung sowohl des nationalsozialistischen Erbes als auch der doktrinären Kulturpolitik der DDR zugrunde lag, schuf Andersch, vielleicht unwissentlich, ein kulturelles Klima, das spezifisch westdeutsch war. Andersch stand den konservativen Werten des Westens kritisch gegenüber, tat aber andererseits vieles, was aus der DDR kam, als unbedeutend ab. Mit seinem Grundsatz, keiner Gruppe angehören zu wollen und trotzdem westlich orientiert zu sein, formte er den liberalen, modernistischen, eklektischen Geschmack der Bundesrepublik wesentlich mit, für den die Gruppe beispielhaft steht. In seinen Radiosendungen machte er die Westdeutschen mit Eugène Ionesco und Samuel Beckett, William Faulkner und Thornton Wilder bekannt, und in "Texte und Zeichen" veröffentlichte er - in einigen Fällen erstmals in Deutschland - Werke von Beckett, Jorge Luis Borges, René Char, Dylan Thomas, Pablo Neruda, Elio Vittorini, Cesare Pavese und Roland Barthes.

Während in der DDR der Sozialistische Realismus herrschte, schufen Andersch und Richter eine westliche Alternative, die modernistisch und dennoch pluralistisch und undogmatisch war. Sie war weit genug gefasst, um die konservativen Autoren des Exils und der "Inneren Emigration" (Thomas Mann, aber auch Ernst Jünger und Gottfried Benn), ebenso die eindeutiger experimentellen Schriftsteller (Helmut Heißenbüttel, Max Bense, Arno Schmidt) zu vereinen. Sie brachte erfolgreich die Gegensätze zwischen den in Deutschland Gebliebenen, den Emigranten, die später in den Westen zurückgekehrt waren, und denen, die in der Gruppe 47 erst ihre schriftstellerische Laufbahn begannen, zum Verschwinden. Sie schuf eine Art "westliches Erbe", das nur jene ausschloss, die in der DDR offiziell sanktioniert waren. Es klingt vielleicht boshaft, sie als eine NATO-Theorie für die Literatur zu bezeichnen, doch lieferte sie, im Hinblick auf ihre Ablehnung der "Weststaatlösung" Adenauers, paradoxerweise eine Art literarisches Pendant zu einer solchen Politik, wobei sie ihre Vorbilder in Frankreich, den USA und Italien suchte und die Ereignisse hinter dem Eisernen Vorhang großenteils ignorierte.

Doch Anderschs Vorliebe für die Avantgarde, für das literarische Experiment, zusammen mit seinem Zynismus gegenüber den politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik trugen den Keim der Zerstörung der Gruppe in sich. Während Richter weiterhin eine abgeschwächte Form des literarischen Realismus pflegte und an der Meinung festhielt, dass das politische System der Bundesrepublik von innen erneuert und reformiert werden könnte, wurde Andersch zum Repräsentanten jener in der Gruppe, die eine andere Überzeugung hatten. Diese Spannungen bedrohten Ende der 1960er Jahre den Zusammenhalt der Gruppe.

Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass, wenn man nach 60 Jahren zurückblickt, die sich ergänzenden Bemühungen von Hans Werner Richter und Alfred Andersch um den Wiederaufbau, besser gesagt, die Erfindung einer spezifisch westdeutschen Literatur in Anbetracht der problematischen Anfänge hoch eingeschätzt werden müssen.

Übersetzung aus dem Englischen: Doris Tempfer-Naar, Mödling/Österreich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans Dieter Zimmermann, Gespräch mit Hans Werner Richter, in: Neue Rundschau, 96 (1985), S. 125 - 126.

  2. Hans Werner Richter, Im Etablissement der Schmetterlinge. Einundzwanzig Portraits aus der Gruppe 47, München 1986, S. 44.

  3. Vgl. Rhys W. Williams, Survival without Compromise? Reconfiguring the Past in the Works of Hans Werner Richter and Alfred Andersch, in: Neil H. Donahue/Doris Kirchner (Eds.), Flights of Fantasy. New Perspectives on Inner Emigration in German Literature 1933 - 1945, New York-Oxford 2003, S. 211 - 222.

  4. Vgl. Alfred Andersch, "...einmal wirklich leben". Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943 bis 1975, hrsg. von Winfried Stephan, Zürich 1986, S. 37 - 38.

  5. Andersch brach sein Schweigen erst in Der Seesack, in: Nicolas Born/Jürgen Manthey (Hrsg.), Literaturmagazin, 7 (1977), S. 128 - 129.

  6. Vgl. für eine detaillierte Beschreibung dieser Ereignisse Jérôme Vaillant, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945 - 1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung, München-New York-Paris 1978, S. 44 - 47. Anm. der Red.: vgl. auch den Beitrag von Alexander Gallus in diesem Heft.

  7. Gerd Haffmans (Hrsg.), Das Alfred Andersch Lesebuch, Zürich 1979, S. 116.

  8. Interessanterweise wählte Andersch für die Radiosendung einen höchst problematischen und programmatischen Abschnitt aus dem 14. Kapitel von Richters Roman "Die Geschlagenen", nämlich das Gespräch, in dem sich ein amerikanischer Nachrichtenoffizier von dem Gefangenen Gühler berichten lässt. Auf die Frage des Offiziers: "Warum sind Sie dann nicht emigriert?" antwortet Gühler: "Das wäre feige gewesen" (München 1949, S. 221).

  9. Sabine Cofalla (Hrsg.), Hans Werner Richter: Briefe, München 1997, S. 87.

  10. Die Beziehung der Gruppe zu Celan wird erläutert in Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage Wie antisemitisch war die Gruppe 47?, Berlin-Wien 2003.

  11. Alfred Andersch, Die Blindheit des Kunstwerks, Zürich 1979, S. 44.

  12. Vgl. ebd., S. 50 - 51.

  13. Vgl. H. W. Richter (Anm. 2), S. 36.

  14. Vgl. S. Cofalla (Anm. 9), S. 196.

  15. Vgl. ebd., S, 197.

  16. Alfred Andersch, Texte und Zeichen. Eine literarische Zeitschrift, 1 (1955), Frankfurt/M. 1971, S. 140 - 143 und S. 558.

  17. Vgl. H. W. Richter (Anm. 2), S. 42.

  18. Bernd Balzer (Hrsg.), Heinrich Böll, Werke 7. Essayistische Schriften und Reden, I, 1952 - 1963, Köln 1977, S. 532.

  19. Wolfgang Hildesheimer, Briefe, Frankfurt/M. 1999, S. 535.

  20. Ebd., S. 537.

Dr. phil., geb. 1946; Professor für Neuere Deutsche Literatur, Department of German, Swansea University, Singleton Park, Swansea SA2 8PP, Wales/ United Kingdom.
E-Mail: E-Mail Link: r.w.williams@swan.ac.uk