Einleitung
Ein drei Tage alter Embryo ist kleiner als der Punkt am Ende dieses Satzes. Dennoch kann er mittels bildgebender Diagnostik sichtbar gemacht werden. Moderne Medizintechnik eröffnet dem Betrachter faszinierende Einblicke in die Entfaltung des menschlichen Lebens in seinen Anfängen und nach planvollem Muster. Doch die technisch gewachsene Transparenz des Körpers und der sich darin abspielenden Prozesse gibt nicht nur Anlass zu Beifall spendender Bewunderung. Sie geht Hand in Hand mit einer bedrohlichen Verfügbarkeit des Menschen, die sich je nach Tagesaktualität der Feuilletons in Metaphern wie Schöpfungseingriff, Überschreitung des Rubikons oder prometheische Hybris niederschlägt und die ihren Schatten auf die alte Frage wirft, wann der Mensch beginnt, ein Mensch zu sein.
Hierzulande verlaufen die bioethischen Konfliktlinien im Kontext von hellenistisch-christlich geprägten Wertvorstellungen. Biomedizinische Methoden wie künstliche Befruchtung, Klontechnik und Stammzellforschung rühren an Grenzziehungen des menschlichen Lebens und erschüttern traditionelle Wertübereinkünfte, in deren Zentrum die Idee der Menschenwürde steht. Der Rekurs auf diesen Argumentationsmittelpunkt bringt letztlich auch das nicht-religiöse Selbstverständnis an die kulturhistorisch gewachsenen Grenzen seines säkularen Selbst. Doch gilt es, den Blick auch über den eigenen kulturellen Tellerrand hinaus zu werfen und nach bioethischen Auseinandersetzungen außerhalb des christlichen oder christlich geprägten säkularen Selbstverständnisses zu fragen. Denn die rapide Verbreitung biomedizinischer Technologien rund um den Globus hat bioethische Diskurse in allen Kulturkreisen in Gang gebracht und Problemfelder aufgeworfen, die das menschliche Dasein ganz existenziell und gewissermaßen "vorkulturell" berühren.
Auch in muslimischen Gesellschaften und Staaten werden unter den Rechtsgelehrten und Theologen kontroverse Diskussionen über die Zulässigkeit von Stammzellforschung und Gentechnologie geführt.
Von Bedeutung war in diesem Zusammenhang der Vorschlag Irans bei Verhandlungen der UNO über ein weltweites Verbot der Klontechnik im Herbst 2003, die Entscheidung zu vertagen, wobei man sich auf das Rechtsgutachten eines ägyptischen Mufti stützte, der sich permissiv zur Technik des therapeutischen Klonens geäußert hatte. Inwieweit sich charakteristische Konfliktlinien bei islamischen Bioethikdiskussionen zum Lebensbeginn abzeichnen, ist also von globaler Tragweite.
Die Bedeutung der Scharia
Eine Schlüsselfunktion bei der Frage nach spezifisch islamischen Deutungsmustern zum Beginn menschlichen Lebens kommt zunächst dem islamischen Rechtsverständnis und den Möglichkeiten rechtlich-ethischer Entscheidungsfindung zu. Für einen gläubigen Muslim ist die Scharia der Ort zur Bestimmung von religiös-ethischen Normen des rechten Verhaltens. Der weithin als "islamisches Recht" übersetzte Begriff bedeutet im eigentlichen Wortsinn "Weg", im Sinne des Heilsweges zu Gott. Er geht in seiner Bedeutung weit über die juristische Vorstellung von Recht oder Gesetz hinaus: Die Scharia verkörpert nicht das Produkt eines fixierten Regelwerkes, sie steht vielmehr für den dorthin führenden Prozess. Zugleich ist ihre Bedeutung aber zu umfassend, um auf die Kategorie Ethik begrenzt zu werden, denn wie weit man den Gegenstand der Ethik auch immer auffassen mag - er erstreckt sich nach europäisch-abendländischem Verständnis sicher nicht auf Fragen nach der richtigen Zeit für ein Gebet oder zu den Regeln der Pilgerfahrt nach Mekka.
Grundlage und Quelle der Rechtsprechung im sunnitischen Islam bilden zwei Textquellen: Der Koran - der als das Wort Gottes die wichtigste Grundlage bildet - und die Sunna ("Gewohnheit") mit der überlieferten Lebenspraxis des Propheten. Der Korantext enthält jedoch nur einen geringen Anteil an Ge- und Verboten, die sich ausdrücklich in rechtliche Forderungen umwandeln lassen. Aus diesem Grund und auch, um Veränderungen im Wandel der Zeit Rechnung zu tragen, bildeten die Fuqaha
Um die überzeitlichen Normen in konkreten Situationen anwenden zu können, wurde das islamische Recht stets fallorientiert entwickelt. Den Hintergrund dafür bildet ein Spannungsfeld aus der sich kontinuierlich verändernden Realität gegenüber einem überzeitlichen, praktische Umsetzung fordernden Gotteswillen. An der Rechtsentwicklung des sunnitischen Islam war allerdings keine zentralisierte Institution beteiligt. Der sunnitische Islam kennt weder eine mit der päpstlichen Kurie vergleichbare Lehrautorität noch einen Klerus. Die religiöse Autorität liegt in den Händen von Schriftgelehrten, die zu einer der vier offiziell anerkannten Rechtsschulen des sunnitischen Islam - den Hanafiten, Malikiten, Schafiiten oder Hanbaliten - gehören. Bei der rechtlichen Handhabe von Problemen, die nicht in Koran oder Sunna geregelt werden, können diese Schulen, nicht nur untereinander, sondern auch innerhalb, voneinander abweichende Rechtsauffassungen vertreten. Wenn Repräsentanten des Gelehrtenstandes daher ihrem Anspruch nach im Namen des Islam auftreten, können ihre Äußerungen nur sehr bedingt im Sinne eines paradigmatischen "Der Islam sagt" aufgefasst werden. Die sunnitischem Rechtsdenken immanente Meinungsvielfalt ist eine Folge der kasuistischen Natur der Scharia, die auch innerhalb der Zunft der Rechtsgelehrten problematisiert wird. Der außen stehende Beobachter jedenfalls sieht sich einer enormen Vielfalt an verschiedenen Meinungen gegenüber. Bedenkt man dazu die sprachliche Barriere, schmilzt von der Spitze des Eisberges dessen, was überhaupt interkulturell transferiert oder vermittelt werden kann, ein weiterer Teil dahin.
"Kulturübergreifende Bioethik"
Dennoch gebührt ein bemerkenswertes Verdienst um die Erschließung außereuropäischer Diskussionen zum Thema Bioethik dem von 2003 bis 2006 an der Ruhr-Universität Bochum tätigen Forschungsverbund "Kulturübergreifende Bioethik".
Diese Institutionen wurden in den 1970er/1980er Jahren gegründet, um sich im Lichte der Scharia mit Neuerungen der Moderne auseinanderzusetzen und das islamische Recht in Anbetracht historischer Veränderungen weiterzuentwickeln. Sie haben zwar keine direkte rechtliche Handhabe auf nationaler Ebene, dennoch kommt ihnen internationale Ausstrahlung zu. Ihre Verlautbarungen sind sozusagen als kollektiv autorisierte Fatwas zu werten. Die hier von hochrangigen islamischen Rechtsgelehrten geführten Diskussionen haben daher eine gewisse Repräsentativität, auf die man sich beziehen kann, sofern deutlich bleibt, dass eine Gültigkeit der Beschlüsse für die Gesamtheit der Muslime letztlich nicht bestehen kann.
Umgang mit ungeborenem Leben
Eine Vielzahl bioethischer Themenkreise nehmen ihren Ausgang von der Frage nach der Schutzwürdigkeit von ungeborenemLeben. Wann beginnt menschliches Leben? Von den verschiedenen Stellen im Koran zur Entstehung menschlichen Lebens bildet Sure 23,12 - 14 bis in heutige Bioethikdebatten hinein den zentralen Bezugspunkt in der Auslegungsgeschichte des sunnitischen Islam: "Wir haben doch den Menschern aus einer Portion Lehm geschaffen. Hierauf machten wir ihn zu einem Tropfen (a) in einem festen Behälter. Hierauf schufen wir den Tropfen zu einem Blutklumpen (b); diesen zu einem Fleischklumpen (c) und diesen zu Knochen. Und wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Hierauf ließen wir ihn als neues Geschöpf entstehen."
Ethisch-rechtliche Meinungsvielfalt
Es gibt im islamischen Recht also keinen abstrakten Status des "Embryos an sich". Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Diskussionen der klassischen Rechtsprechung der Vormoderne nicht bei grundsätzlichen moralischen Fragen einsetzten, sondern jeweils bei der praktischen Handhabe von strafrechtlichen Fällen wie etwa Fehlgeburten infolge von Unfällen oder Gewaltanwendung. Ein Charakteristikum der Scharia ist deren kasuistische Funktionsweise. Es bildete sich also kein normatives Dogma für weitergehende Problemkreise etwa zur Gentechnik oder zum Umgang mit Stammzellen aus.
In den 1980er Jahren rückte die Frage der Beseelung bei Diskussionen über Abtreibung und den generellen Umgang mit Embryonen zunehmend ins Zentrum.
Schutz von Familie und Abstammung
Das Thema künstliche Befruchtung ist in vielen islamischen Ländern von besonderer Brisanz, da die kulturelle Wertschätzung von Eheschließung und Familiengründung großen sozialen Druck ausüben kann. Der soziale Status muslimischer Frauen, ihre Würde wie auch ihr Selbstwertgefühl stehen in engem Bezug zu ihrer Fortpflanzungsfähigkeit. Ebenso sind das Familienideal und die Vaterschaft eng mit dem Wert der Männlichkeit verknüpft. Im Fall von Unfruchtbarkeit - die weltweit etwa bei zehn Prozent der Paare vorkommt - suchen die Betroffenen häufig unter großem finanziellen Aufwand medizinische Hilfe. Dies schlägt sich nieder in einem Boom reproduktionsmedizinischer Unternehmen. Allein in Ägypten gibt es inzwischen mehr als vierzig Zentren, die sichauf Reproduktionsmedizin spezialisiert haben. In fast jedem arabischen Land des Nahen Ostens wird mittlerweile In-Vitro-Fertilisationstechnologie (IVF) angeboten. Eine private IVF-Klinik in Amman, die Geschlechtsselektion an befruchteten Eizellen durchführt, zieht nicht nur zahlreiche Paare aus dem Nahen Osten, sondern auch aus Europa an. Vor dem Hintergrund männlich geprägter Gesellschaftsstrukturen überwiegt hier häufig der Wunsch nach der Geburt eines Jungen. Während die Praxis geschlechtsselektiver Abtreibungen von sunnitischen Rechtsgelehrten einhellig abgelehnt wird, sind die Meinungen bezüglich der Beeinflussung des Geschlechts durch das IVF-Verfahren geteilt.
In ihrer Analyse sunnitischer Fatwas zur Reagenzglas-Befruchtung außerhalb der Gebärmutter stellt die Islamwissenschaftlerin Birgit Krawietz heraus, dass sich ein Verbot seitens der Rechtsgelehrten in diesem Zusammenhang in erster Linie gegen eine Vermischung des Erbgutes von Spendern richtet, die nicht durch eine rechtsgültige Ehe miteinander verbunden sind.
Kritikpunkt soziale Folgen
Bestandteil der meisten Fatwas zur IVF-Methode sind Vorsichtsappelle und genaue Voraussetzungen zur Anwendung, die die Unbedenklichkeit des Eingriffes bescheinigen sollen. Der Anwendung der IVF-Methode im ehelichen Kontext scheint also nichts Prinzipielles entgegenzustehen. Dennoch sind die Voraussetzungen und Folgen des Verfahrens umstritten. Dabei beziehen sich die religionsrechtlichen Einwände der unterschiedlichen Gelehrten vor allem auf einzelne mit der IVF-Methode in Verbindung stehende Praktiken und Begleitumstände wie etwa die Sorge um die Bewahrung sexueller Sittsamkeit.
In denselben Kontext gehört die Ablehnung gegenüber der Stimulation des männlichen Sexualtriebes mit dem Zweck der Gewinnung von Samenflüssigkeit. Große Skepsis richtet sich auch gegen den möglichen Missbrauch von Antibabypillen als potenzieller Quelle von sexuell unsittlichem Verhalten. Eine ausführliche Erörterung der medizinischen Problematik des IVF-Verfahrens findet sich in den islamrechtlichen Stellungnahmen jedoch nicht - zum Beispiel mit Blick auf die Steigerung der Erfolgschancen durch die Implantation mehrerer befruchteter Eizellen, was für die Frau die Risiken einer multiplen Schwangerschaft birgt. Eine offene Frage ist außerdem, welcher Umgang mit den überschüssigen, nicht implantierten befruchteten und dann eingefrorenen Eizellen angemessen ist. In den meisten islamischen Ländern ist dies gesetzlich noch nicht geregelt.
Reproduktives und therapeutisches Klonen
Der arabische Begriff zur Bezeichnung der Klonung
Wie bei den Diskussionen zu pränataler Diagnostik und In-Vitro-Fertilisation findet sich in der heutigen Auseinandersetzung mit Klontechnik für jedes permissive Argument aber auch ein entsprechendes Gegenargument.
Ein halbes Jahr nach der Geburt des inzwischen verstorbenen schottischen Klonschafes Dolly gab die Fiqh-Academy der Organisation of Islamic Conference (OIC) 1997 bekannt, dass reproduktives Klonen zu verbieten sei, da es die verwandtschaftlichen Beziehungen auflöse, wohingegen therapeutisches Klonen zu erlauben sei, da es der Menschheit potenziell nütze. Dieser Argumentation folgte auch der Rechtsgelehrte Ahmad at-Tayyib in einem Gutachten für das ägyptische Justizministerium, das wiederum Grundlage für den Vorschlag Irans auf der UNO-Versammlung 2003 gewesen war, die Verhandlungen um ein weltweites Verbot der Klontechnik beim Menschen zu verschieben.
Der Begriff "therapeutisch" beinhaltet vor diesem Hintergrund ein höchst kontroverses Diskussionspotenzial, da er einen fundamentalen Unterschied zum "reproduktiven Klonen" suggeriert. Auch im Blick auf den arabischen Begriff für "therapeutisches Klonen", istinsah al-a'da, der wörtlich "das Kopieren von Organen" bedeutet, existiert diese Problematik und trägt vermutlich ihren Teil zu der häufig permissiven Haltung sunnitischer Rechtsgelehrter und ihrem Fokus auf den gesellschaftlichen Nutzen bei.
In den vergangenen Jahren allerdings mehren sich die kritischen Stimmen hinsichtlich der Zerstörung von Embryonen bei der therapeutischen Klontechnik auch in der islamischen Welt. Die klare Unterscheidung zwischen "pro therapeutischem" und "contra reproduktivem" Klonen wird zunehmend hinterfragt, da dem Embryo in einigen Rechtsgutachten bereits ab dem Zeitpunkt der Befruchtung Schutzwürdigkeit zuerkannt wird.
An Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeiten stehen die islamisch geführten Debatten der Heterogenität westlicher Diskussionen offensichtlich in keiner Weise nach. Anders als in den westlichen Debatten - und dies ist ein wesentlicher Unterschied - spielt im islamischen Diskurs das Argument der Menschenwürde nahezu keine Rolle, was nicht heißt, dass hier prinzipiell keine Vorstellung von der Idee der Menschenwürde oder den Menschenrechten existiert. Es wird hier weniger vom Menschenbild ausgehend problematisiert als vielmehr in Bezug auf die sozialen Risiken. Die Argumentationen werden stärker von bestehenden rechtlich-sozialen Normen abgeleitet, weniger von einer Anthropologie ausgehend, wie etwa in christlich dominierten Diskussionen.
Modernisierungsdiskurs und kulturelle Identität
Ebenso wie die Herausbildung der Islamic Fiqh Akademien oder der Islamic Organisation of Medical Sciences im Zeichen des Modernisierungsdiskurses steht, der die arabische Welt in vielen Bereichen konfrontativ erfasst hat, spiegeln häufig auch die Argumente in bioethischen Diskussionen eine Reaktion auf den als bedrohlich empfundenen Verwestlichungsdiskurs wider. Unmittelbar deutlich wird dies an einem theologischen Verfahren, das unter dem Begriff tafsir ilmi, wörtlich "wissenschaftliche Deutung", bekannt ist und darauf zielt, alle Bereiche menschlichen Wissens im Koran nachzuweisen. Eine Vielzahl von Publikationen zieht Parallelen zwischen Koranversen und modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen, um den Koran als göttlichen Offenbarungstext theologisch zu bestätigen.
Einerseits bezeugt die islamische Wissenschaftsgeschichte selbst eine positive, aufgeschlossene Einstellung gegenüber Natur- und Geisteswissenschaften. So war die Rezeption der griechischen Wissenschaftstradition in den ersten Jahrhunderten des Islam Grundlage für die Wiederbelebung der Medizingeschichte des europäischen Mittelalters. Prominente Repräsentanten der Medizin und Naturphilosophie des Mittelalters wie Ibn Sina (Avicenna) oder Ibn Ruschd (Averroes) stützten sich vor allem auf die Kenntnisse von Hippokrates, Aristoteles und Galen. Andererseits aber kollidieren islamische Glaubensüberzeugungen seit der Moderne zunehmend mit dem säkularen Charakter moderner Wissenschaften. Ilhan Ilkilic sieht in dieser Entwicklung zwei grundlegend gegensätzliche Tendenzen am Werk.
Haltungen dieser Art berühren das Phänomen des Kulturalismus, das in bioethischen Diskussionen besonders häufig anzutreffen ist. In Form der Berufung auf eine autoritativ verstandene kulturelle Identität, die zugleich doch eine schwer zu fassende Größe sein kann, werden auf diese Weise befürwortende oder ablehnende Argumentationen untermauert. In vielen Fällen operieren Kultur-Argumente weniger in begrifflicher Klarheit als intuitiv oder sind "kulturspezifische" Argumente weder exklusiv repräsentativ für einen bestimmten Kulturkreis noch für eine jahrhundertlange Kontinuität der Anschauung. Eich/Hoffmann geben in diesem Zusammenhang zu bedenken, ob nicht gerade auf dem bioethischen Feld sogenannte Kulturdiskurse häufig Stellvertreterdiskurse für eine offene Auseinandersetzung von Wertungsgegensätzen sind.
Chancen weltweiter Regelung
Der Wertepluralismus in den Bioethikdebatten sunnitischer Rechtsgelehrter und die Verlautbarungen repräsentativer islamischer Organisationen widersprechen dem Bild eines monolithischen Islam. Für die Ausbildung von ethischen Normen und Richtlinien als Grundlage von Reglements im Zuge politischer Willensbildung bedeutet dies einen großen Diskussionsbedarf: In Fragen der Biowissenschaft bilden die meisten arabischen Länder eine rechtliche Grauzone. Der enorme IVF-Boom im Nahen Osten hat beispielsweise dazu geführt, dass in der gesamten Region eine immense Zahl Embryos tiefgekühlt gelagert wird. Während in Europa und den USA Gesetzesbestimmungen mit Abschreckung durch hohe Strafen genau festlegen, wie mit gefrorenen Embryonen umzugehen ist, gibt es in den arabischen Ländern keine staatlichen Regulierungen. Der Bereich reproduktiver Medizin wird in den meisten arabischen Ländern lediglich von ministerialen Direktiven gelenkt, ohne Kontrollinstrumente und Strafverfahren. Arabische Mediziner weisen in diesem Zusammenhang auf die Risiken hin, zu einer Art Freiluftlabor für internationale Konzerne zu werden.
Auch dieser Aspekt hebt die Notwendigkeit hervor, über die christlich-säkulare Perspektive hinauszugehen und sich mit den ethischen und rechtlichen Implikationen außereuropäischer Religionen und Weltanschauungen auseinanderzusetzen. Diese bilden für rechtliche Entscheidungsfindungen und Gesetzgebungen auf nationaler Ebene ein prägendes Fundament. Die existenzielle Relevanz, die Risikoträchtigkeit und das enorme wirtschaftliche Potenzial der Biowissenschaften, von denen hier nur ein geringer Anteil problematisiert wurde, bedeuten eine große weltpolitische Herausforderung. Das übergeordnete Ziel wird letztlich - wenngleich es sich zum jetzigen Zeitpunkt noch um ferne Zukunftsmusik handelt - ein globaler Konsens in bioethischen Fragen sein.