Welche Art von physischer oder psychischer Gewalt man auch betrachtet, der Kriegswinter 1944/45 reiht sich in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in die Serie blutiger "Höhepunkte" ein. Alles spricht dafür, die damalige Zeit als eine Abfolge permanenter Ausnahmezustände zu begreifen, die bereits in den 1930er Jahren begannen und erst Ende der 1940er Jahre ein Ende fanden.
Die seit September 1944 von den Alliierten besetzten Gebiete standen unter Kriegsrecht, de facto eine Form souveräner Diktatur der Militärgouverneure mit supreme authority, was am 5. Juni 1945 in der Berliner Deklaration nochmals bestätigt wurde.
Die sich frühzeitig abzeichnenden – sehr ungleichen – Wege der Normalisierungen der Verhältnisse in den westlichen Zonen und in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) sind oft beschrieben worden, weniger dagegen, dass diese Normalisierungen unter den Vorzeichen eines vorherrschenden Ausnahmezustands erfolgten. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang besonders jene spezifische Gewaltkonstellation während des Übergangs von Herrschaft, der sich vom Winter 1944/45 zunächst punktuell, dann aber in ganz Deutschland bis in den Sommer hinzog. Es handelte sich um einen Ausnahmezustand einer "Stunde Null" (allemal in der Geschichte deutscher Staatlichkeit), als sich Herrschafts- und Machtverhältnisse verkehrten, vielfach alte Rechnungen beglichen wurden, aber auch Souveränität neu verhandelt und begründet wurde. Das gilt nicht nur für Deutschland. In anderen Ländern mündete diese Konstellation des Jahres 1945 in blutige Bürgerkriege und Konflikte.
Ausnahmezustand der (Selbst-)Vernichtung
Der NS-Staat und die Diktatur Adolf Hitlers waren im erklärten Ausnahmezustand der Machtübernahme des Jahres 1933 begründet.
Im Winter 1944/45 kehrte der Krieg dahin zurück, wo er 1939 in Europa begonnen hatte und wo er im zerstörten Berlin schließlich auch enden sollte.
Im Osten des Deutschen Reiches bot sich ein Bild von Chaos und Auflösung, ähnlich wie in vielen deutschen Großstädten, deren Bevölkerung von den intensivierten Bombenangriffen betroffen war. Nach den letzten Mordaktionen in aufgelösten Konzentrationslagern und Außenlagern bewegte sich ein Strom von als arbeitsfähig eingestuften KZ-Insassen in "Todesmärschen" durch das Land, sichtbar auch für große Teile der deutschen Bevölkerung, noch bevor sie durch Bild- und Filmdokumente der Besatzungsmächte mit dem Genozid konfrontiert wurde. Der Weg von Millionen Flüchtlingen kreuzte sich in diesem ungewöhnlich kalten Winter mit dem Rückzug der Wehrmacht sowie den Vorstößen der Roten Armee. Gerüchte und Nachrichten über die exzessive Gewalt russischer Soldaten auch gegen die Zivilbevölkerung, darunter Massenvergewaltigungen, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und waren Wasser auf die Mühlen der Goebbels’schen Durchhaltepropaganda. Auf dem Weg Richtung Westen kamen mindestens eine halbe Million Flüchtlinge zu Tode.
Sich selbst zu helfen, das eigene nackte Leben und das der nächsten Angehörigen zu retten, nicht in den Strudel der Vernichtung gezogen zu werden – Sorgen wie diese dominierten das prekäre Leben im Ausnahmezustand. Damit gingen zugleich – scheinbar paradoxe – Bemühungen um "Normalität" einher, wo der Alltag noch durch Arbeit und eingespielte Routine bestimmt wurde. Zu sehen ist das bei den letzten kriegswirtschaftlichen Anstrengungen in Form der "Notrüstung", dann aber auch bei der Kontrolle der Millionenzahl ausländischer Zwangsarbeiter im reichsweiten Lagersystem bis in die letzten Kriegswochen hinein; bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln oder wenn es darum ging, Feuer zu löschen, Kranke zu versorgen oder letzte Kriegstrauungen abzuhalten; das galt selbst noch für den militärischen Betrieb. Diese Normalität im allgemeinen Ausnahmezustand trug dazu bei, den Krieg zu verlängern, ermöglichte dann aber auch, wie sich zeigen sollte, unter den widrigen Bedingungen der Nachkriegszeit den Wiederaufbau.
Die NS-Führung, gefolgt von Teilen des Militärs und der Bürokratie, forcierte den Ausnahmezustand des totalen Krieges, der in den letzten Kriegsmonaten in einen Ausnahmezustand der Selbstvernichtung mündete. Wie vieles in der Geschichte des Nationalsozialismus ist dieser Vorgang ziemlich einzigartig.
Mit der "belagerten Festung" tauchte in diesem Zusammenhang vermehrt das Urbild des militärischen wie rechtlichen Ausnahmezustands auf: als Rechtfertigung für eine umfassende, auch gewaltsame Verfügung über Eigentum, Leben und Grundrechte, einschließlich der Mobilisierung von Jugendlichen, Frauen und Alten für den Volkssturm und Schanzarbeiten sowie der Unterstellung der Bevölkerung und der Wirtschaft unter Militärrecht.
In vielen deutschen Städten stellte sich noch kurz vor Kriegsende diese letzte – existenzielle – Frage einer möglichen (für die Zivilisten in der Regel unfreiwilligen) Selbstaufopferung. Terrordrohungen des militärischen Ausnahmezustands standen im Raum: Eilends ins Leben gerufene Sonder- und Standgerichte des Militärs wie der Partei verhängten und exekutierten selbst bei geringen Vergehen Todesstrafen, denen in den letzten Kriegsmonaten Hunderte Menschen zum Opfer fielen. Weitgehend im Dunkeln bleibt dabei das Ausmaß individueller und kollektiver Mordaktionen fanatisierter Kämpfer des Endkampfes, die sich gleichermaßen gegen Fremdarbeiter, KZ-Insassen, deutsche Zivilisten und Soldaten richteten. "An den Bäumen im Reichsgebiet hingen Zivilisten und Soldaten, Fremde wie Einheimische", schrieb der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller.
Die im Grunde folgerichtige Konsequenz dieses Ausnahmezustands der Selbstvernichtung war zweifellos der Selbstmord zahlreicher großer und kleiner NS-Funktionäre: "Die Nachfrage nach Gift, nach einer Pistole oder sonstigen Mitteln, dem Leben ein Ende zu bereiten, ist überall groß. Selbstmorde aus echter Verzweiflung über die mit Sicherheit zu erwartende Katastrophe sind an der Tagesordnung", berichtete der Sicherheitsdienst der SS in einem der letzten Stimmungsberichte aus dem Reich.
Ausnahmezustand der "Stunde Null"
Für Soldaten, Zivilisten, Zwangsarbeiter und KZ-Insassen war 1944/45 der Krieg zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu Ende, und fast immer waren auch damit noch Gefahren verbunden. Das galt, wenn sich Soldaten ergaben, besonders aber für den Moment, als sich die bisherigen Herrschaftsträger – der Partei- und Sicherheitsapparat, das Militär, die Polizeiorgane, vielfach aber auch Beamte und hohe kirchliche Würdenträger – fluchtartig zurückzogen, sowie für die kritische Übergangszeit, in der sich die alliierten Truppen als neue Ordnungsmacht etablierten.
Dieser Vorgang wiederholte sich in der einen oder anderen Weise überall, nicht nur im bis dahin besetzten Europa, sondern auch in den Kolonien der europäischen Mächte.
So problematisch der Begriff der "Stunde Null" in seiner gängigen, oft kritisierten Leseweise als Neuanfang ohne Voraussetzungen ist,
Liminalität bezeichnet hierbei auch einen Schwellenzustand, in dem sich der Status sowie die Macht- und Gewaltverhältnisse von Opfern und Tätern verkehrten. War das nicht eigentlich der Moment jenes "wirklichen Ausnahmezustands" der Unterdrückten in Reaktion auf den "‚Ausnahmezustand‘ in dem wir leben", von dem der Schriftsteller und Philosoph Walter Benjamin wenige Monate vor seinem Suizid auf der gescheiterten Flucht aus dem von deutschen Truppen besetzen Frankreich gesprochen hatte?
Im vormals besetzten Europa schritten Partisanen- und Bürgerkomitees 1944/45 überall zur Abrechnung mit den vormaligen Handlangern und willfährigen Kollaborateuren des NS-Regimes, mit schätzungsweise bis zu 10.000 Toten in Frankreich, bis zu 15.000 in Italien. Ihre Aktionsformen eines "wirklichen Ausnahmezustands" waren vielfältig: Kahlscheren von Frauen, Bedrohung, Exekution und Vermögenskonfiskationen. Diese Auseinandersetzungen gingen in Ländern wie der Ukraine, Polen, Griechenland, insbesondere aber in Jugoslawien in neue gewalttätige Auseinandersetzungen und Bürgerkriege über, in denen es auch um ethnische und nationale Vorherrschaft ging.
Solche Exzesse direkter Gewalt gab es auch in Deutschland, mit Zehntausenden toten Zivilisten im Zuge von Plünderungen und gewalttätigen Übergriffen von Soldaten, die Wohnungen durchsuchten und es (bestenfalls) auf Trophäen des Sieges wie Uhren und andere Wertgegenstände abgesehen hatten. Die eigentlichen Opfer dieses gesetzlosen Zustands waren Mädchen und Frauen aller Altersgruppen. Die sexuelle Gewalt, die vielen angetan wurde, illustriert mehr als alles andere diesen umfassenden Ausnahmestand, in dem Recht und Moral suspendiert zu sein schienen. Über den physischen Schmerz hinaus schrieb sich dadurch die Gewalt der Sieger dauerhaft in das Leben Hunderttausender Frauen ein. Wie zahlreiche Darstellungen zeigen, waren die von der Roten Armee besetzten Gebiete am meisten betroffen; Formen sexueller Gewalt als Massenphänomen gab es aber auch in der französischen Besatzungszone. Was im Zuge der Besetzung des Landes von der sowjetischen Militärführung geduldet, ja sogar durch gezielte Propaganda der Rache befeuert wurde, entwickelte sich zu einem Problem für die militärische Disziplin, dem weit über 1945 hinaus in der SBZ kaum Herr zu werden war und das sich schließlich nur durch Kasernierung und Isolierung ihrer Soldaten lösen ließ.
Von Anfang an waren die demütigenden Erfahrungen der Betroffenen, aber auch die der mitwissenden Angehörigen, begleitet von Schweigen, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Anders war das bei dem Thema der Gewalt, die von sogenannten Displaced Persons ausging – also von ehemaligen Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen sowie KZ- und sonstigen Lagerinsassen, die sich infolge des Krieges außerhalb ihres Staates befanden. Das Kriegsende im Sinne der "Stunde Null" hieß gerade für diese Menschen zunächst vor allem Befreiung – umso mehr, als sie bis zur letzten Minute um ihr Leben hatten fürchten müssen. Zehntausende von ihnen wurden Opfer letzter Gewaltexzesse des NS-Staates und seiner Schergen.
Unter den rund 10,8 Millionen Zwangsarbeitern auf Deutschem Reichsgebiet herrschte, wie ein US-amerikanischer Beobachter notierte, eine "ausgelassene Ferienstimmung":
Gewalt Einzelner wurde dabei von Anfang an gegen die Gewalt des NS-Staates aufgerechnet oder mit ihr gleichgesetzt. Deutlich wird das in einem Brief Ernst Jüngers an Carl Schmitt, in dem sich der Schriftsteller 1948 rückblickend über ein Gespräch mokiert, das er kurz nach der Besetzung 1945 mit amerikanischen Journalisten geführt hatte, die offenbar noch ganz unter dem Eindruck eines kurz zuvor besichtigten Konzentrationslager standen. Während Jünger auf einen naheliegenden Gutshof verwies, wo ein Mann "von Polen (…) unter schauerlichen Umständen" ermordet worden war, hatte er den Eindruck, dass die Journalisten den Ort kaum wahrnehmen wollten, ja, dass ihnen der Anblick unangenehm war: "Zum Opfer muss die Aktualität hinzutreten, die Legitimation durch den common sense", so seine Konklusion – für den Juristen Schmitt eine "entzückend[e]" Illustration für die "Wandlungen, die sofort mit jedem Wort und Begriff eintreten, sobald sie in den Bereich einer konkreten Freund-Feind-Situation treten."
Aber hatten sich wirklich nur die Fronten verkehrt? Nicht erst 1948 ging es um Fragen der Ahndung von Mord. Die anfängliche Nachsicht der Besatzungsmächte verkehrte sich auch in diesem Fall rasch in Ungeduld. Um das "Problem" in den Griff zu bekommen und die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden, wurden Displaced Persons teilweise erneut in Übergangslagern untergebracht. Die ersten zwölf Todesurteile der US-Militärgerichte in Hessen betrafen im Sommer 1945 Displaced Persons, die bewaffnete Raubüberfälle und/oder Morde begangen hatten.
Ein Bürgerkrieg blieb Deutschland 1945 erspart. Dabei gab es viele Deutsche, die unter den Repressalien des NS-Staates gelitten hatten und auf eine zügige Abrechnung mit ihren Peinigern drängten. In vielen Städten bildeten sich Bürgerkomitees und antifaschistische Ausschüsse. Moralische Empörung, gepaart mit Rachegefühlen, war für ihre Gründung ebenso ein Motiv wie die Sicherung von Ordnung und Recht. Ein amerikanischer Beobachter eines antifaschistischen Ausschusses in Frankfurt-Riederwald fühlte sich an "die emotional hochgepeitschte Reaktion des französischen Maquis [Guerilla-Organisation im Widerstand, Anm. d. A.] gegen Kollaborateure in der ersten Phase der Befreiung" erinnert.
Neben Aktionsformen wie Beschlagnahmung von Wohnungen und Schrebergärten oder Prügel und Handgreiflichkeiten, womit NS-Parteigänger eingeschüchtert wurden, debattierte man – nicht nur in diesen Kreisen –, ob Formen von Selbstjustiz – also Formen direkter Justiz in der Hand der Opfer von NS-Gewalttaten – angemessen wären. Als ein bekannter Befürworter sei etwa der Sozialdemokrat Hermann Louis Brill genannt, der seit 1943 Insasse im KZ Buchenwald und Mitinitiator des Buchenwalder Volkskongresses gewesen war. Als (von der amerikanischen Besatzungsmacht eingesetzter) Regierungspräsident der Provinz Thüringen rief er zu einer rigorosen moralischen und juristischen Selbstreinigung des deutschen Volkes durch Volksgerichte statt durch die Justiz der Siegermächte auf: Diejenigen, die das Ausnahmerecht exzessiv angewendet hatten, sollten mit eben einem solchen Ausnahmerecht gestraft werden. Dazu diente die "Errichtung einer neuen Justiz unter Zuziehung der Frauen von Hingerichteten", und eine "Rechtsprechung über die Nazis nach ihren eigenen Grundsätzen": "Die Witwen unserer Hingerichteten und unserer Genossen, die jahrelang im Schatten des Schafotts gelebt haben, werden als Beisitzer den erforderlichen geschärften Blick aufweisen."
Abgesehen davon, dass es sich dabei eher um eine vereinzelte Stimme handelte, waren solchen Formen von Selbstjustiz im Sinne eines wirklichen Ausnahmezustands auch in Deutschland extrem enge Grenzen gesetzt. Die antifaschistischen Ausschüsse wurden mit Verweis auf das von den Militärregierungen erlassene Verbot politischer Organisationen verboten. Auch für Walter Ulbricht in der SBZ waren viele der aus dem Untergrund auftauchenden ehemaligen KPD-Mitglieder und Mitglieder linker Organisationen als "Sektierer" verdächtig: Für Revolutionspläne oder Bemühungen um Errichtung rätedemokratischer Strukturen, so stellte er frühzeitig und unmissverständlich fest, gab es jenseits der sowjetisch-kommunistischen Anweisungen der militärischen Stellen keinen Raum.
Normalisierungen im Ausnahmezustand
Die aufgeführten Beispiele zeigen die unterschiedlichen Bemühungen der Besatzungsmächte, Formen der Selbsthilfe und Selbstjustiz irgendwie zu kontrollieren. Welchen Aspekt man auch betrachtet, ganz im Vordergrund stand die Wahrung der souveränen Autorität der Militärregierungen in ihren jeweiligen Besatzungszonen, und zwar selbst dann noch, als administrative und rechtliche Aufgaben an kommunale und regionale Behörden und die wieder in Gang gesetzten politischen Körperschaften delegiert wurden. Auch wenn man zögert, mit Blick auf die SBZ/DDR und andere von der Sowjetarmee besetzte Länder von einer "Normalisierung" zu sprechen, so ist der relativ zügige Übergang vom Krieg in die Friedenszeit, in der die Gewalt eingehegt wurde, ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass dies unter Bedingungen des Ausnahmezustands erfolgte.
Politische, auch verfassungsmäßige Normalisierungen schließen gewaltförmige, auch gegen einzelne Personen und Gruppen gerichtete Gewaltformen nicht aus; sie grenzen diese bestenfalls rechtsstaatlich ein. Und nicht nur das: Gewalt kann zu einem endemischen Phänomen des politischen Systems werden, sei es in Form der rechtlichen Normalisierung einzelner Aspekte des Ausnahmezustands in Form von Sicherheitsgesetzen, sei es in Form von Ausnahmezustandsmentalitäten mit spezifischen Feindbildern. Ein Einfallstor für weitreichende Maßnahmen war die Dramatisierung der – gefährdeten – öffentlichen, staatlichen und militärischen Sicherheit, zunächst in den Besatzungszonen wie dann später auch in der Bundesrepublik und der DDR. Mit dem einsetzenden "Kalten Krieg" wurde es auf beiden Seiten des "eisernen Vorhangs" weit aufgestoßen.
Mit Blick auf die Normalisierung des Ausnahmezustands ist von Anfang an die Divergenz der Entwicklungen in der SBZ im Vergleich zu den westlichen Zonen von Relevanz: Der erklärte "Antifaschismus" war dabei von zentraler Bedeutung. Zu erkennen ist die Verquickung einer weltanschaulichen, ideellen und (verfassungs-)politischen Norm nicht nur unter politischen und militärischen Sicherheitsaspekten und politischen Neuordnungsvorstellungen, sondern zugleich auch in der Tradition kommunistisch-proletarischer Mobilisierung. Im Fall der SBZ spielten dabei die Erfahrungen und Erinnerungen der KPD/SED an die Repressionen im Zuge der politischen Ausnahmezustände der Weimarer Republik und der NS-Zeit eine wichtige Rolle.
Zwar gab es auch in den Westzonen Amtsenthebungen, Internierungen und justizielle Verfolgung von NS-Verbrechern, was zu genügend Klagen über "Siegerjustiz" und "Willkürrecht" führte. Doch war der Umgang mit früheren NSDAP-Mitgliedern und all denjenigen, die – zu Recht oder Unrecht – für den NS-Faschismus verantwortlich gemacht wurden, in der SBZ weitaus schärfer. Davon zeugten nicht nur verschiedene Formen von Verschleppung und Internierung in Lagern im In- und Ausland (mit hohen Sterblichkeitsraten bis in die 1950er Jahre), sondern auch die Art und Weise, wie politische Gegner mundtot gemacht wurden – und nicht zuletzt das Umschlagen in Willkür und Formen des Staatsterrors.
Die Ausweitung des Personenkreises der vermeintlich inneren "Feinde", die nun in das Visier der politischen Kampagnen der SED ebenso wie der Sicherheitsorgane der sowjetischen Militäradministration rückten, haben in der neueren Forschung viel Beachtung gefunden. "Antifaschismus" fungierte dabei als Begründung eines selektiven, gegen einzelne Personen und Gruppen gerichteten, Ausnahmezustands.
Viele Akteure waren daran beteiligt: Aktivisten, die häufig nur scheinbar "von der Basis" aus agierten; die entstehenden Sicherheitsbehörden, die Carte blanche hatten; später dann auch neue Organisationen wie die Kontrollorganisationen, die über staatliche Sanktionsmacht verfügten; Gerichte, die in Schauprozessen verhandelten. Dabei machte sich ein ausgeprägtes Ausnahmezustandsdenken breit, um den vermeintlichen "Volkswillen" durchzusetzen.
Man kann sich nur ausdenken, was der linke Nichtkonformist Walter Benjamin dazu gesagt hätte, auch zur Rolle Hilde Benjamins, der Frau seines nach langen Irrwegen durch Konzentrationslager und Arbeitslager wahrscheinlich in Mauthausen ermordeten Bruders Georg Benjamin. Als Vorsitzende Richterin in einer Reihe von politischen Schauprozessen und dann als Justizministerin der DDR, als die sie sich auch für eine verfassungsmäßige Normalisierung einsetzte, spiegelt sich in ihrer Person zugleich das grundlegende Problem von Herrschaft, Diktatur und Gewalt im real existierenden Sozialismus wider: der "Schutz der sozialistischen Errungenschaften" im Namen des vormals unterdrückten Proletariats und des Antifaschismus und damit auch Repression all derjenigen, die sich gegen eben den neuen sozialistischen Staat wandten. Dass diese Repression sich dann auch ausgerechnet gegen die Arbeiter richtete, zeigte sich am 17. Juni 1953 mit der Ausrufung des Ausnahmezustands durch die sowjetische Besatzungsmacht zur Niederwerfung des Volksaufstandes.
Schlussbetrachtungen
Der Ausnahmezustand des 17. Juni 1953 illustriert nicht nur, wie prekär die politische Lage auch noch acht Jahre nach Kriegsende war, sondern auch, welche Rolle die sowjetische Militäradministration nach wie vor auch in der SBZ spielte. Trotz sozialer und politischer "Normalisierungen" in allen Bereichen des politischen wie sozialen Lebens lassen sich zur selben Zeit auch in der Bundesrepublik sehr umfassende – geheime – Planungen für den Ausnahmezustand finden. Federführend im Bundesministerium des Innern war das ministerielle Personal, das auf diesem Gebiet schon in der Vergangenheit aktiv gewesen war und vielfach auch in älteren Denkmustern der Ausnahmezustände der Zwischenkriegszeit verhaftet war.
Die Geschichte illustriert nur zu gut, dass damit Gewalt nicht begrenzt, sondern entgrenzt wurde, und zwar mit allen unkalkulierbaren Folgen, die in diesem Beitrag mit Blick auf das Jahr 1944/45 beschrieben wurden. All zu leicht gerät dabei aus dem Blick, dass nach der totalen Niederlage und der anarchischen Übergangszeit 1944/45 bis zur Etablierung der Militärregierungen die Wiederherstellung von Recht und Ordnung und dann die Rekonstruktion souveräner Staatlichkeit einer Friedensgesellschaft (so verschieden diese in den beiden Teilen Deutschlands dann aussah) erst unter diesen Bedingungen der militärischen Besatzung möglich war. In der Geschichte der Ausnahmezustände des 20. Jahrhunderts ist dieser Vorgang der Einhegung von Gewalt und die Reetablierung von politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ordnung ein wichtiger, wenig beachteter Fall. Er beschreibt die Anfänge der Geschichte Deutschlands nach 1945.
So wie die beiden deutschen Staaten hat jedes europäische Land eine jeweils eigene Abfolge von Ausnahmezuständen mit unterschiedlichen Konfliktlagen vorzuweisen. Immer betraf das nicht nur Fragen, die von Verlust und zurückgewonnener (oder verlorener) staatlicher Souveränität, sondern auch von Beschädigungen von Individuen und Viktimisierungen handeln.