Als die Truppen der Alliierten 1945 das nationalsozialistische Deutschland militärisch besiegten, beendeten sie ein präzedenzloses Jahrhundertverbrechen, dem bis Kriegsende rund sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden zum Opfer gefallen waren. Bis zuletzt kamen unzählige Opfer auf Todesmärschen ums Leben oder starben in Lagern an Hunger und Seuchen. Viele alliierte Soldaten trafen die vorgefundenen Leichenberge wie ein unerwarteter Schock, doch waren die Alliierten schon seit Jahren über die Massenverbrechen des "Dritten Reiches" relativ genau informiert gewesen und hatten diese spätestens seit 1942 auch öffentlich angeprangert.
Dies war auf Seiten der Westalliierten nicht anders, wo der Holocaust noch keinen Namen hatte und als spezifischer Mordvorgang nur selten thematisiert wurde. So unterschieden die amerikanischen "Atrocity Films", die 1945 die deutsche Bevölkerung mit den Verbrechen konfrontierten, weder präzise zwischen den verschiedenen Gruppen von NS-Opfern noch zwischen den unterschiedlichen Kategorien von Lagern, die 1945 befreit worden waren.
Auch die betroffenen Überlebenden schauten vielfach nach vorn und konzentrierten sich auf ihre gesellschaftliche Re-Integration. Allerdings hatten sich viele Opfer zugleich um die Dokumentation ihres Leids bemüht. Dies geschah – wie beim Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto – teilweise noch während des Verfolgungsprozesses, mit der Intention, vom verzweifelten Überlebenskampf Zeugnis für die Nachwelt abzulegen.
Daraus entwickelte sich jedoch kein allgemeines, breit angelegtes Feld der Holocaustforschung. Diese blieb lange Zeit ein Randthema, das vor allem von jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bearbeitet wurde. Zu Recht gelten deshalb Personen wie Rachel Auerbach, Philip Friedman, Gerald Reitlinger, Raul Hilberg, Léon Poliakov oder Joseph Wulf als Pioniere der wissenschaftlichen Analyse des Holocaust.
Zugleich ging dieser Aufschwung jedoch Hand in Hand mit neuen Perspektiven und Ansätzen, die sich teilweise deutlich von jenen Pionierarbeiten unterschieden, die die Grundlagen für die Holocaustforschung gelegt hatten. Einige dieser Forschungstrends, ihre Erkenntnisse und mögliche Probleme sollen im Folgenden näher in den Blick genommen werden.
Neue Trends der Täterforschung
Lange Zeit wurde der typische Täter des Holocaust durch den Typus des sogenannten Schreibtischtäters personifiziert, durch einen Bürokraten, tätig in den Verwaltungsinstitutionen eines modernen Staates.
Ein genauerer Blick auf die am Holocaust beteiligten Institutionen wie das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zeigt nämlich, dass diese keineswegs nach dem Muster klassischer bürokratischer Institutionen funktionierten. Sie besaßen vielmehr eine dynamische Struktur, die sich den praktischen Erfordernissen des Massenmordes flexibel anpasste. Nicht wenige Angehörige des RSHA pendelten zwischen ihrem Schreibtisch in Berlin und Mordeinsätzen im Osten hin und her. Nach 1933 setzten sie nicht allein staatliche Vorgaben bürokratisch um. Vielmehr nutzten sie die neuen Verhältnisse, um ihre persönlichen Überzeugungen, die sich schon in der völkischen Studentenbewegung der 1920er Jahre gebildet hatten, in die politische Praxis umzusetzen.
Darüber hinaus richtet sich die Aufmerksamkeit der Täterforschung auf Mechanismen der Gruppenkohäsion und sozialpsychologische Prozesse in den Formationen der Täter.
Dementsprechend hat auch "Auschwitz" als Synonym für eine beinahe klinische Form des Tötens in Gaskammern, ohne persönliche Konfrontation zwischen Tätern und Opfern, an Bedeutung verloren. Schließlich war die grausame Realität der Massenmorde im Holocaust auch durch die archaischen und blutigen Massaker der Tötungseinheiten und Polizeibataillone geprägt, die von der älteren Forschung nur unzureichend berücksichtigt worden waren. Mit der Verschiebung des Fokus vom Zentrum in Berlin zur Peripherie in Osteuropa sind nicht zuletzt auch nichtdeutsche Täter des Holocaust in den Blick geraten, darunter Balten, Polen oder Ukrainer, die als Hilfspolizisten agierten, oder die kroatische Ustascha beziehungsweise die rumänische Armee, die in eigener Verantwortung Hunderttausende Juden ermordeten, ohne von den Deutschen dazu gezwungen worden zu sein.
Zu konstatieren ist daher eine zunehmende "Europäisierung" des Holocaust, sodass in der historischen Rekonstruktion immer öfter statt von einem spezifisch deutschen Massenmord von einem europäischen Genozid gesprochen wird. Dieser bemerkenswerte Perspektivwechsel eröffnet unzweifelhaft neue Einsichten in diverse Formen der Massengewalt in Osteuropa und damit auch für die Kontextualisierung des Holocaust. Neue Perspektiven müssen aber stets an ältere Erkenntnisse rückgebunden werden. Es ist wichtig zu wissen, dass sich polnische oder ukrainische Polizisten am Holocaust beteiligten – nur wären sie ohne die deutsche Besetzung Polens oder der Ukraine niemals in diese Situation gekommen. Natürlich kann es kein Zurück zu einer ausschließlich auf Deutschland fokussierten, noch dazu auf Hitler und die Spitze des NS-Regimes verengten Forschung geben. Gleichwohl steht die zentrale Verantwortung Deutschlands für den Holocaust außer Frage, so wie auch eine Geschichte des Holocaust nicht ohne Hitler, Himmler, Heydrich oder Göring geschrieben werden kann.
Differenzierterer Blick auf die Opfer
In früheren Darstellungen des Holocaust wurde dem Verhalten der jüdischen Opfer nicht immer die gebotene Aufmerksamkeit gewidmet. Diskussionen verengten sich zumeist auf die Rolle jüdischer Funktionäre und der Judenräte, deren Verhalten oft scharf kritisiert wurde.
Lange hat das Alltagsleben der verfolgten Juden, ihre Umgangsstrategien mit Diskriminierung und Repression sowie ihr verzweifelter Überlebenskampf im Angesicht des Holocaust, in der historischen Forschung keine Beachtung gefunden. Mittlerweile liegen jedoch eine Vielzahl von Ego-Dokumenten wie Tagebücher und persönliche Berichte vor, die sich in Untergrundarchiven wie dem Ringelblum-Archiv im Warschauer Ghetto erhalten haben.
Die zahlreichen Dokumente aus der Perspektive der Opfer bergen großes Potenzial für die Forschung. Auch der universitären Lehre über den Holocaust oder dessen pädagogischer Vermittlung in einer weiteren, interessierten Öffentlichkeit bietet sich hier ein Fundus von Quellen, der bislang nur unzureichend genutzt wird.
Gesellschaftsgeschichte des Holocaust
Die Alltagsgeschichte des Holocaust von unten hat auch den Blick auf das breite Spektrum von Verhaltensweisen in den europäischen Gesellschaften gelenkt, die mit der statischen Begriffstrias "Täter – Opfer – Zuschauer" nicht einmal ansatzweise erfasst werden kann.
Die neuen gesellschaftlichen Maßstäbe beschleunigten soziale Prozesse und dynamische Rollenveränderungen. Unter dem ständigen Druck von Gewalt, Krieg und Besatzung konnte sich der Status von Personen beständig verändern, und auch die Kategorien des Verhaltens wandelten sich fortlaufend. Dies führte unter anderem dazu, dass sich im besetzten Polen, wo rund 200.000 Juden in Verstecken zu überleben suchten, Retter, die Juden beherbergten, schnell in Mörder verwandeln konnten, wenn den untergetauchten Juden das Geld ausging oder die polnischen Helfer die brutale Vergeltung durch die deutschen Besatzer befürchteten. In diesen Fällen wurden die untergetauchten Juden oft durch die polnische "blaue Polizei" getötet, damit die deutschen Besatzer nichts davon erfuhren, da ansonsten die polnischen Helfer exekutiert worden wären.
Die jüngste Forschung hat sich deshalb zu Recht auf diese sozialen Prozesse und hybriden Formen gesellschaftlichen Verhaltens konzentriert, die den Holocaust als gesellschaftlichen Prozess bestimmten. Es ist jedenfalls zielführender, gesellschaftliche Prozesse zu analysieren, als Personen zu kategorisieren. Von daher würde es auch nicht reichen, den Begriff "Zuschauer" (bystander) durch differenziertere Kategorien zu ersetzen (wie "Nutznießer", "Opportunisten", "indifferente Beobachter"), die letztlich ähnlich statisch ausfallen. Dynamische Rollenwechsel ein- und derselben Person können auf diese Weise jedenfalls nicht erfasst werden.
Methodisch hilfreich ist eine Definition von Herrschaft als "soziale Praxis", weil so der Blick auf das Verhalten der Zeitgenossen, ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen und Leitvorstellungen gerichtet wird. Außerdem können Veränderungen im gesellschaftlichen Alltag detailliert nachgezeichnet werden.
Für eine anspruchsvolle Gesellschaftsgeschichte des Holocaust sind außerdem die schleichenden Veränderungen gesellschaftlicher Moral von besonderer Bedeutung. Wie stellten sich Nichtjuden auf die Diskriminierung der jüdischen Minderheit ein? Analysen des gesellschaftlichen Verhaltens im nationalsozialistischen Deutschland zeigen, dass sich die Nichtjuden nach anfänglicher Irritation sehr schnell an die antisemitische Diskriminierung gewöhnten, diese schon nach kurzer Zeit als "normal" verinnerlicht hatten und sogar ihre persönlichen Vorteile aus der neuen Situation zogen. Lassen sich diese Trends auch in den zumeist multiethnischen Regionen unter deutscher Besatzung identifizieren? Diesbezüglich sind vor allem lokale Mikroanalysen hilfreich. Erste eindrucksvolle Studien liegen bereits vor
Errungenschaften und Grenzen der Internationalisierung
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Holocaustforschung zu einem wahrhaft internationalen und zugleich interdisziplinären Forschungsfeld entwickelt. Dies unterscheidet die gegenwärtige von der älteren Forschung, die durch strikt nationale Perspektiven gekennzeichnet war, die sich an den jeweiligen nationalen Erinnerungskollektiven orientierten. Während deutsche Forscher zum Beispiel lange Zeit von der Leitfrage ausgingen: "Wie konnte das geschehen?", fragten Forscher in Israel vor allem: "Warum ist es uns geschehen?"
Diese nationalen Perspektiven sind zwar aus der gegenwärtigen Forschung keineswegs verschwunden, doch hat sich ihre Bedeutung durch die Internationalisierung deutlich abgeschwächt.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war der typische Holocaustforscher ein Experte in deutscher Geschichte mit entsprechenden Kenntnissen der deutschen Sprache. Dies reichte aus, um die deutschen Originalquellen zu lesen, die für die "Genesis der Endlösung" zentral waren. Angesichts der veränderten Forschungstrends und ausdifferenzierter Perspektiven ist es mittlerweile wichtiger, Jiddisch, Polnisch oder Russisch sprechen und lesen zu können. Die wachsende Zahl von Holocaustforschern aus Osteuropa steht für diesen neuen Trend.
Die für die Holocaustforschung relevanten Quellen sind in mindestens zwei Dutzend verschiedenen Sprachen verfasst, was sich für die gegenwärtige Forschung als größte Herausforderung und Problem erweist. Ungeachtet wachsender Internationalisierung sind nämlich transnationale und integrative Perspektiven immer noch selten. Experten für den Holocaust in Polen wissen häufig nichts über die Entwicklungen in Frankreich und umgekehrt, obwohl eine vergleichende Perspektive von Judenverfolgung und Holocaust in beiden Ländern wichtig wäre. Stattdessen ist eine gewisse Verinselung und Überspezialisierung der Forschung zu beobachten, die der Forderung Saul Friedländers nach einer integrativen, verschiedene Perspektiven einschließenden Geschichtsschreibung über den Holocaust zuwiderläuft, die nach wie vor eine Ausnahme bildet.
Zu einem boomenden Forschungsfeld hat sich darüber hinaus die "Nachgeschichte" des Holocaust entwickelt, ein Forschungsfeld, das in Nordamerika als "Aftermath Studies" bezeichnet wird. Diese sind auch deswegen beliebt, weil sich deren Themen häufig innerhalb nationaler Grenzen bewegen und die genannten sprachlichen Anforderungen deshalb umgangen werden können. Mittlerweile entstammen fast zwei Drittel der auf Holocaustkonferenzen diskutierten Themen den "Aftermath Studies", und manche Forscher haben bereits kritisch von einer "Flucht" in die Nachgeschichte des Holocaust gesprochen.
Allerdings stärkt der Boom der "Aftermath Studies" die zunehmend verbreitete Annahme, dass der Holocaust eigentlich schon ausreichend erforscht worden sei, sodass Fragen der Nachwirkung(en), Bedeutung und Interpretation wichtiger erscheinen als die Forschung zu den Kernereignissen selbst. Insgesamt wird noch viel zu selten der Versuch unternommen, den Gegensatz zwischen der Geschichte des Holocaust und seiner "Nachgeschichte" produktiv aufzuheben und die Epochenschwelle des Jahres 1945 durch Längsschnittanalysen zu durchbrechen, um die Auswirkungen und Repräsentationen des Holocaust nach 1945 enger mit dessen Geschichte zu verzahnen. Wer beispielsweise die wirtschaftliche Existenzvernichtung der Juden und ihre materielle und finanzielle Ausplünderung untersucht, sollte auch die Restitution und Entschädigung nach 1945 einbeziehen. Auch können die langfristigen Folgen materieller Verluste für die Identitätskonstruktion betroffener Juden und ihrer Familien am besten im integralen Blick auf mehrere Generationen analysiert werden. Und auch im Blick darauf böte sich ein transnationaler Vergleich vor allem der fundamentalen Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa an.
Ebenso bildet die wechselseitige Rezeption antijüdischer Maßnahmen in Europa ein noch nicht hinlänglich erforschtes, transnationales Untersuchungsfeld. So waren die 1930er Jahre in Europa unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise durch einen Aufschwung autoritärer Regime und Diktaturen gekennzeichnet, die vielfach antisemitische Gesetze und Verordnungen erließen.