Einleitung
Mobilität schließt Freiräume ein, die sozial konstruiert und damit gestaltbar sind. Verkehr fungiert als technische Voraussetzung für Mobilität. Die Durchsetzung der Industriegesellschaft ging mit der Ausdifferenzierung von Verkehr einher, während die moderne, vernetzte (post-industrielle) Gesellschaft, die auch als fluide, reflexive oder als (Mobilitäts-)Gesellschaft bezeichnet wird, die Gestaltbarkeit von Möglichkeiten der Raumüberwindung betont. Die gewachsenen Umweltrisiken, die heute im Zusammenhang mit dem motorisierten Unterwegssein diagnostiziert werden, sind nicht zwangsläufig, wie abschließend zu zeigen sein wird.
Ähnlich wie im ausgehenden 19. Jahrhundert ist derzeit ein erneuter fundamentaler Wandel zu konstatieren (vgl. die Tabelle der PDF-Version). Vernetzung und informationstechnische Revolution schaffen umfassendere Bezüge und verändern Formen und Inhalte des Arbeitens und Lebens. Der Alltag ist mobilisiert.
Im modernen Alltag werden Räume des Transits immer wichtiger. Sie dienen der Zirkulation von Personen und Waren. Global und weiträumig in multinationalen Netzen zu agieren, bedeutet, die eigene Partikularisierung zu leben. Die Moderne produziert zusätzliche Wege (Luftwege), neue Oberflächen (landscapes) und Volumen und damit ein verzerrtes Bewusstsein davon, was die Räume sind, in denen wir leben. Unter dem Eindruck neuer Kommunikationsmittel und schnellerer Verkehrsmittel scheint die Welt zusammenzurücken; zumindest sind Menschen, wie auch Arbeit, Waren,
Die Tourismusbranche gilt als "die" Zukunftsindustrie des 21. Jahrhunderts: "Nach Ermittlungen der Welt-Tourismus-Organisation (WTO) zog es in den neunziger Jahren rund 530 Millionen Reisende pro Jahr ins Ausland - fast doppelt so viele wie 1980 (288 Mio.) und rund zwölf Mal so viele wie 1950 (25 Mio.). Die Zahl der Touristen wird weltweit bis zum Jahr 2010 auf über 900 Millionen anwachsen."
Über die Mobilität in Deutschland geben die Daten von KONTIV
Wenn Reiche anders unterwegs sind als der Durchschnitt, wenn Ältere andere Mobilitätsstrategien praktizieren als Jüngere und wenn Studierende sich von jungen Berufstätigen unterscheiden, dann gilt es, die Frage nach der Differenzierung und Ausdifferenzierung von Mobilität zu beantworten.
Verkehr - die Durchsetzung planbarer Verhältnisse
Bis ins 18. Jahrhundert galten Unterwegssein, Reisen und Ortswechsel als schädlich und gefährlich.
Unübersehbar veränderten sich mit der aufkommenden Industrialisierung die Voraussetzungen und Anforderungen an Mobilität und die Wahrnehmung von Räumen. Der Eisenbahn verdanken wir eine Verdichtung von Raum und Zeit und die in der Geschwindigkeit angepasste Kommunikationstechnik des Telegrafen. Qua Nutzung immer schnellerer und modernerer Transportmittel werden Räume einfacher und umfassender erschlossen und verfügbar gemacht. Seit Durchsetzung der Industriegesellschaft wird die Mobilität zur Bedingung und zum Inbegriff von Freiheit und Selbstbestimmung.
Die Industriegesellschaft liebt klare, berechenbare Verhältnisse und fußt auf Mobilität. So, wie die kapitalistische Industriegesellschaft die Kontraktfähigkeit der Person voraussetzt, bedarf es der Berechtigung, Fähigkeit und des Willens, sich auf den Weg zu machen. Arbeit und Wohnen werden getrennt, viele Menschen verlassen das Land, um in der Stadt ihr Glück zu suchen. Die Freisetzung der Bauern aus den Abhängigkeiten im Feudalsystem ist einer der wichtigsten Faktoren in der Geschichte der Mobilität, weil dadurch - ganz im Sinne des aufklärerischen Denkens - auch die Entscheidung für die Wahl des Wohn- und Arbeitsortes zu einer persönlichen Angelegenheit wurde. Dementsprechend wuchsen die Städte. Bis dahin wurden nahezu alle Lebensvollzüge in der erweiterten Familie unter einem Dach organisiert. Nun setzte die Ausdifferenzierung von Funktionen und Ortsbezügen ein. Dies betrifft die Trennung von Arbeit und Wohnen und die von Arbeit und Freizeit sowie die von Arbeit und Bildung. Diese Differenzierung führt zu Arbeits-, Pendler-, Ausbildungs- und Freizeitmobilität.
Die Veränderung der Arbeitswege wurde von englischen Historikern untersucht. Von 1890 bis 1899 bewältigten rund 60 Prozent der Untersuchungspopulation ihren Weg zur Arbeit zu Fuß. Hundert Jahre später sind es gerade noch acht Prozent.
Die qua Verkehr realisierte Mobilität ist in den vergangenen 100 Jahren enorm gewachsen. Im Vordergrund standen die Arbeitswege, erst ab den 1960er Jahren nahm die Zahl der Urlaubsreisen auch in Deutschland zu. Den gewachsenen Bedürfnissen nach Transport wird mit verkehrstechnischen Lösungen entgegengetreten. Die Statistiken zum Ausbau der Verkehrswege belegen dies ebenso wie die Daten zum Absatz motorisierter Fahrzeuge. Längere Wege zur Schule sind die Folge von Reformen des Bildungswesens (Schwerpunktschulen in den Landkreisen). Insofern Kontakte und Freundschaften über die Schule etabliert werden, begründen längere Schulwege (15 bis 30 Kilometer im ländlichen Raum) auch extensive Peer- (Gleichaltrigen-) und Freizeitkontakte. Eineinhalb Millionen Auszubildende müssen täglich ihre Wege zum Ausbildungsbetrieb eigenverantwortlich organisieren. Dabei sind viele Betriebe - im Gegensatz zu vielen Schulen - oft kaum verkehrsgünstig zu erreichen. Viele Jugendliche sehen sich in der neuen Situation des Übergangs in den Beruf überfordert.
Seit Aufkommen der Industriegesellschaft ist ein immer dichteres und doch stets unzureichendes Verkehrsnetz entstanden. Seit den 1960er Jahren ist eine gewachsene Abkehr vom öffentlichen Transportangebot zu verzeichnen.
Diese Grenzen der Kalkulierbarkeit wurden gesellschaftlich zunächst als "Grenzen des Wachstums" verhandelt.
Die Technik der Industriegesellschaft war funktional, und auch der Verkehr sollte zweckbestimmt organisierbar sein. Funktionale Eindeutigkeiten sind, wenn es um Kommunikation und Bewegung geht, Ausnahmeerscheinungen. Tendenziell werden klassische Grenzziehungen überholt. Alles wird flexibilisiert:
Die Mobilisierung des Mobilen
"Reflexive Moderne"
Individuen müssen eigenverantwortlich Entscheidungen treffen, sich festlegen und ihr Leben planen. Die reflexive Modernisierung beschreibt einen "Meta-Wandel, in dem sich die Koordinaten, Leitideen und Basisinstitutionen verändern".
Wäre soziales Handeln nichts anderes als Informationsaustausch, könnte Beweglichkeit in der Moderne auch ohne Bewegung auskommen. Mit gewachsenen kommunikativen Reichweiten nimmt aber auch das Bedürfnis nach Verortung zu. Mobile Technik bringt Ortsbezüge nur scheinbar zum Verschwinden. Orte werden wichtiger, damit Dinge, Personen, Verrichtungen, die keinen Orten mehr eindeutig zuzuordnen sind, sozial passend werden. Mag die räumliche Lage aus dem Bewusstsein schwinden, der Raum als soziale Konstruktion besteht im Versuch fort, den ursprünglichen Zusammenhang von Raum und Kommunikation zu negieren. In den Netzen (Handy, Internet) scheint das "Jetzt" wichtiger und vom "Hier" geschieden zu sein. Mobil Kommunizierende versuchen "Hier" und "Jetzt" wieder zusammenzubringen. Bei mobilen Telefonaten werden der momentane Aufenthaltsort und die Zeit, zu der sich die Sprechenden anderswo aufhalten, geradezu gesetzmäßig benannt. Der scheinbar gleichgültige Ort erfährt eine Aufwertung. Je weiter sich die Subjekte von ihren vertrauten Räumen entfernen, desto wichtiger wird es ihnen, sich über diese einzubetten. Anders gesagt: Die sozialen, lokalen, temporal und sachlichen Koordinaten des Wohlbekannten werden bewusstseinspflichtig.
Mobilisierung des Mobilen bedeutet demnach: 1. Wir haben es mit fluiden Verhältnissen zu tun. Je mehr in Parallelwelten agiert wird, desto mehr sind klare temporale und lokal abgegrenzte Verhältnisse die Ausnahme. Individualisierung fordert beständig zu Entscheidungen heraus, und diese sind in der Regel kommunikations- und mobilitätspflichtig. 2. Alles wird mobil: Konsum, Arbeit, Musik, Daten und Menschen. Der Mp3-Player und der USB-Stick werden zu Repräsentanten der Modernisierung. Es ist möglich, via Netz und Datenstick ortsunabhängig arbeits- und anschlussfähig zu sein. Das Handy mit Radio und Mp3-Player ersetzt den Ghettoblaster ebenso wie das stationäre Telefon. Per Internet to go kann das Büro mitgenommen werden, via Handy, SMS, GPS ist Kommunikation unterwegs möglich.
Unterwegs werden die zeitlichen Nischen des Transports funktionalisiert. On/by the way wird entspannt (Musik, Video, Chat), gearbeitet (Internet, Handy) und konsumiert (coffee to go im cupholder). Die industriegesellschaftlich vermittelte Trennung von Arbeit und Reproduktion scheint aufgehoben. Der Alltag ist von Mobilität durchzogen und -durchformt. Es sind nicht mehr einzelne Artefakte wie das Auto, die dies anzeigen. Die Mobilität des Mobilen wird in der Verkettung von Kommunikations- und Mobilitätstechnologien kenntlich. Zunächst wurde das Radio "portabel", in den 1960er Jahren das (Koffer-)Radio, der (Auto-)Plattenspieler, dann in den 1970ern der Walk- und Discman, später folgen das Notebook, das portable Telefon, Handhelds mit Netzanschluss. Neue Technologien und Mediennutzung können kaum als Gegenentwürfe zu Mobilität ausgegeben werden.
Plurale Lebenslagen haben zur Folge, dass heterogene Mobilitätsstile existieren. Die gelebten Parallelwelten werden durch Einschluss moderner Kommunikationstechnik (E-Mail, Handy, SMS) synchronisiert. In "fluiden Strukturen" zu arbeiten, zu lernen, zu lieben und zu kommunizieren schließt kontinuierliches Bemühen um das Changieren von Bezügen ein. Zeit und Raum werden zu veränderlichen Größen; längerfristige Bindungen (Nachbarschaften, Kollegen) müssen zurücktreten. Flexibilität und mit ihr Mobilität gelten bereits als "Gegenbegriff zu Starre und Leblosigkeit".
Richard Sennett zufolge ist die "Fähigkeit, sich von der Vergangenheit zu lösen und Fragmentierung zu akzeptieren (...), der herausragende Charakterzug der flexiblen Persönlichkeit (...). Doch diese Eigenschaften kennzeichnen die Sieger. Auf den Charakter jener, die keine Macht haben, wirkt sich das neue Regime ganz anders aus."
Multimodalität
Wenn beständig Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn sich Verhalten fortgesetzt neu hergestellten Gegebenheiten anpassen muss, dann kann die Alltagspraxis in Bezug auf Mobilität auch nicht mehr nur mit einem Transportvehikel assoziiert werden: Das zeitgemäße Muster ist die Multimodalität, wofür eine einfache Regel gilt. Es gibt nicht nur ein, sondern, je nach Zweck, verschiedene geeignete Fortbewegungsmittel. Zu Fuß, Rad, Auto, Zug, Bus, Roller, Mofa, Straßenbahn sind keine konkurrierenden, sondern koexistierende Angebote. Wie beim Unterwegssein konsumiert, gearbeitet und regeneriert wird, können die Transportvehikel flexibel gewechselt werden.
Verantwortlich für sich selbst und für andere zu handeln, heißt, die sozialen Parameter des Lebens zu erhalten (Familie, lebenswerte Umwelt, Vermeidung von Schädigung). Es gilt, einem erweiterten ökonomischen Verständnis Rechnung zu tragen, das Verkehrssicherheit und Umwelterhaltung einschließt. Mit wachsender Mobilisierung der Verhältnisse rücken die ökologische Kommunikation einerseits und die gelingende eigene soziale Einbettung andererseits in den Mittelpunkt. Ökologische Kommunikation meint: Nur, wenn die Folgen unseres Lebensstils für die Umwelt kommuniziert werden, da sie auf das Leben zurückwirken, werden sie qua Kommunikation wahrnehmbar. Die aktuellen Debatten um die CO2-Belastung und die Klimaerwärmung folgen diesem Muster. Beide Phänomene gibt es schon lange, nun allerdings sind sie Thema öffentlicher Erörterung. Vor dem Hintergrund der ökologischen Kommunikation gilt es, sich bewusst zu werden, dass alle Kommunikation und alles Unterwegssein unserer sozialen Einbettung dient und notwendig Redundanzen einschließt.