Einleitung
In diesem Jahrhundert wird die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner in Deutschland sinken, deren Durchschnittsalter indes deutlich steigen. Parallel zum demographischen Wandel muss mit erheblichen räumlichen Verschiebungen gerechnet werden, weil die Unterschiede in der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Regionen immer größer ausfallen werden. Problematisch ist die Koinzidenz von demographischen Umbrüchen und wirtschafts- sowie regionalstrukturellen Verwerfungen besonders in den östlichen Bundesländern.
Eine unterdurchschnittliche Erwerbsquote und mangelnde ökonomische Dynamik fallen in Ostdeutschland mit altersselektiver Abwanderung (ohnekompensatorische Zuwanderung) und einer dadurch beschleunigten Alterung der Gesellschaft zusammen. Die Abwanderung in den Westen hat ihre Hauptursache in den ungünstigen wirtschaftlichen Aussichten. Die endogenen Potenziale werden durch die Wegzüge gut ausgebildeter und hoch motivierter Arbeitskräfte zusätzlich geschwächt. Zwischen 1990 und 2002 hat sich die Bevölkerung auf dem ehemaligen Territorium der DDR von 18,2 auf 17 Millionen vermindert; das Statistische Bundesamt prognostiziert einen Bevölkerungsrückgang bis 2050 um weitere 31 Prozent.
Parallel zu diesen Schrumpfungstendenzen finden wir in Deutschland aber auch klassische Wachstumszonen, vor allem im Süden sowie in Ballungsräumen entlang des Rheins, des Mains und in und um Hamburg. Dort wächst die Wirtschaft überdurchschnittlich, und die Erwerbsquote ist hoch. Bei weiter zunehmender Bevölkerung durch Zuwanderung aus dem In- und Ausland und somit abgemilderter Alterung kann hier von einer Unterauslastung der Infrastruktur nicht dieRede sein. In den Wachstumszonen steigt die Verkehrsleistung, und zwar sowohl im Motorisierten Individualverkehr (MIV) als auch im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).
Die Folgen der sich abzeichnenden demographischen und wirtschaftsstrukturellen Dynamiken in den nächsten Jahrzehnten - als Gleichzeitigkeit von Entleerungs- und Boomprozessen - sind für die Verkehrspolitik gravierend. Das bisher gültige "Grundgesetz" der Verkehrspolitik - nämlich als Infrastrukturversorgung zu einer gleichmäßigen Erschließung der Räume beizutragen, um dem Gedanken der staatlichen Daseinsvorsorge gerecht zu werden - kann kaum mehr aufrecht erhalten werden.
Demographische Tendenzen
Die wesentlichen Trends des demographischen Wandels in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland sind die Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung, die Binnenwanderung und ihre Auswirkungen sowie die sozialräumlichen Unterschiede der Bevölkerungsentwicklung. Jeder dieser Aspekte erzeugt erheblichen Anpassungsbedarf. Zusammengenommen führen sie zu hohem Reformdruck. Die kaum mehr zu beeinflussenden demographischen Verschiebungen bis 2020 werden unter anderem zu einem weiteren Einbruch der Schülerzahlen führen; diese sind zwischen 1999 und 2004 bereits um 2,9 Prozent zurückgegangen. Es wird erwartet, dass im Zeitraum zwischen 2004 und 2020 die Zahl der Schülerinnen und Schüler um weitere 6,6 Prozent sinken wird. Der Bundesdurchschnitt verdeckt auch hier die enormen Disparitäten zwischen einzelnen Ländern. Zwischen 1999 und 2004 ist die Zahl der Schüler im Osten im Schnitt um fast ein Drittel zurückgegangen, während in den meisten westlichen Ländern eine leichte Zunahme zu verzeichnen war.
Die Bevölkerungsentwicklung über 2020 hinaus wird möglicherweise mit noch weit gravierenderen Konsequenzen für beinahe alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche verbunden sein.
Alterung: Das Durchschnittsalter der Einwohner in Deutschland nimmt zu. So sinkt zum Beispiel der Anteil der unter 40-Jährigen, also der Berufsanfänger, die zugleich ein wichtiger Teil der Leistungsträger sind, von 1999 bis 2020 um 17 Prozent. Gleichzeitig wächst der Anteil der über 60-Jährigen um 24 Prozent. Noch dramatischer nimmt die Zahl der über 75-Jährigen zu: Sie steigt sogar um 50 Prozent.
Im Gegensatz zur Alterung setzt die Schrumpfung der Gesamtbevölkerung in Deutschland etwas später ein. Ab 2010 ist bei einer unterstellten Nettozuwanderung von 100 000 Personen pro Jahr und bei einer etwa konstanten Geburtenrate mit einem stetigen Bevölkerungsrückgang auf unter 68 Millionen im Jahre 2050 zu rechnen.
Zuwanderung: Unterstellt wird bei allen demographischen Modellrechnungen eine Nettozuwanderung. Bei den optimistischen Varianten des Statistischen Bundesamtes wurden bis vor zwei Jahren noch jährliche Migrationsgewinne von 200 000, ab 2010 sogar von 300 000 Personen angenommen.
Sozialräumliche Verteilung: Überlagert werden die demographischen Trends der Alterung, Schrumpfung und Zuwanderung durch eine höchst ungleiche räumliche Verteilung von Bewohnern, von Alten und Jungen sowie von armen und wohlhabenden Haushalten. Neben dem schon klassischen Nord-Süd-Gefälle hat sich seit den 1990er Jahren ein demographischer Ost-West-Gegensatz herausgebildet.
Die Schere zwischen armen und reichen Regionen öffnet sich weiter. Es findet nicht nur kein wirksamer Ausgleich zwischen den sich höchst unterschiedlich entwickelnden Landesteilen mehr statt,
Künftige Verkehrsinfrastrukturpolitik
Die Alterung und Schrumpfung sowie die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft haben Konsequenzen für die Infrastrukturpolitik. Denn in historischer Perspektive galt insbesondere die Verkehrsinfrastruktur als Wechsel auf eine bessere Zukunft. Nationale Motive für den Infrastrukturausbau vermischten sich Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland mit regionalen und kommunalen Interessen reformpolitischer Ansprüche. Das dynamische Wachstum der frühen Industrialisierung hatte zu bis dahin nicht gekannter Verstädterung geführt. Wasserver- und -entsorgung, Energie für die Bevölkerung und Fabriken, aber auch logistische Erfordernisse und Wohnraum für die zuströmenden Arbeiter und ihre Familien wurden als neue kommunale Aufgaben definiert. Die Mobilisierung und Bereitstellung erheblicher investiver Mittel war dabei an eine dirigistische Durchgriffspolitik gebunden. Die neuen Versorgungsnetze boten die Gewähr für eine prosperierende Wirtschaft und sollten der breiten Bevölkerung zu "bezahlbaren" Preisen angeboten werden, im Gegenzug herrschte ein Zwang zum Anschluss an die staatliche Netzplanung. Es ist kein Zufall, dass wichtige Infrastrukturgesetze zu Beginn des "Dritten Reiches" erlassen wurden. So atmet auch das geltende Personenbeförderungsgesetz (PBefG) noch immer den Geist der Zwangsbewirtschaftung. Bis heute wird der gewerbliche Transport von Personen nicht dem Markt überlassen, sondern als öffentliche Aufgabe begriffen und entsprechend streng reglementiert. Dafür sind die Genehmigungsinhaber wie Lizenznehmer vor Konkurrenz geschützt. Analog waren die Gesetze für die Strom- und Wasserversorgung gestaltet.
Stürmisches Städtewachstum und Landflucht gehören der Vergangenheit an. Eine Grundversorgung mit kollektiven Gütern wie Strom, Wasser, Müllentsorgung und Heizenergie ist gegeben; ihre Bereitstellung ist in private oder privatisierte Unternehmen überführt worden. Die Netzinfrastrukturen sind flächendeckend vorhanden. Insbesondere das Verkehrsnetz konnte in Deutschland mit einem international beachteten Leistungsstand ausgebaut werden, wobei inzwischen allerdings mehr und mehr Probleme hinsichtlich der Finanzierung drohen.
Im Verkehr kommt im Vergleich zu anderen Netzinfrastrukturen als Besonderheit hinzu, dass der ÖPNV gegenüber dem MIV dramatisch an Bedeutung verloren hat. Während zum Zeitpunkt des Erlasses des PBefG der private Automobilverkehr erst in Ansätzen zu erkennen war, nimmt mittlerweile der Anteil des MIV - nicht zuletzt dank jahrzehntelanger staatlicher Unterstützung - einen Marktanteil von gut 85 Prozent ein. In ländlichen Regionen steigt die Bedeutung des Autos noch weiter und erreicht im Schnitt gut 90 Prozent der Verkehrsleistung. Umgekehrt wird in diesen Regionen der ÖPNV praktisch nur noch von Schülern und Auszubildenden genutzt, deren Anteil in Westdeutschland rund 90 Prozent und in Ostdeutschland mehr als 95 Prozent ausmacht.
In der Verfügbarkeit und in den Zahlen der Fahrerlaubnisse spiegeln sich die demographischen Phänomene der Gesellschaft wider. Während die Gruppe der Führerscheinlosen, also beinahe ausschließlich die der Schüler und Auszubildenden, signifikant kleiner wird, werden die Alten absolut und relativ zur Gesamtbevölkerung mehr und mehr. Die zukünftigen Kohorten Älterer werden im Gegensatz zu den bisherigen in ihrer großen Mehrheit sowohl mit einem Führerschein ausgestattet sein als auch über Fahrpraxis und einen eigenen Pkw verfügen. Die spezifischen (Auto-)Mobilitätsraten der über 65-Jährigen von morgen werden aller Voraussicht nach steigen.
Als neue Randbedingung schält sich schließlich eine zunehmende Stadt-Land-Spaltung heraus: Die verdichtete Stadt braucht selbst dort, wo sie Einwohner verliert, auch künftig öffentlichen Verkehr. Das gilt umso mehr für prosperierende Städte und Ballungsräume. Schon aus Platzgründen wäre eine weitere Zunahme des Autoverkehrs völlig dysfunktional. Anders sieht es in weniger verdichteten, insbesondere in ländlichen Regionen aus. Dort, wo es genügend Verkehrsflächen und beinahe Vollmotorisierung gibt, ist die Finanzierung des ÖPNV aus Steuermitteln nur mit sozial- und umweltpolitischen - oder im Fall des Schülerverkehrs mit bildungspolitischen - Argumenten zu begründen. Die ökonomische Voraussetzung für einen effizienten Bus- und Bahnverkehr, die Bündelung von Nachfrage, droht außerhalb der verdichteten Städte zu entfallen. An die Stelle der "Großraumgefäße" könnte daher ein innovatives, flexibles Angebot treten, das mit Kleinfahrzeugen, Taxis, Vans oder Kleinbussen realisiert wird.
Wandel der Staatlichkeit?
In der Stadt- und Raumplanung werden die Probleme hinsichtlich der Anpassungsleistungen in den Infrastrukturen insbesondere in den Schrumpfungsregionen ausführlich diskutiert.
Die Anpassungen der Verkehrspolitik an die demographisch und wirtschafts- sowie regionalstrukturell verstärkten Verschiebungen in der Nachfrage in den verschiedenen Transportmärkten zum einen und an die Gleichzeitigkeit von Schrumpfen und Wachsen zum anderen stehen dagegen erst am Anfang. Als offizielles Dokument der Zielplanung gilt der Bundesverkehrswegeplan (BVWP), der Infrastrukturinvestitionen bis 2015 fixiert, dessen Grundprämissen aber auf einem Wirtschaftswachstum von mehr als 2,5 Prozent pro Jahr, einer kontinuierlich steigenden Bevölkerung sowie einem ständig steigenden Einkommen beruhen - Annahmen, die praktisch von keinem wissenschaftlichen Institut mehr geteilt werden.
Aber auch die den operativen Alltag des Verkehrs regulierenden Gesetze wie das PBefG, das Allgemeine Eisenbahngesetz, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz oder das Regionalisierungsgesetz folgen noch im-mer dem Pfad einer wachstumsorientierten Erschließungspolitik. Eine den demographischen und wirtschaftsstrukturellen Entwicklungen angemessene Skalierung und Flexibilisierung des ÖPNV-Angebotes ist in diesen Gesetzen nicht vorgesehen. Ziel der Anpassung der gesetzlichen Grundlagen im Verkehrssektor muss es aber sein, von einer flächendeckenden und steuerfinanzierten Grundversorgung Abschied zu nehmen und auf eine bedarfsorientierte, nutzerfinanzierte Angebotsbereitstellung umzuschwenken. Es gilt, Fehlallokationen öffentlicher Mittel bei Investitionen und Betriebszuschüssen sowie durch steuerliche Anreize zu vermeiden. Hierzu bedarf es der Internalisierung externer Kosten durch den Einstieg in eine Nutzerfinanzierung sowie den Abbau innovationshemmender Überregulierungen und Subventionen von nicht angepassten Angebotsformaten.
Die Abkehr von einer kompensatorischen Infrastrukturpolitik im Verkehr und der Umstieg auf eine Nutzerfinanzierung bedeuten auch den Wechsel von der Objekt- zur Subjektförderung, wie sie im Wohnungsbau bereits realisiert worden ist. An die Stelle eines flächendeckenden Angebots von Bussen und Bahnen werden Unterstützungsleistungen für definierte Bedürftigkeit treten. Ein Mobilitätsgeld, Taxigutscheine oder sogar Beihilfen für eine Autoanschaffung stellen sinnvolle Instrumente dar, um individuelle Mobilität dort zu sichern, wo kollektive Verkehrsangebote ökologisch und ökonomisch nicht mehr sinnvoll betrieben werden können. Dort, wo in absehbarer Zeit kaum gebündelte Verkehre im Routinebetrieb auftreten werden, sollten Möglichkeiten für private Initiativen geschaffen werden und beispielsweise der Geltungsbereich des PBefG begrenzt werden.
Es geht nicht nur um die Anpassung der Verkehrspolitik und die Umsteuerung in der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung an veränderte Rahmenbedingungen einer schrumpfenden Gesellschaft. Im Kern ist mit den skizzierten Folgen des demographischen und wirtschaftsstrukturellen Wandels das Selbstverständnis der deutschen Nachkriegsdemokratie tangiert. Der mit "Modell Deutschland" umschriebene Konsens einer grundsätzlichen Erschließungspolitik wird kaum mehr aufrecht zu erhalten sein. Die Sicherung "gleichwertiger Lebensbedingungen" sollte als Politikziel aufgegeben werden, weil sich dahinter lediglich ein subjektives Recht verbirgt, kein objektives auf eine definierte staatliche Leistung. Die Formel ist in Verdacht geraten, als Legitimationsbeschaffung für einen starken und dirigistischen Staat zu dienen, der sein Leistungsprogramm zwar deutlich reduziert, seinen Geltungsanspruch hingegen ausbauen will.
Die sich in den nächsten Jahrzehnten extrem entwickelnden Disparitäten werden auch den Wandel der Staatlichkeit forcieren und die staatliche Eingriffstiefe differenzieren müssen. Der moderne Interventionsstaat wird nicht mehr flächendeckend agieren, sondern seine Kapazitäten auf Räume konzentrieren, in denen ein hoher Finanzierungs- und Regelungsbedarf besteht.