Einleitung
Antisemitismus kommt auf vielfältige Weise zum Ausdruck. Er äußert sich gewalttätig durch Angriffe auf Juden und Anschläge auf jüdische Einrichtungen, er zeigt sich in der Diffamierung der jüdischen Religion oder im Ressentiment gegenüber dem vermeintlichen Reichtum von Juden. Er tritt in einer feindseligen Haltung gegenüber dem Staat Israel auf und bestreitet dessen Existenzrecht. Weltverschwörungstheorien und die Leugnung des Holocaust gehören in sein vielschichtiges Repertoire. In Deutschland können derzeit drei Formen des Antisemitismus unterschieden werden: der traditionelle Antisemitismus, der ein stereotypisiertes Bild von Juden zeichnet, das sich vor allem aus Ressentiments gegenüber einer angeblichen Überlegenheit von Juden speist, der sekundäre Antisemitismus nach dem Holocaust, der durch Schuld- und Erinnerungsabwehr sowie eine Täter-Opfer-Umkehr gekennzeichnet ist, und der aktuelle Antisemitismus, der antisemitische Elemente mit antiisraelischen und antiamerikanischen Einstellungen verbindet und das Unbehagen an der Globalisierung auf die Juden und Israel projiziert, indem diese für die Konflikte in der Welt verantwortlich gemacht werden.
Seit 1989 ist ein drastischer Anstieg antisemitischer Vorfälle in Europa zu verzeichnen. Die jährlich vom Bundesamt für Verfassungsschutz veröffentlichten Daten zeigen, dass seit dem Jahr 2000 die antisemitisch motivierte Gewalt weiter angestiegen ist. Laut Verfassungsschutzbericht für 2006 liegt der "Anteil von Personen mit latent antisemitischen Einstellungen [...] nach unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Studien dauerhaft bei bis zu 20 Prozent."
Antisemitische Einstellungen sind verstärkt bei Älteren zu finden, bei den 14- bis 29-Jährigen gibt es aktuell die geringsten Vorbehalte.
Antisemitismus und Rassismus
Antisemitismus und Rassismus können nicht als gänzlich verschiedene Phänomene bezeichnet werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1945 gingen Rassismus und Antisemitismus eine Symbiose ein, der Antisemitismus wurde zum paradigmatischen Rassismus. Heute leben wir in der postrassistischen Epoche; selbst das letzte auf dem Rassenbegriff gründende Staatswesen - die südafrikanische Apartheid - wurde zu Beginn der 1990er Jahre überwunden. Dennoch lebt der Antisemitismus weiter. Auch der Rassismus ist keineswegs verschwunden, sondern hat sich in seiner Argumentation nur vom biologistischen Rassenbegriff gelöst. Der rassistisch und völkisch fundierte Antisemitismus bildet in der Geschichte des Antisemitismus eine vergleichsweise kurze Zeitspanne, die in der Vernichtung der europäischen Juden kulminierte. Die Geschichte des Antisemitismus reicht aber weiter zurück und darüber hinaus. So können die "lange historische Zeitspanne, die unbegrenzte Beliebigkeit der Vorurteile und das höchste bislang bekannte Maß an Hass, der im Genozid endete",
Derzeit wird Antisemitismus weniger in Form der Entrechtung als durch Entwürdigung ausgeübt, weshalb er von vielen Menschenrechtsaktivisten als weniger dramatisch wahrgenommen wird.
In Deutschland findet durch die Täterschaft des Holocaust eine vehemente gesellschaftliche Abwehr der Schuld bei gleichzeitiger intensiver Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust statt. Die Aufarbeitung der Vergangenheit scheint selbst aufgeklärten Leuten so gründlich erfolgt zu sein, dass nun ein Schlussstrich unter dieses Kapitel zu ziehen sei. Diese Abwehr, eingekleidet in das Gewand der Reflexion, stellt eine große Herausforderung für eine gelingende Pädagogik gegen Antisemitismus dar. Dabei sind nicht nur die Einstellungen und Verhaltensformen der jungen Menschen, sondern auch die Haltungen der Pädagoginnen und Pädagogen zu berücksichtigen.
Neuer Antisemitismus?
Gegenwärtig wird die Frage diskutiert, ob es eine "neue" Form des Antisemitismus gebe, weshalb die alten politischen und pädagogischen Konzepte nicht ausreichten. Dabei klingt an, dass es besser sei, von historisch unterscheidbaren Antisemitismen als von Antisemitismus als einer durch die Geschichte konstanten Form der Judenfeindschaft zu sprechen. Der neue Antisemitismus zirkuliere um den Nahostkonflikt, die Infragestellung des Existenzrechts des Staates Israel und kreiere ein neues Bündnis zwischen islamischem und rechtsextremem Antisemitismus sowie linkem Antizionismus. Der Bezug auf den Konflikt im Nahen Osten wirft die Frage auf, an welchem Punkt nationalistische Kritik in Antisemitismus umschlägt. Im Nahen Osten "existiert ein realer Interessenkonflikt zwischen Juden und ihren Nachbarn, der auf beiden Seiten von den für solche Konflikte typischen negativen nationalistischen Affekten und Bildern begleitet wird. Auch wenn die Unterscheidungen bisweilen schwierig sind, darf man diese nicht einfach als Ausdruck von Antisemitismus missverstehen. Erst wenn Strukturmomente des Antisemitismus in den Argumenten auftauchen, kann man von einem islamischen oder arabischen Antisemitismus sprechen."
Die Behauptung aber, wir hätten es heute mit einer ganz neuen Form von Antisemitismus zu tun, darf bezweifelt werden. Klaus Holz vertritt die These, dass dem Antisemitismus grundsätzlich nationalistische Einstellungen zugrunde liegen, während die religiösen, rassistischen oder antikapitalistischen Begründungen sekundär seien. Der islamistische Antisemitismus sei nicht genuin religiös und zudem ein Reimport europäisch-nationalistischer antisemitischer Topoi. Für diese These spricht u.a. die enge Zusammenarbeit zwischen Nationalsozialisten und dem Mufti von Jerusalem Amin al-Husaini. "Dieser erste bedeutende arabische Antisemit [...] wurde um 1930 zur maßgeblichen Autorität der palästinensischen Nationalbewegung"
Holz entfaltet das binäre Schema mit der Konstruktion des Dritten, der grundsätzlich "der Jude" sei, als die zentrale kognitive Struktur des Antisemitismus. Ist im binären Schema von Wir und Ihr das Ihr schon unterschieden, d.h. diskriminiert, so steht das Dritte außerhalb dieses Schemas und gefährdet die allgemeine Ordnung. Daher rührt der Hass auf die, die alles in Frage stellen und deshalb - in der Vorstellung des Wir - auch überall anzutreffen sind, da sie nirgendwo zu verorten sind.
Herausforderungen für die Pädagogik
Die präventive Pädagogik gegen die Ausbildung und Tradierung antisemitischer Vorurteile steckt in den Kinderschuhen, wenngleich im Bereich der Gedenkstättenpädagogik und der schulischen Vermittlung des Holocaust langjährige Erfahrungen und ausgearbeitete didaktische Ansätze zur historischen Auseinandersetzung vorliegen. Die gegenwärtige Diskussion um eine Neuausrichtung der pädagogischen Vermittlung der Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust zeigt aber, dass das Ziel, nämlich der Abbau antisemitischer Vorurteile, nicht erreicht wurde. Es zeigt auch, dass historisches Wissen nicht automatisch vor Vorurteilen schützt oder zur Orientierung in der Gegenwart beiträgt. Erst in den vergangenen Jahren hat sich eine spezifische Pädagogik gegen aktuelle Formen des Antisemitismus entwickelt. Noch 2004 wurde konstatiert: "Für den Bereich des Antisemitismus fehlt es im Unterschied zur pädagogischen Bearbeitung des Rassismus an Materialien, Methoden und Konzepten."
In der Literatur wird auf zwei Aspekte verwiesen, die die pädagogische Vermittlung des Holocaust und des Antisemitismus neu bestimmen: das Generationenverhältnis und dieEinwanderungsgesellschaft. Nach Astrid Messerschmidt haben wir es heute mit der dritten Generation nach dem Holocaust zu tun, die sich in Auseinandersetzung mit der Deutungshoheit der zweiten Generation, welche die Anerkennung des Holocaust in Abgrenzung zu ihren Eltern durchsetzte, diese Thematik aneignen muss. Zugleich befinden wir uns in einer Einwanderungsgesellschaft mit vielen unterschiedlichen Erinnerungen und Gedächtnissen.
Für Pädagogen stellt sich hier die Frage, wie solch eine Abneigung so thematisiert werden kann, dass sie zumindest irritiert wird. Es ist erwiesen, dass nicht die moralisierende Belehrung durch Erwachsene, sondern die Heterogenität der Perspektiven in einer Lerngruppe einen Lernprozess auslöst, da die Jugendlichen in der Regel nicht über geschlossene antisemitische Weltdeutungen verfügen, sondern mit Ideologiefragmenten hantieren, die sie über Bord werfen, wenn sie sich als wenig überzeugend herausstellen. Eine spezifisch deutsche Variante bildet der sekundäre Antisemitismus, der in Schuld- und Verantwortungsabwehr besteht und von der Schlussstrich-Metapher über die Relativierung bis zur Leugnung des Holocaust reicht. Er äußert sich vorwiegend in Form der Täter-Opfer-Umkehr, indem Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung angelastet und die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen als antideutsches Ressentiment gedeutet werden. Bei näherer Nachfrage zeigt sich bei jungen Menschen oft weniger ein manifester antisemitischer Vorbehalt als eine Kritik an der Art der Vermittlung von Holocaust und Nationalsozialismus. Die Pädagogik kann die unzulässige Verschiebung des Unbehagens an der etablierten Form von Erinnerung auf die Opfer reflektieren und mit den Jugendlichen über den rationellen Kern ihrer Abwehr, die Suche nach neuen und eigenen Formen von Erinnerung und Gedenken arbeiten.
Eine weitere pädagogische Herausforderung besteht darin, dass der Antisemitismus Stereotype verwendet, die vollständig von Erfahrung gereinigt oder unabhängig von ihr entstanden sind. Zygmunt Bauman nennt dies das Problem des typisierten Juden: "Das moderne Zeitalter erbte ein Bild 'des Juden' schlechthin, das sich grundsätzlich von den jüdischen Männern und Frauen in der Nachbarschaft unterschied."
Programme gegen Antisemitismus
Antisemitismus wurde in der pädagogischen Praxis bislang kaum als eigene Thematik aufgegriffen, als schulisches Thema taucht er in der Regel im Zusammenhang mit den Kreuzzügen oder dem Nationalsozialismus auf; als historisches Phänomen, das weder Vorläufer noch eine Nachgeschichte hat. Neben der historisch ausgerichteten Bildungs- und Unterrichtspraxis zum Nationalsozialismus und zum Holocaust gibt es die antirassistische und gegen Rechtsextremismus orientierte Pädagogik, die sich gegen Antisemitismus wendet, ohne ihn eigens zu thematisieren.
Die Bundesaktionsprogramme der vergangenen Jahre setzen einen neuen Akzent, indem sie Antisemitismus im Titel führen.
Antisemitismus unter Jugendlichen mit islamischem Migrationshintergrund
"Viele muslimische Jugendliche in Deutschland denken antisemitisch. Und ihre Gewaltbereitschaft wächst", titelte jüngst das Wochenmagazin "Die Zeit". Sie bezeichnet den Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf am 2. Oktober 2000, der - wie sich später herausstellte - von zwei jungen Männern mit palästinensischem und marokkanischem Migrationshintergrund begangen wurde, als "die erste antisemitische Gewalttat mit muslimischem Hintergrund".
Es gibt bereits Initiativen, die sich diesem Thema widmen. Darunter ist besonders die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus zu erwähnen, die von Personen mit Migrationshintergrund gegründet wurde und mittlerweile diverses Praxismaterial veröffentlicht hat.
Vermittlung jüdischer Geschichte und Gegenwart
Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus wird in jüngster Zeit eine differenziertere Repräsentation von Juden in der Bildungspraxis und in Lehrmaterialien eingefordert: Bei der Auseinandersetzung mit Antisemitismus rückten Juden bislang vor allem als Opfer in den Blick, die Geschichte des Judentums werde nur im Kontext von Antisemitismus rezipiert. Die Viktimisierung weise Juden einzig den Status des Opfers zu. Um dieser Fremdbestimmung entgegenzuwirken, müsse die Geschichte des Judentums in seiner ganzen Breite und Vielfalt unterrichtet werden. Spurensuche jüdischen Lebens dürfe nicht nur die gewaltsam verwischten Spuren suchen, sondern müsse sich auch dem heutigen Judentum zuwenden. In einer pädagogischen Empfehlung des Leo Baeck Instituts heißt es: "Zwar ist fortdauerndes Erinnern an die Judenverfolgung und den Zivilisationsbruch des Holocaust im Unterricht unverzichtbar, doch eine weitgehende Reduzierung der deutsch-jüdischen Geschichte auf diese Dimension ist didaktisch verfehlt. Sie lässt Juden vorzugsweise als Objekte und Opfer der deutschen Geschichte erscheinen, nicht jedoch als Träger einer eignen Kultur und als Mitgestalter der modernen Welt."