Einleitung
Am Vortag des Irakkriegs 2003 sagt ein Viertklässler zu Beginn des Unterrichtsgesprächs: "Die USA will das Erdöl haben, und wenn der Irak das nicht gibt, deswegen haben die auch später Gerüchte gemacht, dass die deswegen auch Atombomben wegen dem Erdöl machen. Also die machen vom Erdöl so gefährliche Chemikalien. Und Bush will ja so oder so Krieg, der ist ja immer so gierig. Der will ja nur regieren."
Der Junge äußert eine politische Einstellung. Er spricht vom Erdöl, von George W. Bush und dessen Willen zum Krieg und zum Regieren. Seine Argumentation ist aus Erwachsenenperspektive ein wenig "holprig", aber durchaus erkennbar. Der Junge ist kein Ausnahmeschüler: Kinder begegnen dem Politischen in den Medien, wo sie professionell gestaltete Kinderseiten und Fernsehsendungen wie "logo" oder "neuneinhalb" finden, aber oftmals auch die "Tagesschau" zusammen mit Erwachsenen sehen. Sie begegnen dem Politischen "auf der Straße" in Form von Plakaten oder Demonstrationen. Sie hören Erwachsene über Politik und Politiker reden. Sie erfahren vermittelt über ihre Familiensituation die Auswirkungen von Familien- und Arbeitsmarktpolitik. Es gibt vielfältige Quellen, die ihre politische Sozialisation beeinflussen.
Unterrichtsprotokolle zeigen, dass Grundschülerinnen und -schüler die Namen vielgenannter Politikerinnen und Politiker kennen sowie Parteien aufzählen können. Doch was wissen sie über Politik? Für ein Wissen, das Orientierung im Bereich des Politischen erlaubt, genügt es bekanntlich nicht, Namen zu kennen. Weiß der eingangs zitierte Viertklässler, was "regieren" ist? Vielleicht hat er eine politische Einstellung, ohne das dafür nötige Wissen zu haben - dieses Phänomen ist nicht nur bei Kindern zu finden. Zwar belegen Untersuchungen, dass das politische Interesse bei Jugendlichen erst ab dem 14. Lebensjahr signifikant ansteigt. Doch bedeutet dies nicht, dass sich Kinder gar nicht für Politik interessieren und dass sich ihr Interesse nicht im Unterricht für sie gewinnbringend aufgreifen ließe. Kinder begegnen dem Politischen auf vielfältige Weise und sind von den Folgen politischer Entscheidungen und Handlungen direkt und indirekt betroffen. Sowohl aus bildungs- als auch aus demokratietheoretischen Gründen sollten sie das Recht auf politische Bildung haben.
Empirische Forschungen
Empirische Forschungen zum politischen Wissen von Kindern zeigen, dass sie politische Ereignisse in der Welt wahrnehmen. Die Forschungen begannen mehrheitlich in den 1960er/1970er Jahren. Politikwissenschaftler in den USA bezogen sich primär auf die Makroebene des Politischen, also auf das politische System und seine Institutionen, und sahen Kinder als eher passive Empfänger der Botschaften aus ihrer Umgebung an. Erst seit den 1980er Jahren wird die Mikroebene des Politischen in die Forschungen einbezogen. Seitdem werden auch Fragen der Wertevermittlung, Einstellungen und kognitive Modelle, d.h. aktive Konstruktionen der Individuen betrachtet.
In der Längsschnittstudie von Stanley W. Moore, James Lare und Kenneth A. Wagner zeigt sich von der Vorschule bis hin zu Viertklässlern eine deutliche Zunahme an politischem Wissen.
Solche Tests können naturgemäß nur etwas über staatskundliches Faktenwissen, weniger über politische Konzepte der Kinder aussagen. Konzepte werden in der kognitiven Theorie als kognitive Wissenseinheiten, als Vorstellungskomplexe und Wertungen über zentrale Merkmale von Dingen oder Phänomenen definiert.
Dabei zeigen die Studien durchaus Anknüpfungspunkte für den Unterricht. Acht- bis Zehnjährige erfassen zwar das Wesen des Staates noch nicht, aber sie kennen Begriffe, die zur Konzeption von "Staat" nötig sind. So beschreiben sie den Staat mit territorialen Begriffen und Einwohnern, ohne jedoch Regierung und Gesetze zu nennen. Grenzen konstruieren sie mit geographischen Begriffen (z.B. Berge) oder physikalischen Ausdrücken (z.B. Wand), ebenso mit Begriffen wie "Einheit" oder "Trennung": "Misconceptions arise when children's theories cannot fill the gaps in their information, and they necessarily turn to inappropriate analogies and generalisations."
Politische Bildung in der Grundschule
In Deutschland wurde politisches Lernen in der Grundschule lange Zeit eher abgelehnt - außer in den reformfreudigen 1970er Jahren.
Ein weiteres Hindernis für politisches Lernen in der Grundschule liegt darin, dass Lehrkräfte des Sachunterrichts nur selten in politischer Bildung ausgebildet sind.
Welcher Politikbegriff ist im Unterricht sinnvoll?
Manche Lehrkräfte folgen lieber demokratiepädagogischen Ansätzen, die ein eher unpolitisches soziales Lernen favorisieren: Es werden z.B. Gesprächs- und Diskussionsregeln sowie Formen des Abstimmens geübt. Dabei wird von einem "weiten Politikbegriff" ausgegangen, der alles umfasst, was menschliche Gruppen und Gemeinschaften betrifft. "Gute Beispiele" mit meist eindeutig guten und schlechten Haltungen und moralischen Implikationen werden unterrichtet. Es besteht hier die Gefahr, dass die Lernenden kein systematisierendes Wissen erwerben und sich später enttäuscht von der realen Politik abwenden, die nur selten so überschaubar oder eindeutig zu bewerten ist.
Eine andere Position grenzt politisches vom sozialen Lernen sowie von der Demokratiepädagogik begrifflich und didaktisch ab. Sie bezieht sich auf einen "engen Politikbegriff" und versucht, fachspezifische Kompetenzen zu definieren. Sie lässt sich mehrfach begründen. Zum einen haben Kinder ein Recht auf Aufklärung und auf Hilfestellungen zur Orientierung in der Gesellschaft, in der sie leben. Wissen schützt vor Fehldeutungen und irrationalen Ängsten. So ist es im Zusammenhang mit dem Thema Krieg für Kinder wichtig zu wissen, dass er bei ihnen nicht quasi "über Nacht" ausbrechen wird. Dafür müssen sie ihn jedoch von anderen Konflikten wie Streitigkeiten oder von kriminellen Handlungen unterscheiden können. Des Weiteren haben Kinder als Gesellschaftsmitglieder das Recht, an ihrer Mit- und Umwelt zu partizipieren. Dies kann sich auf Regelungen in der Schule oder Kindertagesstätte, auf Anhörungen von Kindern und ihren Interessen im Gemeinderat oder Mitarbeit an den Themen der Regionalzeitung beziehen.
Eine weitere Begründung für die Vermittlung eines Politikbegriffs ergibt sich daraus, dass zur Förderung von politischem Lernen die Auseinandersetzung mit realen politischen Ereignissen wichtig ist.
Politische Kompetenzen fördern
Zeitgemäßer Unterricht versucht, Wissen, Können und Persönlichkeitsbildung miteinander zu verbinden. Der Begriff der Kompetenzen integriert diese Aspekte. Dennoch ist es zur Unterscheidung der Unterrichtsziele und für ihre systematische Förderung sinnvoll, verschiedene Kompetenzdimensionen zu definieren. In naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken hat sich die Differenzierung der Kompetenzen in die Dimensionen Fachwissen, Erkenntnisgewinnung, Kommunikation und Bewerten/Beurteilen durchgesetzt. Sie sind auch für die politische Bildung in der Diskussion.
Vorrangig sind beim politischen Lernen die Themen, denen die Kinder in ihrem Alltag begegnen. Die Lernenden sollten den Sinn des politischen Unterrichts für ihr eigenes Leben erkennen können. Dafür sind Lernkontexte zu schaffen, die diesen Sinn vermitteln. Dies bedeutet jedoch nicht, dass über alle Unterrichtsthemen situativ entschieden wird und sie damit dem Zufall unterliegen. Für viele Themen lässt sich eine objektive Betroffenheit feststellen, die den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen ist; diese Themen gehören zu den Inhaltsbereichen Familie, Kinderrechte, Krieg und Frieden, Geld, Konsum, Arbeit, Geschlecht, Gemeinde oder auch Bildung für Nachhaltigkeit. Sie sollten jeweils als aktualisierte Schlüsselprobleme und auf die Situation der Kinder bezogen unterrichtet werden. Hinzu kommen Themen, die sich aus aktuellem Anlass ergeben und beispielsweise durch ihre Medienpräsenz das Interesse der Kinder geweckt haben.
Damit die Themen nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern von den Kindern ein Zusammenhang zwischen ihnen hergestellt, also kumulatives Lernen stattfinden kann, ist es wichtig, Basiskonzepte zu vermitteln. Diese werden auch als Leitideen oder übergeordnete Prinzipien bezeichnet und verdeutlichen die Grundvorstellungen einer Disziplin. Schülerinnen und Schüler sollen mit ihrer Hilfe politische Inhalte beschreiben und strukturieren können; sie dienen als "analytisches Werkzeug". Zudem stellen die Basiskonzepte sicher, dass das Politische an Themen herausgearbeitet wird; sie geben den Lehrkräften Orientierung, indem sie mit ihrer Hilfe Themen auswählen, strukturieren und aufeinander beziehen können. Zurzeit können für die politische Bildung in der Grundschule die Basiskonzepte Macht (im Kontrast zur Autorität) und Öffentlichkeit (als Gegensatz zu Privatheit) als allgemein akzeptiert gelten, die schon in früheren deutschen sowie in internationalen Curricula vorkommen.
Es ist eine fachdidaktische Forschungsaufgabe, Basiskonzepte für verschiedene Kompetenzniveaus genauer zu beschreiben und empirisch zu validieren. Dabei geht es nicht darum, alle Lernenden auf eine Definition z.B. von Macht als die einzig wahre "einzuschwören", oder um eine erneute "Wissenschaftsorientierung" wie in den 1970er Jahren. Zum einen sind den Lernenden nützliche und sinnvolle Konzepte anzubieten, mit denen sie sich politische Phänomene erklären können. Derart kontextualisiert, verändern sich "reine Definitionen" und verdeutlichen, dass über politische Begriffe diskutiert werden kann. Zum anderen sind möglichst früh Fehlkonzepte zu vermeiden oder auch zu korrigieren, da sie zu Vorurteilen, diskriminierenden Meinungen und letztlich aufgrund falscher Erwartungen zu Politikverdrossenheit führen können. Zudem werden die Unterrichtsthemen (z.B. über Autorität und Macht) auf reale Erfahrungsbereiche der Kinder bezogen (z.B. Machtstrukturen in der Schule), so dass sich Reflexionen über die Phänomene und eigene Erfahrungen gegenseitig bereichern. Die Wissensvermittlung findet eingebettet in die anderen Kompetenzdimensionen statt.
Es finden sich in der Literatur zahlreiche Methoden zur Erkenntnisgewinnung, mit denen sich Kinder das Politische adäquat erarbeiten können. Wichtig ist, dass sie zu Zielen und Inhalten des Unterrichts passen und mit Phasen der Reflexion verbunden werden. Für den Politikunterricht sowohl in der Grundschule als auch auf der gymnasialen Oberstufe fehlt Wirkungsforschung jedoch weitgehend. Daher lässt sich bislang über "bessere" oder "schlechtere" Formen der Erkenntnisgewinnung nur spekulieren oder auf fachunspezifische schulpädagogische Forschungen verweisen.
Kommunikation ist eine wesentliche Kompetenzdimension für politische Bildung in jeder Altersstufe. Hierzu gehören das Erschließen von Informationen und die Kompetenz, sie sachbezogen darstellen und austauschen zu können. Beobachtungen sind in geeigneten Präsentationen (Vortrag, Rollenspiel, Wandzeitung) wiederzugeben. Ziel ist, eigene Interessen und Bedürfnisse adäquat auszudrücken, sich aktiv für eine Position einzusetzen oder einen Standpunkt in einer Diskussion argumentativ vertreten zu können. In Kommunikationen kann auch über die Fachkonzepte gestritten werden. Nicht jedes Konzept ist eindeutig definiert, sie sind Produkte menschlichen Denkens über öffentliche Dimensionen des Zusammenlebens. Insofern gehören Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse zum politischen Lernen. Insbesondere philosophische Gespräche unterstützen die sachorientierten Zugangsweisen, indem Kinder über Fragen der Gerechtigkeit, Verantwortung oder Freiheit nachdenken.
Politische Bewertung bzw. Urteilskompetenz ist das erklärte Ziel politischen Lernens. Politische Urteile beziehen sich auf eine empirische Situation, für die "wertorientiert Stellung bezogen wird", die das "Gedeihen des Gemeinwesens" berücksichtigt und die Partei ergreift. Sie sind insofern vom Moralurteil zu unterscheiden, das kontextunabhängig "unbedingte Geltung" anstrebt.
In der Literatur finden sich manchmal noch weitere Kompetenzdimensionen wie Konfliktfähigkeit und Perspektivenübernahme. Sie sind ohne Zweifel wichtig, aber hier im Zusammenhang mit politischem Lernen nicht berücksichtigt, da sie zu den (fachunspezifischen) basalen Kompetenzen gehören, die beispielsweise auch im Deutsch- und Religionsunterricht angestrebt werden.
Mit Blick auf andere Staaten lässt sich feststellen, dass in Deutschland Nachholbedarf besteht. So ist das amerikanische Curriculum "We the People" in dem Sinne vorbildlich, als es kumulatives Lernen ermöglicht, die Schülerinnen und Schüler bei jedem Lernschritt über das zu Lernende informiert, auf einer Metaebene zur Reflexion über das Gelernte anregt und den Lernenden verschiedene Möglichkeiten gibt, ihren Lernerfolg zu überprüfen. Politische Bildung, die den Anspruch an Emanzipation und Aufklärung stellt, muss diesen auch beim Lernprozess selbst einlösen.
Die skizzierten Forschungen zeigen, dass es möglich, wichtig und sinnvoll ist, politische Bildung in der Grundschule zu stärken. Dann hätte auch der eingangs zitierte Viertklässler eine Chance, beispielsweise zu erfahren, dass Kriege nicht nur aufgrund einzelner Politiker stattfinden, sondern Interessengruppen daran mitwirken, oder dass das Regieren demokratischen Kontrollen unterliegt - und er könnte seinen Zorn über den Krieg auch als politische Kritik formulieren. Vielleicht erhalten Kinder dann sogar mehr Gehör in der Gesellschaft.