Einleitung
Es gehört zu den politikwissenschaftlichen Binsenwahrheiten, dass der Charakter eines Regierungssystems maßgeblich von den Strukturen des Parteiensystems bestimmt wird, die innerhalb der von der Verfassung konstituierten Staatsorgane wirken und deren Funktionieren prägen. Als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft und Vermittler im institutionellen Gefüge sind die Parteien die eigentlichen Träger des Regierungsprozesses. Dies gilt insbesondere für die parlamentarischen Systeme, deren - auf dem Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition basierende - Funktionslogik ohne ideologisch und organisatorisch festgefügte Parteien nicht vorstellbar wäre.
Die konkrete Ausprägung der parlamentarischen Funktionslogik unterscheidet sich unter den Regierungssystemen allerdings erheblich. Folgt man der Demokratietypologie des niederländischen Politikwissenschaftlers Arend Lijphart,
Zum anderen stellt sich die Frage, ob und wieweit die Macht innerhalb der parlamentarisch bestellten Regierung zwischen verschiedenen Parteien geteilt ist. Auch hier gibt es unter den parlamentarischen Systemen ein weites Spektrum, das bei den einfarbigen Regierungen im britischen Westminster-Parlamentarismus beginnt und bis zu einer verkappten Allparteienkoalition reichen kann. Je mehr Parteien an einer Koalition beteiligt sind und je größer der Stimmen- bzw. Mandatsanteil ausfällt, über den sie gemeinsam verfügen, umso stärker weicht das System von der Lehrbuchvorstellung des "alternierenden" Regierungsmodells ab, das in annähernder Reinform nur in Großbritannien und den sogenannten Westminster-Demokratien verwirklicht ist. Das alternierende Modell basiert auf dem Gegenüber von zwei großen Parteien, die sich in der Übernahme der Regierungsmacht ablösen. Dies gibt dem Wähler einen denkbar großen Einfluss, da er durch seine Entscheidung einen vollständigen Regierungswechsel herbeiführen kann. In den Konsenssystemen kommen solche vollständigen Wechsel dagegen nur im Ausnahmefall vor. Hier sorgt der Zwang zur Koalition zwar für eine größere Repräsentativität der Regierungspolitik, doch wird der Einfluss des Wählers auf die Regierungsbestellung gerade dadurch begrenzt. Die richtigen Folgerungen aus dem Wahlergebnis zu ziehen, bleibt zumeist ganz den Parteien bzw. Parteiführungen überlassen, die nach dem Wahltag über die Regierungsbildung verhandeln.
Anders als in der Literatur gelegentlich behauptet, wird das Wettbewerbsprinzip, auf dem die parlamentarische Parteiendemokratie wesensmäßig basiert, durch den Konsensualismus nicht aufgehoben, sondern lediglich "transformiert". An die Stelle des gegnerschaftlichen Antagonismus zweier politischer Lager tritt eine Vielzahl miteinander rivalisierender Parteien, die gleichwohl in der Lage sein müssen, in einer möglichen gemeinsamen Regierung vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Im Unterschied zum mehrheitsdemokratischen Westminster-System wird der Wettbewerb in den Konsensdemokratien deshalb nicht ausschließlich vom Gegensatz zwischen Regierung und Opposition beherrscht. So wie die Koalitionsparteien innerhalb der Regierung weiter Konkurrenten bleiben, können auf der anderen Seite die Oppositionsparteien nach Bedarf in die Regierungszusammenarbeit einbezogen werden. In dieser Hinsicht am weitesten geht das in den skandinavischen Ländern verbreitete Modell der Minderheitskabinette, das die Regierungsparteien auch institutionell auf die Unterstützung eines Teils der Opposition angewiesen macht.
Vom Vielparteiensystem zum Bipolarismus
Das deutsche Regierungssystem wird in der politikwissenschaftlichen Komparatistik üblicherweise als Mischform zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratie eingestuft.
Der so entstehende Konsensbedarf hätte leicht befriedigt werden können, wenn das parlamentarische System ebenfalls auf ein konsensuelles Zusammenwirken der politischen Akteure programmiert gewesen wäre. Legt man die Lijphart'schen Unterscheidungskriterien zugrunde, erfüllt die Bundesrepublik die Kriterien einer Konsensdemokratie (Koalitionsregierung, exekutiv-legislative Gewaltenteilung und Mehrparteiensystem) hier allerdings nur formell.
Dass die Entwicklung des Parteiensystems die Herausbildung eines Westminster-ähnlichen Regierungsmodells ermöglichen würde, war bei Gründung der Bonner Republik noch nicht absehbar. So wie es sich mit der ersten Bundestagswahl 1949 herauskristallisierte, stand dieses System noch weitgehend in der Tradition von Weimar. Erst in den fünfziger Jahren sollte es sich in Richtung jener Zweieinhalb-Parteien-Struktur entwickeln, die bis zu Beginn der achtziger Jahre Bestand hatte.
Mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag begann 1983 eine neuerliche Pluralisierungsphase, die zur Herausbildung zunächst einer Vier-Parteien-Struktur und dann - durch das Hinzutreten der PDS im Zuge der deutschen Vereinigung - einer Fünf-Parteien-Struktur führte.
Andererseits sorgte das Auftreten der PDS dafür, dass die Bildung einer Regierung nach dem vertrauten Muster schwieriger wurde. 1994, 1998 und 2002 blieben die Postkommunisten noch zu schwach, um das Zustandekommen einer kleinen Koalition zu vereiteln, was aber schon hier nur um Haaresbreite - und dank der institutionellen Zufälligkeit der Überhangmandate - gelang. Die erfolgreiche Etablierung einer gesamtdeutschen Linkspartei führte schließlich dazu, dass es bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 für keines der beiden Lager (SPD/Grüne und Union/FDP) mehr zur Mehrheit reichte.
Koalitionen und Regierungsformate in den Ländern
Eine Analyse der Parteiensystementwicklung und ihrer Folgen für die Regierungsbildung muss zwingend auch die Länderebene mit in den Blick nehmen. Ein Grund dafür wurde bereits genannt: Indem sie über die Zusammensetzung der Zweiten Kammer entscheiden, wirken Landtagswahlen sich unmittelbar auf die Regierungspolitik aus. Der andere Grund ist noch wichtiger. Die Existenz einer zweiten staatlichen Ebene ermöglicht es, Entwicklungen in der Bundespolitik vorwegzunehmen. So wie die Oppositionsparteien ihre Regierungsfähigkeit vor der Wählerschaft demonstrieren können, wenn sie in den Ländern (mit)regieren, so werden auch Koalitionen und Regierungsformate in der Regel über die Länderpolitik angebahnt. Diese fungiert also als eine Art Versuchslabor, um die neuen Modelle serienreif (oder "salonfähig") zu machen.
Bei der Analyse der Regierungsmodelle sind drei Ebenen auseinanderzuhalten. Erstens geht es um die parteipolitische Zusammensetzung möglicher Koalitionen, zweitens um den Regierungs- bzw. Koalitionstypus (Alleinregierung, kleine Koalition oder Große Koalition) und drittens um das Regierungsformat (Minderheits- oder Mehrheitsregierung).
Ein Vergleich der Koalitionstypen und Regierungsformate in Bund und Ländern offenbart interessante Unterschiede. Konnte sich das mehrheitsdemokratische Modell auf der Bundesebene schon 1949 durchsetzen und - von der kurzzeitigen Ausnahme der ersten Großen Koalition (1966 - 1969) abgesehen - bis 2005 behaupten, so standen auf der Länderebene im Zeitraum 1946 bis 1955 dem "Normalfall" einer Alleinregierung (fünf Fälle) oder kleinen Koalition (neun Fälle) immerhin zehn Große Koalitionen und 11 (!) Allparteienregierungen ohne numerisch ernst zu nehmende Opposition gegenüber, die dem Prinzip der alternierenden Regierung widersprachen. Die Angleichung an das mehrheitsdemokratische Modell des Bundes erfolgte in schnellen Sprüngen ab Mitte der fünfziger Jahre. Dabei spielte auch das Interesse der Bundesregierung eine Rolle, die Koalitionen in den Ländern weitmöglichst "gleichzuschalten", um die Durchsetzung ihrer Politik im Bundesrat sicherzustellen.
Es ist nicht ohne Ironie, dass die Normierung des mehrheitsdemokratischen Modells in den Länderverfassungen (durch die Einfügung sogenannter "Oppositionsklauseln") zu einem Zeitpunkt erfolgte, als das bundesdeutsche Parteiensystem in eine neue Phase der Fragmentierung eintrat. Existierten in der Hochzeit der Stabilität in den siebziger Jahren gerade mal drei Regierungs- bzw. Koalitionstypen und Regierungsformate, so waren es von 1990 bis 2007 bereits zwölf. Von den insgesamt 283 Regierungsjahren in den Ländern entfielen in diesem Zeitraum 102 auf Unions- bzw. SPD-Alleinregierungen, 125 auf kleine Koalitionen (in acht verschiedenen Varianten), 49 auf Große Koalitionen und sieben auf Minderheitsregierungen. Die vom Mehrheitsmodell abweichenden Regierungsformate machten damit immerhin ein Fünftel aller Fälle aus. Die Pluralisierung schlug sich auch darin nieder, dass in 87 Regierungsjahren "gemischte" Koalitionen im Amt waren, die nicht den Mehrheitskonstellationen auf Bundesebene entsprachen.
Auffällig ist, dass sich unter den kleinen Koalitionen lediglich zwei Fälle eines Dreier-Bündnisses befinden (die Ampelkoalitionen von SPD, Grünen und FDP in Brandenburg 1990 bis 1994 und Bremen 1991 bis 1995 sowie das Rechtsbündnis von CDU, Schill-Partei und FDP in Hamburg 2001 bis 2004), die zudem alle nur kurzzeitig amtierten bzw. vor dem regulären Ende der Legislaturperiode zerbrochen sind. Diese geringe Zahl ist deshalb bemerkenswert, weil die durch das Hinzutreten der PDS in den neunziger Jahren entstandene Fünf-Parteien-Struktur die Bildung von Zweier-Koalitionen eigentlich hätte erschweren müssen. Hinter der Fünf-Parteien-Struktur verbergen sich allerdings ganz unterschiedliche Muster in den alten und neuen Bundesländern, die Zweier-Koalitionen in beiden Fällen weiter erlaubten: Im Osten konnten CDU, SPD und die hier annähernd gleich starke PDS die Koalitionen aufgrund der Schwäche der kleinen Parteien weitgehend unter sich ausmachen. Und im Westen, wo die Postkommunisten bis 2005 über den Status einer Splitterpartei nicht hinausgelangt waren, ist es bei der grundsätzlichen Alternative zwischen einer bürgerlichen Koalition (Union/FDP) oder Rot-Grün geblieben. Letzteres könnte sich ändern, wenn die neu formierte Linke den Sprung in die Landesparlamente auch in den westlichen Bundesländern schafft, was ihr - unter den vergleichsweise günstigen Bedingungen eines Stadtstaates - bisher nur in Bremen gelungen ist. Ob es nach den im nächsten Jahr anstehenden Landtagswahlen in Hamburg, Hessen und Niedersachsen zu Dreier-Bündnissen kommt, ist von daher keineswegs ausgemacht. Damit könnte auch eine Gelegenheit verpasst werden, solche Bündnisse in einem Testlauf für die Bundespolitik auszuprobieren. Nachdem die Westausdehnung der PDS die Linke auf der gesamtstaatlichen Ebene als feste Größe etabliert hat, ist die Koalitionsbildung ausgerechnet hier am kompliziertesten! Noch niemals in der Geschichte der Bundesrepublik war es deshalb so schwierig vorauszusagen, welche Parteienkonstellation das Land nach der kommenden Bundestagswahl regieren wird.
Große Koalition ohne Alternative?
Dass die Zustimmungswerte der seit Ende 2005 amtierenden Großen Koalition rasch in den Keller gefallen sind, hat weniger mit den Leistungen der Regierung zu tun als mit deren Auftreten - immerhin steht die Bundesrepublik 2007 gemessen an den makroökonomischen Indikatoren so gut da wie seit sieben Jahren nicht mehr. Obwohl (oder gerade weil) sich die ideologischen Unterschiede zwischen den beiden Volksparteien abgeschliffen haben und heute geringer sind als zu Zeiten der ersten Großen Koalition,
Die strategische Ausgangslage war und ist dabei für die beiden großen Parteien unterschiedlich: Weil die SPD durch die Herausforderung von links gegenüber der Union in eine Minderheitsposition zu geraten droht, ist für sie der Anreiz, aus der Großen Koalition auszusteigen, größer als bei CDU und CSU, die bei einer Fortsetzung des Bündnisses als stärkste Partei vermutlich auch nach 2009 die Kanzlerin stellen könnten. Umgekehrt verfügt die Union im heutigen Parteiensystem über weniger Koalitionsoptionen als die Sozialdemokraten. Legt man die bisher geschlossenen Bündnisse (in Bund und Ländern) zugrunde, kann sie lediglich mit der SPD und der FDP regieren, während die SPD in der Vergangenheit auch mit den Grünen und - auf Landesebene - mit der PDS/Linkspartei koaliert hat. Unterstellt, dass es für eine bürgerliche oder rot-grüne Koalition nach dem alten Muster 2009 nicht mehr reicht, stellt sich die Diskussion um mögliche Dreier-Bündnisse vor diesem Hintergrund wie folgt dar:
- Politisch wahrscheinlicher, aber ebenfalls schwer vorstellbar, ist eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Auch hier klaffen zwischen Rot-Grün und der koalitionspolitisch eher auf die Union abonnierten FDP programmatisch wie habituell große Lücken, die erst überbrückt werden müssten. Entsprechend negativ waren die Erfahrungen mit den Ampelkoalitionen in Brandenburg und Bremen, die in beiden Ländern keine Neuauflage erfuhren. Eine "rote Ampel" hätte zudem den Nachteil, dass sie kaum regierungsfähig wäre. Im Bundesrat könnte sie nach heutigem Stand lediglich auf sieben Stimmen rechnen. Ob eine aus der Regierung herauskatapultierte Union geneigt wäre, mit ihr konstruktiv zusammenarbeiten, darf nach den Erfahrungen der Vergangenheit bezweifelt werden. Dies gilt umso mehr, als die Föderalismusreform die Beteiligungsposition des Bundesrates wider Erwarten nur unwesentlich beschnitten hat.
Wenn der Rückweg zum alten Modell der Zweier-Koalitionen durch das erwartbare Wählerverhalten versperrt ist, anderweitige Dreier-Koalitionen aber politisch (noch) nicht funktionieren, bleiben letztlich nur zwei Alternativen. Einen Ausweg aus der Koalitionsproblematik könnten erstens Minderheitsregierungen bieten. Vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen verständlich, hat dieses aus den skandinavischen Ländern geläufige Modell in der parlamentarischen Kultur der Bundesrepublik allerdings keine Wurzeln geschlagen. Das Dogma der stabilen Mehrheitsregierung scheint hierzulande in der Wirkung ungebrochen. Symptomatisch dafür sind das Scheitern des "Magdeburger Modells" in Sachsen-Anhalt, dem auch der Mainstream der Politikwissenschaft nicht viel abzugewinnen mochte,
Die zweite Alternative könnte man als österreichische Lösung bezeichnen; sie läuft auf die Perpetuierung der Großen Koalition als Regierungsmodell hinaus. Dieses Szenario mag für die Bundestagswahl 2009 zur Zeit das realistischste sein,
Schlussbemerkung
Auch in einem System flexibler Koalitionen, in dem die Große Koalition nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, geht der Einfluss des Wählers zurück. Politiker gefallen sich ja vorzugsweise an Wahlabenden gerne darin, das Volk als "Souverän" zu titulieren. Bezogen auf die Regierungsbildung sind in einem Vielparteiensystem aber nicht die Wähler der eigentliche Souverän, sondern die Parteien bzw. Parteiführungen, die über die Koalitionen entscheiden. Was aus der demokratischen Sicht des Wählers geboten wäre - die gewünschten oder nicht auszuschließenden Allianzen schon vorab anzuzeigen -, verbietet sich dabei für die Parteien zumeist aus strategischer Sicht. Einerseits könnte man durch eine solche Festlegung potenzielle Wähler abschrecken, andererseits eine mögliche Handlungsoption aus der Hand geben.
So wie die Parteien ihr strategisches Verhalten anpassen, so werden sich auch die Bundesbürger an die neue Situation des Fünf-Parteien-Systems gewöhnen müssen. "Da nahezu jede Koalition denkbar wird, ist die Abgabe der Stimme künftig etwa so, als würde man eine Flaschenpost ins Meer werfen. Man weiß nicht, wo sie ankommt."