Einleitung
Als am 22. November 2005 die zweite Große Koalition auf Bundesebene vereidigt wurde, begleitete die öffentliche Meinung dies vor allem wohlwollend und ein wenig euphorisiert. Das lag nicht allein an den hohen Erwartungen, die an die neue Regierung mit ihrer überbordenden parlamentarischen Mehrheit geknüpft wurden, sondern auch an der Tatsache, dass mit ihr zum ersten Mal in den Geschichte der Bundesrepublik eine Frau und eine aus Ostdeutschland stammende Person zur Regierungschefin gewählt wurde. Bei der ersten Großen Koalition, welche Union und SPD im Bund zwischen 1966 und 1969 eingingen, war dies noch völlig anders: Ralf Dahrendorf sah beispielsweise das "Ende des parlamentarischen Regierungssystems" gekommen, und bereits 1949 hatte Konrad Adenauer nach der Wahl seine Ablehnung einer Großen Koalition mit der Notwendigkeit einer starken parlamentarischen Opposition sowie der Sorge um eine mögliche Entstehung einer nationalistischen, außerparlamentarischen Opposition begründet.
Doch welche Auswirkungen auf das Parteiensystem sind von einer Großen Koalition tatsächlich zu erwarten? Und was ist eigentlich unter einer Großen Koalition zu verstehen?
Keine klare Kategorie für Große Koalitionen
Seit der Regierungskoalition von 1966 auf Bundesebene werden unter Großen Koalitionen Regierungszusammenschlüsse aus den Unionsparteien und der SPD verstanden, die bis dahin noch als "Allparteienregierungen" fungierten.
Große Koalition als Ausnahme der parlamentarischen Demokratie?
Meist wird in Untersuchungen über das Phänomen von Regierungen aus SPD und CDU/CSU auf die einzige Große Koalition auf Bundesebene vor 2005 verwiesen, die von 1966 bis 1969 vom CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger geführte Regierung. Doch auch in den bundesdeutschen Ländern gab es bis heute eine Vielzahl an christ- und sozialdemokratischer Zusammenarbeit: Von bis heute insgesamt 252 demokratisch legitimierten Regierungen auf Bundes- und Landesebene waren und sind 52 - und damit ein Fünftel - Große Koalitionen. Dabei veränderten die Wiedervereinigung 1990 und das Hinzukommen von fünf neuen regionalen Parteiensystemen nichts an deren Verteilung: Sowohl nach 1990 in der Bundesrepublik als auch davor in Westdeutschland und West-Berlin waren ein Fünftel aller Regierungen Große Koalitionen. 53 % von den altbundsrepublikanischen fanden allein in der Zeit zwischen 1946 und 1950 statt, nach 1970 bis zur Wiedervereinigung gab es dagegen keine einzige CDU-SPD-Regierung mehr.
Aus diesem Grund gelten Große Koalitionen sowohl bei den potenziell beteiligten Parteien als auch in der öffentlichen Meinung als "ultima ratio" bundesdeutscher Regierungsbildung, gleichzeitig erhofft man sich vom Zusammengehen der beiden Großparteien jedoch die Erledigung lange aufgeschobener Strukturreformen.
Auswirkungen Großer Koalitionen auf das Parteiensystem
Über die Auswirkungen Großer Koalitionen wurden bislang vielfältige Erwartungen geäußert, die sich vor allem auf den einen Fall einer Großen Koalition auf Bundesebene in den 1960er Jahren stützen. Die schwerwiegendsten davon betreffen mögliche Folgen für die parlamentarische Demokratie an sich, künden also vom Aussetzen der Dualität zwischen Regierung und Opposition und der Unmöglichkeit eines Regierungswechsels, da einer der beiden Koalitionspartner in jedem Fall Teil der darauf folgenden Regierung sein wird. Als weiteres werden der Output Großer Koalitionen als gering bewertet und Regierungen dieser Art mit der Erwartung struktureller Entscheidungsunfähigkeit und parteipolitischer Blockade verbunden.
Nun gilt es jedoch, empirisch nach möglichen Belegen für die genannten Vermutungen zu den Auswirkungen Großer Koalitionen zu suchen. Als Datengrundlage sollen hierfür alle 16 Großen Koalitionen im Bund und in den Ländern seit 1990 dienen, von denen jedoch sechs noch nicht beendet sind - darunter auch die derzeitige Bundesregierung. Dementsprechend konnten diese Sechs noch keine Nachfolgeeffekte bei darauf folgenden Wahlen aufzeigen. So verbleiben letztlich für die hier zu untersuchende Auswahl zehn Fälle Großer Koalitionen seit 1990. (Vgl. Tbl.: Große Koalitionen seit 1990 in der PDF-Version)
Wahlenthaltung durch Große Koalition?
Schaut man sich die Entwicklung der Wahlbeteiligung in den Bundesländern an, die seit 1990 mindestens einmal von einer Großen Koalition regiert wurden, dann zeigt sich ein im Großen und Ganzen recht einhelliges Bild: Die Wahlbeteiligung sinkt in allen Ländern im Zeitverlauf, unterbrochen nur in einzelnen Fällen von leichten, jeweils gut erklärbaren Anstiegen der Partizipation. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet das Land Mecklenburg-Vorpommern, wo die Wahlbeteiligung bis 1998 kontinuierlich von einem relativ niedrigen Niveau 1990 (64,7 %)
Nach sechs von zehn Großen Koalitionen steigen die Nichtwähleranteile - am heftigsten am Ende der Großen Koalition in Thüringen 1999 -, in vier Fällen verringern sie sich. In Berlin, Brandenburg und Bremen finden die einzigen Fälle von erhöhter Wahlbeteiligung sogar nach Großen Koalitionen statt, wobei zumindest für Berlin und Bremen gilt, dass diese Bundesländer seit 1990 die meiste Zeit von einer solchen Parteienkonstellation regiert wurden und es somit kaum andere Gelegenheiten zur Erhöhung der Wahlbeteiligung gegeben hat.
Gibt es also einen Effekt Großer Koalitionen auf die Wahlteilnahme? Die vier "abweichenden" Fälle, in denen nach einer Großen Koalition die Wahlenthaltung abgenommen hat, sind bis auf eine Ausnahme leicht zu erklären: Die mit Abstand niedrigste Wahlenthaltung nach einer Großen Koalition dürfte an der Gleichzeitigkeit des Landtagswahltermins in Mecklenburg-Vorpommern mit dem der Bundestagswahl 1998 liegen. Neben der stärkeren Mobilisierungskraft von Bundestagswahlen gegenüber Landtagswahlen im Allgemeinen sorgte die Wahl von 1998, bei der die CDU-FDP-Regierung nach 16 Jahren von der ersten rot-grünen Regierung auf Bundesebene abgelöst wurde und in deren Vorfeld eine dominante Wechselstimmung in der Wahlbevölkerung herrschte, in ganz Deutschland für eine erhöhte Wahlteilnahme um 3,2 %. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2001 in Berlin handelte es sich dagegen um eine vorgezogene Landtagswahl, die genau genommen nicht das Ende einer Großen Koalition markierte. Diese stürzte nämlich bereits im Juni 2001 aufgrund des Berliner Bankenskandals, in dessen Folge die SPD bis zur Wahl am 21. Oktober einen Minderheitensenat mit Bündnis 90/Die Grünen bildete. Insgesamt dürften die Ereignisse des Jahres 2001 die Berlinerinnen und Berliner also verstärkt an die Wahlurne gezogen haben. Der Anstieg um 1,2 % der Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl in Bremen 2003 nach der zweiten Legislatur der Großen Koalition dürfte eher zufälligen Faktoren geschuldet sein, und zuletzt fand die Wahl in Brandenburg 2004, bei der ebenfalls die Wahlenthaltung gesenkt werden konnte, ähnlich wie die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern 1998 unter dem starken Eindruck bundespolitischer Einflüsse statt. Dabei handelte es sich um die erste Stimmabgabe in der Region nach den Sozialstaatsreformen der rot-grünen Bundesregierung, die auf dem Höhepunkt der nationalen Protestwelle einer Abstimmung über die so genannte "Hartz IV"-Regelung glich, was viele ehemalige Nichtwählerinnen und Nichtwähler zur Stimmabgabe veranlasst haben dürfte.
Ob die sechs restlichen Fälle, die nach Großen Koalitionen bei der darauf folgenden Wahl erhöhte Wahlenthaltungen anzeigen, für eine generelle Kausalität zwischen CDU-SPD-Bündnissen und Wahlenthaltungen sprechen, lässt sich stark bezweifeln. Schließlich sank beispielsweise in Berlin die Wahlbeteiligung nach der ersten rot-roten Koalition aus SPD und PDS im September 2006 ebenfalls um 10 % und in Baden-Württemberg und Brandenburg sank die Wahlbeteiligung fast kontinuierlich bei allen Wahlen, ganz egal, welche Parteien zuvor die Landesregierung stellten. Auch wenn man sich das Niveau der Nichtwählervermehrung anschaut, stechen zwar die Veränderungen nach Großen Koalitionen in ihrer Stärke vor allem in Berlin, Bremen und Thüringen deutlich hervor, doch Berlin und Bremen wurden, wie bereits erwähnt, über fast die gesamten 1990er Jahre hindurch von Großen Koalitionen regiert, so dass der starke Anstieg nach einer der CDU-SPD-Regierungen keine Aussagen über den Zusammenhang zwischen Großen Koalitionen und Wahlenthaltungen erlauben. Lediglich in Thüringen ist ein deutlich höheres Niveau des Wahlenthaltungsanstiegs nach der Großen Koalition von 1994 bis 1999 zu verzeichnen gegenüber der CDU-FDP-Regierung 1994 (-3,1 %) sowie der ersten CDU-Alleinregierung 2004 (+6,0 %).
Starke Randparteien und schwache Volksparteien?
Ob es sich in Folge von Großen Koalitionen zeigen lässt, dass die Wählenden systematisch die beiden Regierungsparteien abstrafen und dafür Parteien an den Rändern des Parteiensystems sowie Kleinstparteien stärken, soll nun am Beispiel der zehn abgeschlossenen Großen Koalitionen seit 1990 untersucht werden.
Verluste sowohl bei CDU und SPD nach gemeinsamer Regierungstätigkeit und damit eine Schwächung der Volksparteien ergaben sich in vier der zehn Fälle, nämlich in Berlin nach der ersten Großen Koalition 1995, in Brandenburg 2004 und nach den beiden letzten Großen Koalitionen in Bremen 2003 und 2007. Dort hatten SPD und CDU nach ihrer ersten gemeinsamen Legislatur von 1995 bis 1999 an Wählerzuspruch sogar noch zulegen können, verspielten danach jedoch sukzessive ihren Kredit. In allen anderen fünf Fällen von Regierungskooperation zwischen CDU und SPD musste jeweils einer der beiden Partner bei der darauf folgenden Wahl Verluste hinnehmen, und zwar bis auf eine Ausnahme immer in einem solchen Ausmaß, dass diese von der anderen Regierungspartei durch eigene Gewinne nicht aufgefangen werden konnten. Lediglich in der zweiten Großen Koalition in Berlin von 1995 bis 1999 gewann die CDU mehr Stimmen hinzu (3,4 %), als die SPD an Stimmen verlor (-1,2 %). Den spektakulärsten Niedergang nach einer Großen Koalition erlebte die Berliner CDU 2001, als sie aufgrund des Berliner Bankenskandals 17 % bei der Abgeordnetenhauswahl einbüßte (SPD +7,3 %) sowie die Thüringer SPD 1999, als sie nach ihrer Beteiligung am Regierungsbündnis mit der CDU 11,1 % verlor und die CDU durch ihren Gewinn von 8,4 % der Stimmen fortan eine Alleinregierung bilden konnte. Nach den fünf Großen Koalitionen, die in eine Alleinregierung oder in ein Bündnis aus einer großen und einer kleinen Partei geführt haben, ging übrigens die SPD in drei Fällen als künftige Regierungspartei hervor,
Bei der Frage, ob nach Großen Koalitionen die jeweiligen Parteien am linken und rechten Rand des Parteienspektrums von der vermeintlichen Schwäche der beiden Regierungsparteien profitieren können, ergibt sich folgendes Bild: Nach acht der zehn untersuchten Regierungsbündnisse aus CDU und SPD erfuhr der linke Rand des Parteiensystems, als den hier die im Bundestag und in verschiedenen Landtagen vertretene PDS bzw. Linkspartei betrachtet werden soll, zum Teil starken Zuwachs. In einem Bundesland, nämlich in Baden-Württemberg, trat die PDS weder zu Beginn noch am Ende der Großen Koalition zur Wahl an. Bleibt also lediglich ein Fall, in dem die PDS nicht von der Großen Koalition profitieren konnte: 2003 in Bremen verlor sie nach der zweiten SPD-CDU-Legislatur 1,2 % der Stimmen. (Vgl. Abb. 2 in der PDF-Version)
Nicht ganz so erfolgreich, insgesamt aber auch mit positiver Bilanz gestalten sich dagegen die Auswirkungen Großer Koalitionen auf die Stimmenentwicklung der Parteien am rechten Rand:
Doch gerade bei rechtsradikalen Parteien deuten nicht allein deren Gewinne und Verluste auf Auswirkungen Großer Koalitionen hin, sondern auch die Frage, ob sich die Wahrscheinlichkeit durch eine Regierungslegislatur von CDU und SPD erhöht, dass sie Landtagsmandate erringen. Jedoch zogen in keinem der betrachteten Fälle rechtsextreme Parteien erst nach einer Großen Koalition in den Landtag ein, in Baden-Württemberg übersprangen die Republikaner bereits 1992, in Brandenburg die DVU bereits 1999 die Fünf-Prozent-Hürde - und damit jeweils vor Beginn der Großen Koalition. Auch in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD bei den Landtagswahlen 2004 bzw. 2006 jeweils zum ersten Mal in den Landtag einzog, gingen diesen Erfolgen andere Regierungskonstellationen voraus: in Sachsen eine CDU-Alleinregierung und in Mecklenburg-Vorpommern eine rot-rote Koalition aus SPD und PDS/Linkspartei.
Als weiterer Indikator für eine Ausdifferenzierung des Parteiensystems gilt das Anwachsen der Kleinst- und Kleinparteien, sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer elektoralen Stärke. Was die Anzahl der an Wahlen teilnehmenden Parteien betrifft, so steigt diese nach fünf der zehn betrachteten Großen Koalitionen seit 1990, nämlich in Baden-Württemberg von 15 auf 18 Parteien, in Berlin zwischen 1990 und 1995 von zehn auf 19 Parteien, in Brandenburg von neun auf 15 Parteien, in Bremen zwischen 1999 und 2003 von neun auf 14 Parteien und in Thüringen von elf auf 13 Parteien. In vier der restlichen Fälle nimmt das elektorale Parteiensystemformat sogar ab, und in Mecklenburg-Vorpommern treten sowohl vor als auch nach der Großen Koalition jeweils 13 Parteien zu den Landtagswahlen 1994 und 1998 an. Bei der Hälfte aller Fälle ist also eine Ausweitung des Parteiensystems, wie es sich den Wählenden in der Abstimmungskabine darstellte, festzustellen. Doch machten die Wählenden auch jeweils von dem erweiterten Parteienangebot Gebrauch und stärkten in Folge Großer Koalitionen die Kleinstparteien?
Auch die Veränderungen bei den für die Analyse verbleibenden Kleinparteien (FDP und Bündnis 90/Die Grünen) lassen nicht auf Auswirkungen der Großen Koalitionen schließen: Fünf Mal konnten jeweils Liberale wie Bündnisgrüne nach Großen Koalitionen wachsen, davon vier Mal bei denselben Wahlen. Ebenfalls in fünf Fällen wiesen die beiden Parteien auch zusammen eine positive Stimmenbilanz auf. Nach vier der zehn betrachteten Großen Koalitionen verliefen die Stimmenveränderungen bei FDP und Grünen genau spiegelbildlich zu den Wahlbilanzen der beiden Regierungsparteien: 2004 gewannen die kleinen Parteien in Brandenburg zusammen 3,1 %, während CDU und SPD gemeinsam 14,5 % verloren, 2003 und 2007 gewannen FDP und Grüne 5,6 % bzw. 5,3 %, während CDU und SPD 7,6 % und 9,6 % verloren und 1999 verlief die Bilanz in Bremen genau umgekehrt: FDP und Grüne verloren zusammen 5,1 %, während CDU und SPD 13,7 % der Wählerstimmen hinzu gewannen.
Neben diesen Einzelanalysen über die Veränderungen in den Parteiensystemen nach Großen Koalitionen lässt sich eine verstärkte Pluralität am einfachsten über die aggregierte Parteiensystemeigenschaft der Fragmentierung nach Laakso und Taagepera darstellen, bei der mit Hilfe einer statistischen Analyse die Anzahl und die Stärke der Parteien - gemessen an ihren jeweiligen Stimmenanteilen - in Relation zueinander gebracht werden.
Fazit und Ausblick
Wie sieht es nun mit den wahrscheinlichen Auswirkungen der Großen Koalition auf Bundesebene auf das bundesdeutsche Parteiensystem aus?
Was wir bei allen Landtagswahlen 2006 und 2007 bereits erleben konnten, ist eine jeweils auffällig hohe Nichtwählerquote. Die ersten drei Landtagswahlen im März 2006 nach der Bildung der CDU/CSU-SPD-Bundesregierung führten sogleich zu einigen Negativrekorden: Sowohl in Baden-Württemberg (46,6 % Nichtwählende) als auch in Sachsen-Anhalt (55,6 %) und Rheinland-Pfalz (41,8 %) gab es bei keiner Landtagswahl zuvor so hohe Nichtwähleranteile wie 2006. In Sachsen-Anhalt wurde sogar die niedrigste Wahlbeteiligung auf Länderebene seit Bestehen der Bundesrepublik gemessen, in Baden-Württemberg der niedrigste Wert für ein westdeutsches Bundesland. Auch in Berlin (42 % Nichtwählende) und Mecklenburg-Vorpommern (40,9 %) lag die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen im Herbst 2006 deutlich unter den vorherigen Werten, genauso wie in Bremen im Mai 2007 (42,4 %). Plausibel ist ein Zusammenhang mit der Großen Koalition auf Bundesebene durchaus, da ein starker Mobilisierungsgrund für Landtagswahlen - die machthabende Partei auf Bundesebene abzustrafen und stattdessen in den Ländern die Bundesopposition zu stärken - nicht zur Verfügung stand. So ging es bei den Landtagswahlen eher um Landespolitik denn um bundespolitische Kontroversen, was erfahrungsgemäß weniger Menschen interessiert und zur Stimmabgabe mobilisiert. Nach den Analysen der beendeten Großen Koalitionen in den 1990er Jahren kann keine eindeutige Vorhersage für die Entwicklung der Wahlbeteiligung nach der Großen Koalition getroffen werden: Bei einigen Fällen konnte zwar ein Grund für den Anstieg der Wahlenthaltung in einer vorangegangenen Großen Koalition vermutet werden, jedoch entsprechen die Entwicklungen auch einem längerfristigen Trend. So ist es in jedem Fall wahrscheinlich, dass auch auf Bundesebene die Wahlbeteiligung weiter sinken wird.
Blickt man dagegen auf die untersuchten Pluralisierungsindikatoren von Parteiensystemen, kann nur bei der Frage nach der Stärkung der politischen Ränder ein deutlicher Zusammenhang zwischen Großen Koalitionen und dem Erfolg der Linkspartei/PDS festgestellt werden. Lediglich in einem der zehn untersuchten Fälle konnte die PDS nicht von der vorherigen Großen Koalition profitieren. Auch nach der vergangenen Bundestagswahl zeigt sich weiterhin dieser Trend: Bei der Abwahl der Großen Koalition in Bremen im Mai 2007 gelang es der Linkspartei, zum ersten Mal in ein westdeutsches Parlament einzuziehen und 8,4 % (+6,7 %) der abgegebenen Stimmen für sich zu gewinnen. Am rechten Rand gab es dagegen nur in drei Fällen nennenswerte Zuwächse nach Großen Koalitionen und bei den sechs Landtagswahlen seit Herbst 2005 konnte die NPD lediglich in Mecklenburg-Vorpommern einen Erfolg (7,3 %) verzeichnen, allerdings im Anschluss an eine rot-rote Landesregierung, nicht an eine Große Koalition. Auch die Ergebnisse der Untersuchungen zur Entwicklung der beiden Volksparteien und der Klein- und Kleinstparteien bestätigen die These von der zwingenden Ausdifferenzierung des Parteiensystems nach einer Großen Koalition nicht. Meist lassen sich lediglich in Einzelfällen klare Zusammenhänge finden. Lediglich auf einer statistischen Aggregatebene bestätigt sich der Zusammenhang zwischen Großen Koalitionen und einer darauf folgenden Pluralisierung des Parteiensystems: Die Fragmentierung steigt nach sieben der zehn untersuchten CDU-SPD-Regierungen.
Nach dem Blick auf die Großen Koalitionen seit 1990 kann zusammenfassend also Entwarnung gegeben werden: Die Auswirkungen von Großen Koalitionen auf das jeweilige Parteiensystem lassen sich nur in den wenigsten Fällen als schwerwiegend bezeichnen, und gar ein Stabilitätsverlust des Systems, wie zu Beginn vermutet, konnte nicht festgestellt werden. Jedoch können aktuelle Tendenzen hin zu einer Pluralisierung des Parteiensystems und einer fortschreitenden Repräsentationskrise der Volksparteien ebenso wenig geleugnet werden. Dass deren Ursache allerdings in der Großen Koalition auf Bundesebene zu finden wäre, ist nahezu ausgeschlossen. Vielmehr traten all diese Entwicklungen bereits vor der Bildung der Regierung aus Union und SPD auf und entpuppen sich sogar als Anlass für deren Zusammenarbeit.
Allerdings ist es durchaus wahrscheinlich, dass die angesprochenen Tendenzen von der Großen Koalition im Bund noch verstärkt werden. Denn die vorgenommene Untersuchung geht von der Prämisse einer generellen Vergleichbarkeit von Landes- und Bundesparteiensystemen und damit von der Autonomie der jeweiligen Systemebene aus. Dass es zwischen den beiden Ebenen jedoch starke Interdependenzen gibt - vor allem durch Einflüsse der Bundesebene auf die Entwicklung der Landesparteiensysteme - wurde in der Wahlforschung unter dem Stichwort "Landtagswahlen als bundespolitische Zwischenwahlen" hinreichend bewiesen.