Einleitung
Fremdenfeindliche Orientierungen sind in Deutschland und anderen europäischen Ländern weit verbreitet - dies zeigt eine ganze Reihe von Untersuchungen der vergangenen Jahre.
Gegenwärtig dominieren Erklärungsansätze, die sich auf gesamtgesellschaftliche und sozialstrukturelle Bedingungen beziehen: Sozioökonomische Benachteiligung, sozialer Wandel, Individualisierung. Bekannt ist vor allem der Ansatz der Bielefelder Forschungsgruppe um Wilhelm Heitmeyer, wonach feindselige Einstellungen gegenüber sozial schwachen Gruppen eine Folge der wachsenden sozialen Spaltung und Desintegration unserer Gesellschaft sind.
Hinzu kommt, dass diese Erklärungsansätze die erheblichen Einstellungsunterschiede, die es innerhalb unserer Gesellschaften gegenüber Fremden, Ausländern oder Menschen mit Migrationshintergrund gibt, nicht zufriedenstellend erhellen. Dafür ist es hilfreich, zwischen unterschiedlichen Ausprägungen von Fremdenfeindlichkeit zu differenzieren und nach den Bedingungen zu fragen, die zu diesen Unterschieden beitragen.
Möglichkeiten zum Verständnis unterschiedlicher Einstellungen gegenüber Fremden sowie den Bedingungen, unter denen diese sich entwickelt haben, bietet die Sozialisationsforschung. Sie konzentriert sich vor allem auf die Kindheit und das Jugendalter und kann beispielsweise die Ausprägung bestimmter Handlungs- und Orientierungsweisen mit den Bedingungen des Aufwachsens oder den Erfahrungen, die in sozialen Beziehungen gemacht wurden, in Zusammenhang bringen. Besonders relevant ist für Kinder zunächst die Sozialisation in der Familie, später gewinnen andere soziale Kontexte (Freunde, Kindergarten, Schule, Medien) zunehmend an Bedeutung.
Es gibt gute Gründe dafür, sich im Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit mit Fragen der Sozialisation zu beschäftigen.
- Die vorliegenden Ergebnisse liefern Hinweise darauf, dass z.B. fremdenfeindlich motivierte Straftäter schon früh auffällig geworden sind. Sie kamen nicht nur als Jugendliche wegen Gewaltdelikten schon in Kontakt mit der Polizei, sondern waren häufig bereits als Kinder wegen massiver Gewaltanwendung aufgefallen. Einige der späteren Täter wurden deswegen bereits aus Kindergärten und über die Hälfte von ihnen aus Schulen verwiesen.
- Vergleicht man die Bedingungen, unter denen Menschen mit fremdenfeindlichen Affinitäten aufgewachsen sind, mit denen solcher Menschen, die gegenüber Fremden eher offen eingestellt sind, fallen Besonderheiten auf. Im Folgenden geht es vor allem um verschiedene Aspekte der Sozialisation in der Familie, aber auch um die Erfahrungen, die in Beziehungen zu Gleichaltrigen gemacht werden. Zudem sollen die Zusammenhänge zwischen diesen Erfahrungen und der Entwicklung fremdenfeindlicher, rechtsextremer und ethnozentrischer Orientierungs- und Handlungsweisen betrachtet und die vorliegenden Erkenntnisse analysiert werden.
Unvollständigkeit der Familie
Rechtsextremisten und Fremdenfeinde sind überdurchschnittlich häufig nicht in vollständigen Familien aufgewachsen, das heißt, sie lebten infolge elterlicher Trennung oder des Todes eines Elternteils mit einem alleinerziehenden Elternteil oder in einer Stiefelternkonstellation. Dies zeigt sich übrigens nicht nur bei der gegenwärtigen Generation junger Rechtsextremisten, sondern auch in den Lebensgeschichten derjenigen, die vor 1933 der NSDAP beitraten.
Vor dem Hintergrund, dass in der rechtsextremen Szene besonders einseitige Geschlechtsrollenbilder verbreitet sind, die männliche Dominanz, Durchsetzungsfähigkeit und Gewaltbereitschaft häufig verherrlichen, erscheinen Zusammenhänge zu den oft fehlenden oder belasteten Vaterbeziehungen plausibel: Wer in der Familie keine erwachsenen Männer erlebt hat bzw. keine, die für ein Kind ansprechbar und an diesem interessiert erschienen, neigt offenbar in besonders ausgeprägtem Maße dazu, seinerseits eine harte Seite von Männlichkeit zu betonen. In verschiedenen Untersuchungen wird allerdings darauf hingewiesen, dass nicht schon die formale Unvollständigkeit der Familie bzw. das Zusammenleben mit einem anderen Mann als dem leiblichen Vater, sich negativ auswirken muss. Dies ist nur dann wahrscheinlich, wenn die Beziehungen in der Familie durch diese Bedingungen belastet sind und keine Kompensation gefunden werden kann.
Beziehungen in der Familie
Erkenntnisse zum Stellenwert unterschiedlicher Qualitäten familialer Beziehungen für die Entwicklung fremdenfeindlicher Orientierungen lassen sich aus einer Untersuchung ableiten, die wir in den 1990er Jahren an der Universität Hildesheim durchführten.
Dabei zeigte sich, dass die fremdenfeindlich eingestellten jungen Männer aus ihrer Kindheit im Durchschnitt von weniger liebevoller Zuwendung und mehr Zurückweisung durch ihre Eltern berichten. Gemäß ihren Schilderungen interessierten sich ihre Eltern vergleichsweise wenig für ihre kindlichen Belange, nahmen kaum Anteil an ihren Sorgen und Nöten, nahmen Ängste weniger ernst und wiesen kindliche Hilfeersuchen häufiger zurück. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die jungen Männer mit diesen Erfahrungen später umgehen. Von einer Befragtengruppe werden diese Belastungen als irrelevant oder normal abgetan - wobei es in einigen Fällen auch Hinweise auf regelrechte Idealisierungen der Eltern gibt: Die Eltern und ihr Verhalten werden als untadelig bezeichnet, während sich in den konkreten Erzählungen deutliche Anzeichen für die emotionale Vernachlässigung der Kinder zeigen. Dieses Muster entspricht zum Teil der "Autoritären Persönlichkeit", wie sie bereits in den 1940er Jahren von der Forschungsgruppe um Theodor W. Adorno beschrieben wurde.
Auch im Rahmen anderer Untersuchungen wird deutlich, dass etwa fremdenfeindliche Gewalttäter häufiger als andere von einem frostigen Klima und von Konflikten in der Familie berichten - auch davon, dass Eltern selten mit ihnen spielten, sich wenig für sie interessierten und sie mal streng und dann wieder gar nicht bestraften.
Bei einigen Eltern, die sich aktiv darum bemühen, ihre jugendlichen Kinder beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene zu unterstützen, konnten Anzeichen dafür gefunden werden, dass ihre Erziehung durch fehlende Konsequenz und durch Überversorgung gekennzeichnet war.
Modelle und Vorbilder
Verschiedene Studien geben Hinweise darauf, dass fremdenfeindliche und rechtsextreme Orientierungs- und Handlungsweisen maßgeblich durch soziale und politische Einstellungen der Herkunftsfamilie geprägt sind. In historischer Perspektive zeigt sich dies bei den frühen Mitgliedern der NSDAP, die überwiegend aus konservativen Elternhäusern stammten und die Orientierungen ihrer Eltern aufgenommen und verstärkt haben.
Relevant sind aber nicht nur explizit politische Äußerungen und Stellungnahmen, sondern auch die familiäre Praxis der Konfliktregulierung oder der Umgang mit Verschiedenheit, die in der Kindheit als vorpolitische Modelle sozialen Handelns fungieren. Entsprechendes hat sich in unserer Untersuchung zu ethnozentrischen Orientierungen gezeigt.
Es ist davon auszugehen, dass diese Erfahrungen die Entwicklung der Kinder, ihre Orientierungs- und Handlungsweisen mit geprägt haben. Interessant ist nun aber die Frage, unter welchen Bedingungen sich die Einstellungen der Eltern prägend auf die späteren Orientierungen und Verhaltensweisen auswirken.
Beziehungserfahrungen und Orientierungen
Weitere Studien haben ergeben, dass die Qualität emotionaler Beziehungen sich darauf auswirkt, ob und wie inhaltliche Positionen der Eltern übernommen werden. Entsprechende Befunde werden in solchen Untersuchungen deutlich, die fremdenfeindliche Einstellungen bei Jugendlichen mit jenen ihrer Eltern in Zusammenhang bringen. Für Ähnlichkeiten zwischen elterlichen und kindlichen Einstellungen scheinen verschiedene Faktoren relevant zu sein: Zunächst zeigt sich, dass diese ausgeprägter und auch längerfristig festzustellen sind, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung gut und die Kommunikation in der Familie dicht ist.
Interessante Ergebnisse zeigten sich auch in unserer Untersuchung zu ethnozentrischen Orientierungen bei jungen Männern. Deutlich werden hier unterschiedliche Zusammenhänge zwischen emotionalen und inhaltlich/kognitiven Aspekten der Sozialisation in Hinblick auf ethnozentrische Orientierungen.
Diese Befunde zeigen, dass es nicht reicht, Ähnlichkeiten hinsichtlich inhaltlicher Positionen zwischen Eltern und Kindern zu erforschen - diesbezüglich kommt die Forschung zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen -, sondern dass diese Ähnlichkeiten oder Diskrepanzen vor dem Hintergrund der emotionalen Erfahrungen analysiert werden müssen.
Beziehungen in Familie und Peer-Group
Neben der Bedeutung der Familie ist auch die der Gleichaltrigen inzwischen gut belegt. Gleichaltrigengruppen (Peers) werden von Jugendlichen - neben der Familie - generell als wichtigste Ansprechpartner genannt; auch in Hinblick auf Einstellungen gegenüber Fremden geben Jugendliche an, sich vor allem an Gleichaltrigen zu orientieren.
In unserer Untersuchung zu ethnozentrischen Orientierungen zeigten sich Zusammenhänge zwischen familialen Beziehungen und solchen zu Gleichaltrigen. Junge Männer, die zum Befragungszeitpunkt eher schwierige und konfliktreiche Beziehungen zu ihren Eltern unterhielten, berichteten aus dem Kontext ihrer Peer-Groups in erster Linie von unverbindlichen Cliquenkontakten. Diese Befragten wiesen übrigens vergleichsweise aggressive Ausprägungen fremdenfeindlicher und ethnonzentrischer Orientierungen auf, die nicht selten mit Vertreibungs- und Vernichtungsphantasien verbunden waren.
Aus diesen Ergebnissen lässt sich der Schluss ziehen, dass die Ausprägung rechtsextremer, fremdenfeindlicher und ethnozentrischer Orientierungen durch Gleichaltrige ebenfalls beeinflusst wird, dass diese Einflüsse der Peer-Group aber nicht unabhängig von denen der Familie sind. Es zeigen sich sowohl Zusammenhänge hinsichtlich der Beziehungsqualitäten in Familie und Peer-Group als auch Verbindungen zwischen diesen Beziehungsqualitäten und verschiedenen Ausprägungen entsprechender Orientierungen. Aggressive Ablehnung gegenüber Fremden wird vor allem von solchen Jugendlichen geäußert, die von unbefriedigenden Beziehungen in der Familie und unverbindlichen Beziehungen zu Gleichaltrigen berichten. Moderatere Ausprägungen von Fremdenfeindlichkeit zeigen sich dann, wenn sowohl in der Familie als auch zu Gleichaltrigen verbindliche und harmonische Beziehungen bestehen.
Zusammenfassung
Durch Untersuchungen zu den strukturellen Bedingungen unseres Zusammenlebens und durch Befragungen zu Einstellungen gegenüber sozialen Minderheiten lassen sich Voraussetzungen und Ausmaß fremdenfeindlicher Orientierungen in unserer Gesellschaft klären.
Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ausprägungen von Fremdenfeindlichkeit und Bedingungen der Sozialisation zeigen sich in verschiedener Hinsicht:
- Die Familien junger Fremdenfeinde weisen im Vergleich zu den Familien fremdenfreundlich eingestellter Jugendlicher bezüglich der emotionalen Qualität ihrer sozialen Beziehungen häufig Defizite auf: Zuwendung wird spärlich und wechselhaft gewährt, Erfahrungen von Zurückweisung sind deutlich ausgeprägt, Gefühle werden kaum thematisiert, gestraft wird inkonsistent und zum Teil hart.
- In inhaltlicher Hinsicht erhalten Kinder und Jugendliche in ihren Familien teilweise Signale, welche die Entwicklung fremdenfeindlicher Affinitäten verständlich machen: Nationalsozialismus und Kriegserlebnisse werden durch Großeltern glorifiziert, die Ablehnung von Migranten und sozialen Minderheiten gilt als salonfähig, undemokratische und gewalttätige Formen der Konfliktlösung werden vorgelebt.
- Die Qualität der emotionalen Beziehungen in der Familie ist eine wichtige Bedingung für den Einfluss, den inhaltliche Anregungen entfalten. Im Rahmen stabiler und verlässlicher Beziehungen werden Modelle aus dem Elternhaus tendenziell eher übernommen; bei Beziehungen, die durch Konflikte geprägt sind, grenzen sich junge Menschen stärker von Positionen ihrer Eltern ab und orientieren sich an konkurrierenden Entwürfen. Deswegen gibt es sowohl Jugendliche mit fremdenfeindlichen Affinitäten, die denen ihrer Eltern entsprechen, als auch solche, deren Eltern andere Orientierungen vertreten.
- Erfahrungen und Modelle aus dem familialen Kontext wirken sich auf die Peer-Groups von Kindern und Jugendlichen und das dort praktizierte Verhalten aus: Jugendliche, die das Klima in ihren Familien unangenehm erleben, verbringen mehr Zeit in der Peer-Group als solche, die sich in der Familie wohl fühlen; gleichwohl entsprechen die Orientierungen und Verhaltensweisen in der Peer-Group weitgehend denen in der Familie, etwa in Hinblick auf Gewalt. Diese Befunde unterstützen theoretische Erklärungsmodelle zur Entwicklung fremdenfeindlicher Affinitäten, die den Stellenwert solcher Prägungen betonen, die im vorpolitischen Raum erfolgen. In der Forschungsliteratur werden in diesem Zusammenhang einerseits die bereits früh ausgeprägten - und möglicherweise durch evolutionäre Prägungen und genetische Anlagen bestimmten - Haltungen zu Fremdem und Unvertrautem generell genannt, also gewissermaßen als frühe Wurzel von Fremdenangst, Fremden-feindlichkeit oder Fremdenfreundlichkeit.
In frühen sozialen Beziehungen werden auf emotionaler Ebene die Weichen für die Haltungen gelegt, mit denen anderen Menschen begegnet wird. Das heißt, die in diesen Beziehungen gemachten Erfahrungen bestimmen mit darüber, ob ein Kind gegenüber anderen zum Beispiel eher offen, verschlossen, ängstlich oder dominant auftritt. Im Entwicklungsverlauf werden dabei beständig neue Erfahrungen gemacht, durch die sich die Gefühle und das Verhalten gegenüber anderen weiter ausdifferenzieren, modifizieren und verändern. Etwas später erleben Kinder in diesen frühen sozialen Beziehungen das Verhalten anderer Menschen auf einer inhaltlichen Ebene als modellhaftes Sozialverhalten. Vorbildhaft erfahren sie hier beispielsweise, ob und welche Unterschiede zwischen Menschen relevant sind, welche Konsequenzen aus Differenzen gezogen werden, wie Interessen vertreten oder durchgesetzt und wie Konflikte gelöst werden. Auf diese Weise entwickeln Kinder frühe, konkrete Konzepte von Sozialverhalten und Gesellschaft, mit denen sie dann im Jugendalter auf verschiedene abstraktere politische und historische Konzepte oder Ideologien treffen, zu denen sie eher Affinität oder Distanz empfinden. Hier geht es dann um Fragen von Demokratie, Toleranz, Sozialismus - aber eben auch von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt.
Der Familie kommt bei der Entwicklung fremdenfeindlicher Orientierungen besondere Bedeutung zu, weil Kinder hier bereits frühzeitig soziale Erfahrungen sammeln. Die Einflüsse der Familie nehmen in dem Maße ab, in dem andere Sozialisationsinstanzen wichtig werden. Ab der späteren Kindheit werden die Erfahrungen zunehmend relevant, die in Kindergarten, Schule und Peer-Group gemacht sowie durch Medien vermittelt werden. Politische Gruppierungen gewinnen in der Regel frühestens im Jugendalter Bedeutung. Demnach sind es zunächst weniger rechtsextreme Ideologien oder fremdenfeindliche Argumentationen, auch nicht das historische Vorbild des Nationalsozialismus und schon gar nicht Parteiprogramme, welche die Übernahme fremdenfeindlicher Orientierungsmuster verständlich machen. Solche ideologischen, historischen oder parteipolitischen Bezüge gewinnen erst nachträglich an Bedeutung, wenn es darum geht, fremdenfeindliche Affinitäten zu legitimieren und argumentativ gegen Kritik zu immunisieren.
Abschließend sei noch einmal betont, dass die Entwicklung fremdenfeindlicher Affinitäten allein durch die Analyse aktueller Lebensbedingungen nicht erklärt werden kann. Es ist notwendig, in diesem Kontext auch frühere Erfahrungen in sozialen Beziehungen zu berücksichtigen, welche die Entwicklung und Übernahme fremdenfeindlicher Orientierungen maßgeblich prägen.