Einleitung
Innerhalb des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projektverbundes "Stärkung von Integrationspotenzialen einer modernen Gesellschaft" beschäftigte sich das im arpos Institut in Hannover durchgeführte Projekt "Opfer rechtsextremer Gewalt" unter anderem mit den längerfristigen Folgen rechtsextremistisch motivierter gewalttätiger Übergriffe ("Viktimisierungen") sowohl hinsichtlich individueller Erfahrungen und Verarbeitungsmechanismen bei den Opfern als auch in Bezug auf gesellschaftliche Desintegrationsgefahren.
Darüber hinaus sollte die Analyse Aufschluss darüber geben, unter welchen biographischen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen die Opfer verschiedener Arten von rechtsextremistisch motivierter Gewalt in der Lage sind, individuelle und soziale Stabilität in unserer Gesellschaft wiederzuerlangen, und welche gesellschaftlichen Integrationspotenziale dabei in Anspruch genommen werden können. Denn Integrationspotenziale sind in modernen Gesellschaften nicht nur dort relevant, wo Gesellschaftsmitglieder aufgrund von Desintegrations- und Marginalisierungserfahrungen abweichendes, kriminalisierbares Verhalten zeigen und somit als Gefahr wahrgenommen werden.
Sie sind auch dort einzufordern, wo massive Opfererfahrungen das Vertrauen der betroffenen Gesellschaftsmitglieder gegenüber anderen und oft auch gegenüber dem Gesellschaftssystem selbst herabsetzen oder gar zerstören. Von den Kontrollinstanzen des Systems (z.B. von der Polizei) wird gemeinhin erwartet, dass sie seine Mitglieder davor schützen, zu Opfern von Gewalthandlungen (und anderen Rechtsverletzungen) zu werden. Kommt es dennoch zu einer Viktimisierung dieser Art, so erwarten die Opfer in der Regel, dass sie von Kontrollinstanzen und/oder anderen gesellschaftlichen Institutionen wenigstens Hilfe beim persönlichen und sozialen Umgang mit der Viktimisierung erhalten. Werden auch diese Erwartungen enttäuscht, kann es zum Erleben eines Verlustes der positionalen, moralischen und auch emotionalen Anerkennung kommen (besonders in rechtlicher und sozialer Hinsicht),
Der vorliegende Text bietet einen Überblick über die verschiedenen Formen der Bewältigung rechtsextremer Übergriffe durch die Opfer, wie sie auf der Grundlage ausführlicher qualitativer Interviews mit den Betroffenen im Rahmen der Untersuchung identifiziert werden konnten.
Unter "Bewältigung" wird dabei das Management von bedrohlichen und verletzenden Herausforderungen und Belastungen verstanden, welche die vorhandenen Ressourcen des betroffenen Individuums sehr stark beanspruchen oder sogar übersteigen. Für den Zweck der vorliegenden Studie wurde eine Klassifikation von Bewältigungsformen aus der soziologischen Perspektive von Werner Strobl und Rainer Greve herangezogen und um Kategorien von Eva Tov aus psychologischer und sozialpsychologischer Sicht sowie um einige selbst entwickelte Kategorien ergänzt.
Aktive Bewältigungsstrategien
Aktive (oder "aktionale") Strategien beruhen auf Handlungen, die die bedrohliche Situation selbst verändern können, aber nicht müssen; in der vorgeschlagenen Klassifikation gehören hierzu Spannungsreduktion, Vermeidung, Hilfesuche sowie "assimilative" und "akkommodative" Problemlösungsversuche.
Um eine Spannungsreduktion im Hinblick auf die Nachwirkungen des erlittenen Übergriffs zu erreichen, konsumierten einige der von uns Befragten Alkohol, Medikamente oder illegale Drogen. Sowohl die Medikamenteneinnahme als auch der Alkohol- und Drogenkonsum weisen dabei verschiedene Muster auf - angefangen mit der einmaligen Einnahme von Schmerztabletten oder dem Genuss einer Flasche Bier direkt nach dem Übergriff bis hin zu langfristigem Konsum von Schlaftabletten, Alkohol in höherer Konzentration oder illegalen Betäubungsmitteln.
Während eine einmalige Einnahme von Tabletten, Alkohol oder Drogen in der Regel keine Gefahr für den Verarbeitungsprozess darstellt, kann wiederholter Alkoholkonsum bzw. eine langfristige Medikamenten- bzw. Drogeneinnahme nach einem erschütternden Ereignis die Gefahr einer Traumatisierung erhöhen und den Verarbeitungsprozess beeinträchtigen,
Eine Vermeidung bedrohlicher Gegenden oder Situationen, in denen es erneut zu einem rechtsextremen Übergriff kommen könnte, wurde nur von wenigen Interviewpartnern gewählt. Die meisten waren der Ansicht, auch in Zukunft überall angegriffen werden zu können. Ein Betroffener formulierte dies folgendermaßen:
"Hier in (Name der Stadt) ist sehr viel los. Dass du eben schon gucken musst, wo du lang läufst oder wann du lang läufst oder wie auch immer halt. Wo das so Leute gibt, das kann dir eigentlich so überall passieren."
Manche der Betroffenen mieden hingegen den Tatort des Übergriffs bis zur Zeit des Interviews, das häufig erst einige Jahre später geführt wurde, und einige von ihnen sind aufgrund der Tat in eine andere Stadt gezogen oder auch in ein anderes Bundesland. Insbesondere diejenigen Interviewpartner, die aus ostdeutschen in westdeutsche Bundesländer verzogen, konnten sich, wie sie berichteten, dort merklich sicherer fühlen:
"Ich fühle mich jetzt hier in (Name der Stadt) in Sicherheit, ja, weil hier gibt es Drogenprobleme. Und ich trinke keinen Alkohol, ich rauche nicht, und ich nehme keine Drogen. Deswegen habe ich keine Probleme. ... Aber in Ostdeutschland bekomme ich immer Probleme, weil ich schwarze Haare habe."
Die Stadt, in der es zu dem Übergriff gekommen war, mied dieser Befragte noch für lange Zeit, obwohl er an jenem Ort ein großes soziales Umfeld hatte zurücklassen müssen, welches ihm an dem neuen Wohnort nicht zur Verfügung stand. Einige andere Befragte waren der Auffassung, dass sie seit dem Übergriff zwar vorsichtiger geworden waren, sich aber dennoch von der "Angst vor den Rechten" nicht in ihrer Lebensführung einschränken lassen wollten.
Das Bedürfnis bzw. die psychische Erfordernis, den Tatort nach einem gewissen Zeitraum wieder aufzusuchen oder ihn nach wie vor zu meiden, hängt unter anderem mit dem Grad der Verarbeitung der Tat zusammen. Von einigen Opfern wurde die Tatgegend insbesondere unmittelbar nach der Tat gemieden, zu späterer Zeit jedoch, als sich die Angst vor weiteren Übergriffen reduziert hatte, wieder aufgesucht. In anderen Fällen hingegen wurde deutlich, dass die Art und Weise des Umgangs mit dem Tatort keinen sicheren Aufschluss über das Stadium der Tatverarbeitung geben kann. Die Überwindung einer Vermeidungshaltung ist nicht unbedingt ein Indiz für den Grad der Verarbeitung im Sinne eines einmal erreichten und damit unabänderlichen Zustandes. Vielmehr ist von einem Prozesscharakter auszugehen, der von Fortschritten sowie Rückschlägen gekennzeichnet ist.
Alle Interviewpartner berichteten über eine Inanspruchnahme von Hilfe durch andere Personen oder Institutionen. Bei vielen fiel jedoch auf, dass sie sich zu einem solchen Schritt regelrecht überwinden mussten, da ihnen die Tatsache, ein Opfer geworden zu sein, peinlich war. Die meisten der Befragten nahmen neben privaten Kontakten zudem professionelle Hilfe in Anspruch, indem sie sich an spezielle Beratungsstellen für Opfer wandten. Nur wenige Interviewpartner erachteten eine professionelle Unterstützung als nicht erforderlich. Es handelte sich dabei um Personen, denen der Umgang mit Rechtsextremen aus ihrem beruflichen Kontext vertraut war.
Die professionelle Hilfe durch die Beratungsstellen erfolgte in Absprache mit den Betroffenen je nach individuellen Erfordernissen in verschiedener Intensität und Dauer, wurde von diesen jedoch fast ausnahmslos als positiv bewertet. Einige der Betroffenen waren noch Jahre nach dem Übergriff in ständigem Kontakt mit der Opferberatung. In zwei Fällen scheint sich diesbezüglich sogar eine Art Abhängigkeit entwickelt zu haben. Diese beiden Befragten lebten bereits seit längerer Zeit allein in Deutschland und betrachteten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Opferhilfe als alleinige Vertrauenspersonen. Beide litten unter massiver Traumatisierung mit ausgeprägten Angstzuständen, die eine Unfähigkeit, neue Kontakte aufzubauen, nach sich zogen - mit eklatanten Folgen für das soziale Umfeld der Betroffenen.
Die Polizei als soziale Kontrollinstanz wurde hingegen von vergleichsweise wenigen Betroffenen aufgesucht bzw. (im Falle einer Vorladung) um Hilfe gebeten. Dies hängt nach den Berichten der Interviewpartner vielfach mit der Erfahrung zusammen, die sie bei früheren Begegnungen mit der Polizei oder anderen Kontrollinstanzen in ihrer Herkunftskultur gemacht hatten. In einigen Fällen spielen jedoch auch die polizeilichen Aktivitäten im Rahmen des aktuellen Übergriffs eine Rolle, die sich stark auf die Täter konzentrierten, seltener jedoch konkrete Hilfeleistungen für die Opfer einschlossen.
"Normalerweise ... sollte ich sofort zur Polizei gehen, aber ich vertraue nicht. ... Ich vertraue keiner Polizei. Auch nicht einem Richter. Wie kann ich mich wohl fühlen, wenn sogar die Leute mit meiner Hautfarbe alle gegen mich sind."
Auch das Vertrauen in andere Menschen aus dem sozialen Umfeld beschränkte sich bei diesem Interviewpartner - wie oben bereits erläutert - auf die Mitarbeiterin einer Opferhilfestelle. Die damit eingetretene Situation einer hochgradigen sozialen Isolation bezeichnet Anthony Giddens als "Vertrauensverlust in gesichtsabhängige Personen".
Der zuletzt zitierte Interviewpartner mit Migrationshintergrund hat offensichtlich allgemein geltende individuelle Erfahrungen hinsichtlich der Gesamtheit des polizeilichen Apparates sowie anderer Kontrollinstanzen (vor allem Staatsanwaltschaft und Gericht) gemacht, die allmählich zu einem Misstrauen gegenüber dem gesamten System der Aufnahmegesellschaft führten, was weiter oben als "Verlust des Systemvertrauens" bereits angemerkt wurde. Das Misstrauen, welches der Polizei als Kontrollinstanz aufgrund einzelner Erfahrungen entgegengebracht wird, ist in letzter Konsequenz ein Misstrauen gegen das System der Gesellschaft insgesamt.
In vielen Fällen konnte die Unterstützung durch professionelle Opferhilfestellen sowie durch Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte einen solchen Verlust des Systemvertrauens jedoch verhindern, was die Relevanz der sozialen Ressourcen für die Bewältigung von belastenden, oft lebensbedrohlichen Ereignissen insgesamt unterstreicht. Auch aus verschiedenen anderen Untersuchungen ist bekannt, dass soziale Unterstützung die negativen Folgen einschneidender Ereignisse abmildert, effektives Bewältigungsverhalten erleichtert und so einen wesentlichen Beitrag zum allgemeinen Wohlbefinden und zu psychischer sowie physischer Gesundheit leisten kann.
Dennoch ist auch dies keine Garantie für einen erfolgreichen Stabilisierungsverlauf. So waren bei einer anderen Interviewpartnerin trotz intensiver und langfristiger sozialer Unterstützung nach der Tat nur wenige Veränderungen feststellbar, wobei nicht davon auszugehen war, dass die erhaltene Unterstützung unangemessen gewesen wäre. Obwohl die Tat über zwei Jahre zurücklag, war die Betroffene nicht im Stande, ihr alltägliches Leben wieder in der gewohnten Weise zu führen. Jeden Tag nahm sie mit ihren Kindern einen Umweg in Kauf und traf weitere Vorsichtsmaßnahmen. Von vielen Seiten erhielt sie zwar Unterstützung durch Dritte, wie die Opferhilfestelle, Freunde, die Gemeinde oder auch Nachbarn. Weil der Täter jedoch in ihrer unmittelbaren Nähe wohnte, konnte sie sich von einem ständigen Angstgefühl nicht befreien. Die täglich zu befürchtende Konfrontation mit dem Täter machte es ihr unmöglich, in ihrem Verarbeitungsprozess voranzukommen.
Wenn die Betroffenen sich im Rahmen ihrer Bewältigung einen Plan erarbeiten, der auf die Veränderung der sie bedrohenden Situation gerichtet ist, kann von einer Strategie der "assimilativen Problemlösung" gesprochen werden.
Eine weitere Form des assimilativen Umgangs mit den Tatfolgen ist politisches Engagement gegen Rechts. Dies machte es mehreren von rechtsextremer Gewalt Betroffenen möglich, sich intensiv mit dem Thema Rechtsextremismus und mit der eigenen Situation auseinander zu setzen. Das folgende Zitat zeigt dies sehr deutlich:
"Also ich bin, um ehrlich zu sein, in der Zeit noch viel, viel - na, wie sagt man, stinkiger geworden, hab dann schon 'ne richtige Wut drauf gekriegt. Was mich dann auch durchaus veranlasst hat, halt viel mehr in der linken Szene tätig zu werden. Und bin halt auch jetzt in (Name der Organisation) fast täglich gegangen im ersten halben Jahr. Und nach einem halben Jahr bin ich dann sogar da eingezogen. Und da bin ich dann halt schon deutlich aktiver geworden. Weil ich halt auch viel mehr mitgekriegt habe, was denn überhaupt läuft. (...) Und, na ja, ich hab' halt an und für sich viel mehr über viele Sachen nachgedacht. Gerade politisch gesehen, was mir früher eigentlich ziemlich Wurst war. Aber da wurde ich halt sozusagen gerade gezwungen nachzudenken darüber. Weil, wenn dann halt so Diskussionen sind, möchte man ja auch mitdiskutieren, und das war im Nachhinein gesehen halt super gut für meine Entwicklung."
Geplante komplexere Aktivitäten, die an der bedrohlichen Situation bzw. an dem Stressfaktor selbst nichts verändern, wie zum Beispiel ablenkende Strategien der Opfer, gehören zum "akkommodativen Problemlösen". So schrieb eine betroffene Person in der Zeit nach der Tat Gedichte und Bücher und malte Bilder. Eine andere begann damit, ein Musikinstrument zu spielen und mit Kindern zu arbeiten. Durch derartige Aktivitäten wird zwar lediglich eine Veränderung der subjektiven Rahmung vorgenommen; diese wird aber durchaus als Erfolg gedeutet, da der Übergriff und die damit in Zusammenhang stehenden Folgen und Ängste subjektiv als nicht mehr so bedrohlich erscheinen.
Innerpsychische Bewältigung
Zu den innerpsychischen (oder "intrapsychischen") Bewältigungsstrategien gehören die Verdrängung des erlittenen Übergriffs, die Aufwertung der Situation des Opfers durch einen Vergleich mit noch problematischeren Situationen sowie eine Verleugnung bzw. Neudefinition der Tat. Dabei handelt es sich um rein mentale Prozesse, die der Betroffene "mit sich selbst ausmacht" und zu denen er nicht die Hilfe und Unterstützung anderer Personen benötigt, die aber gerade aus diesem Grund auch nicht so erfolgversprechend sind wie aktive Bewältigungsformen.
Über Strategien einer rein innerpsychischen Bewältigung wurde in den Interviews mit Betroffenen jedoch vergleichsweise selten berichtet; in den meisten Fällen überwog eine aktive Bewältigung, die innerpsychische Lösungsversuche ggf. nach einer gewissen Zeit ablöste.
Bei einer Verdrängung wird das bedrohliche Erlebnis aus dem Bewusstsein ins Unterbewusstsein verlagert und ist somit im Bewusstsein nicht mehr präsent (wenngleich es zu späterer Zeit wieder "durchbrechen" kann). Das Opfer scheint die erlebte Viktimisierung "vergessen" zu haben. Leider ist eine solche Strategie jedoch gerade deshalb in einer Untersuchung auf der Grundlage von Interviews mit Betroffenen nicht identifizierbar, da sich diese viktimisierten Personen gerade aufgrund ihres Verdrängungsprozesses nicht als Opfer erleben und sich daher auch nicht zu ihrer Viktimisierung befragen lassen.
Eine Aufwertung der Situation des Opfers durch einen Vergleich mit noch problematischeren Situationen ("downward comparison") fand sich ebenfalls in keinem der mit den Betroffenen durchgeführten Interviews. Es kristallisierte sich zwar heraus, dass einige der Betroffenen die rechtsextreme Tat nicht als das Schlimmste bewerten, was ihnen bisher im Leben zugestoßen ist. Insbesondere bei Asylsuchenden mit Migrationshintergrund wurde vielfach deutlich, dass ihre Biographie durch zahlreiche problematische, zum Teil lebensbedrohliche Ereignisse geprägt ist, von denen die aktuelle rechtsextreme Gewalttat nur eines ist. So berichtete ein Interviewpartner, dass die aktuelle Tat für ihn "nicht so schlimm gewesen" sei, weil das Erleben von Gewalt zur "Normalität seines Alltags" gehöre. Anders als beim "downward comparison" wird hier jedoch der rechtsextreme Übergriff nicht nachträglich in seiner Problematik abgeschwächt, um seine Verarbeitung zu erleichtern, sondern er wird bereits während seines Geschehens als etwas erlebt, das in der eigenen Biographie als nicht sehr außergewöhnlich erscheint - eine Erkenntnis, die einmal mehr die Notwendigkeit sozialer Hilfeleistungen und präventiver gesellschaftspolitischer Maßnahmen im Rahmen dieser Problematik verdeutlicht.
Auch die Strategie der Verleugnung bzw. der Neudefinition dient der nachträglichen Abschwächung des rechtsextremen Übergriffs und seiner Folgen für die Betroffenen, was hier jedoch (im Gegensatz zum "downward comparison") nicht über einen Vergleich mit anderen, als noch problematischer empfundenen Situationen erreicht wird. Bei diesen Strategien bleibt (im Gegensatz zur Verdrängung) der Übergriff als solcher den Betroffenen bewusst und erinnerbar. Durch Verleugnung und Neudefinition wird die Viktimisierung aber so umdefiniert, dass sie relativiert und damit als erträglich erlebt wird. Für diesen Prozess sind ambivalente Gefühle oder Gedanken zur Tat charakteristisch. Eine solche Strategie fand sich in einigen Fällen der von uns befragten Betroffenen, jedoch wurde sie zumeist zusätzlich begleitet durch andere, vorwiegend aktive Bewältigungsmuster. In einigen Fällen relativierten die betroffenen Opfer neben der Tat selbst auch die Person des Täters, indem sie diesem z.B. ein "Recht auf Fehler" zugestanden oder sich selbst die Schuld für den Übergriff zuschrieben, weil sie den Täter durch Provokation - oder auch nur Widerstand - "zur Tat getrieben" hätten. Durch solche Prozesse des Umdefinierens lassen sich die Folgen der Tat zwar subjektiv besser ertragen, an der zu Grunde liegenden sozialen und gesellschaftlichen Problematik vermögen sie jedoch - wie alle innerpsychischen Bewältigungsstrategien - nichts zu ändern.
Schlussbemerkung
Es lässt sich festhalten, dass für einen großen Teil der Betroffenen die rechtsextreme Gewalttat ein Leben in Angst nach sich zieht. In den meisten Fällen kann nur mit erheblicher Anstrengung der Betroffenen und oft nur unter Inanspruchnahme professioneller Hilfe wieder Stabilität erlangt werden. Ebenso erschütternd ist jedoch die Erkenntnis, dass vor allem Opfer, die einen Migrationshintergrund - etwa als politisch Verfolgte - aufweisen, den lebensgefährlichen Übergriff oft nur als ein existenziell bedrohliches Ereignis unter vielen bewerten. Die sozioökonomische Situation einiger der Befragten mit Migrationshintergrund ist mit einer derart gravierenden Unsicherheit und Zukunftsangst verbunden, dass die Tatsache der Viktimisierung durch rechtsextreme Gewalttäter nur eine individuelle Krise neben vielen anderen hervorgerufen hat.
Als Beispiel kann abschließend das Schicksal eines jungen Interviewpartners aus Sierra Leone dienen, dessen Vater sich in dem Bürgerkrieg in seiner Herkunftsgesellschaft den Rebellen anschloss und daraufhin gefangen genommen wurde. Seine Mutter verschwand zur selben Zeit spurlos, und auch zu seiner Schwester hatte er keinen Kontakt mehr. In der Annahme, auf diese Weise nach Großbritannien zu gelangen, wendete er sich aus Angst um sein Leben an eine Fluchthilfeorganisation, die ihn über viele Umwege nach Ostdeutschland brachte. Zunächst noch im Glauben, er sei in Großbritannien, wandte er sich in seiner Orientierungslosigkeit an deutsche Behörden, die ihn in der folgenden Zeit verschiedenen "Übergangslagern" zuwiesen. Zur Zeit des Interviews wusste er nicht, ob seine Eltern noch am Leben waren und wo er hingehen sollte, wenn er Deutschland verlassen musste. Sein Aufenthalt hier wurde von den Behörden "geduldet", er wusste jedoch nicht, über welche Zeit sich diese Duldung noch erstrecken würde. Dass er von rechtsextremen Skinheads überfallen und brutal geschlagen wurde, war ein weiteres Glied in einer Kette von Umständen, die ihn in anhaltende existenzielle Angst versetzten. Auch dieser Betroffene fand wirkungsvolle Hilfe erst in einer Opferhilfestelle, womit erneut über die sozialen Nahsysteme hinaus die zentrale Rolle dieser Einrichtungen bei der Stabilisierung von Opfern rechtsextremer Gewalt deutlich wird. Deren Arbeit sollte zukünftig - ideell wie finanziell - weiter gefördert werden.