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Frankreich: zurück in Europa, aber mit welchem Kurs? | Frankreich | bpb.de

Frankreich Editorial Die französischen Wahlen vom Frühjahr 2007 Frankreich: zurück in Europa, aber mit welchem Kurs? Französische Außenpolitik unter Nicolas Sarkozy Perspektiven der "neuen" deutsch-französischen Beziehungen Frankreichs Schwierigkeiten mit den Banlieue Einwanderung: das Ende der Politik der Chancengleichheit

Frankreich: zurück in Europa, aber mit welchem Kurs?

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

/ 18 Minuten zu lesen

Sarkozy hat Frankreich wieder in Europa zurückgemeldet. Er muss seine Landsleute wieder mit der EU aussöhnen, dann wird der Mehrwert für Europa groß sein.

Einleitung

Über zwei Jahre lang war Frankreich, wichtiger Gründerstaat der EWG/EG/EU und traditioneller Ideengeber und (Mit-) Initiator aller integrationspolitischer Fortschritte, in Europa kaum wahrzunehmen. Denn am 29. Mai 2005, als 54,8 Prozent der Franzosen (bei nahezu siebzigprozentiger Wahlbeteiligung) den "Vertrag über eine Verfassung für Europa" (VVE) per Referendum ablehnten, wurde das Land in eine europapolitische Schreckstarre und Lähmung katapultiert, die bis zur Präsidentschaftswahl 2007 anhielt. Das Fatale an der Situation war, dass Frankreich nur wenig zur Überwindung der tiefen EU-Krise, für die es maßgeblich verantwortlich zeichnete, beitragen konnte, solange keine Antwort auf die Frage gefunden war, wie das Nein des Souveräns zu respektieren und gleichzeitig die angestammte und hoch notwendige Rolle des Promotors des europäischen Einigungsprozesses auszuüben sei.




Nachdem mit den Gipfelbeschlüssen vom 21. bis 23. Juni 2007 dieser gordisch-französische Knoten durchschlagen werden konnte, ist der sich abzeichnende europapolitische Kurs des neuen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Auch wenn Frankreich nun wieder nach Europa zurückgekehrt ist, lassen manche Positionen des ungewöhnlich energisch, zupackend und temporeich auftretenden "speedy Sarko" - wie der schnell erworbene Spitzname des neuen Hausherrn im Elysée-Palast lautet - doch Zweifel daran aufkommen, ob Frankreich unter seiner Führung wieder eine konstruktive europapolitische Rolle spielen und sich positiv in die Gegebenheiten einer EU-27 einfinden kann. Sarkozy scheint vor überbordenden Führungsansprüchen und Nationalegoismen nicht gefeit, so dass die Sorge umgeht, er könne ein "unbequemer Partner in Europa" werden. Im Besonderen steht zu befürchten, dass er Europa (wieder) als bloßen Verstärker französischer Interessen instrumentalisiert bzw. missbraucht.

Um Sarkozys bisherigen Kurs bewerten zu können, muss zunächst eine europapolitische Bilanz seines Amtsvorgängers Jacques Chirac gewagt werden: Hat der langjährige Staatspräsident verlässliche Fundamente hinterlassen, auf die Sarkozy bauen kann und muss? Oder besteht das Chirac'sche Erbe nicht vielmehr in der Unfähigkeit, im Frankreich der Post-Maastricht-Ära einen neuen, soliden und parteiübergreifenden Konsens zu stiften, der Frankreich wieder unverbrüchlich in der integrationspolitischen Avantgarde verankert?

Jacques Chiracs Hinterlassenschaft

Vergleicht man Frankreichs Europapolitik während der Amtszeiten Jacques Chiracs (1995 bis 2007) mit jener seines Vorgängers, François Mitterrand (1981 bis 1995), so fällt zunächst ihr schlingernder Kurs, ihre Unstetig- und Wechselhaftigkeit auf. Während Mitterrand sich mit ungeheurer Hartnäckigkeit und unter dem Motto: "Soviel Integration wie nötig, soviel einzelstaatliche Souveränitätswahrung wie möglich" für die Vertiefung der Integration einsetzte und somit erreichte, dass die 1980er Jahre und frühen 1990er Jahre zum "goldenen Zeitalter des Aufbaus Europas und der französischen Europapolitik" avancierten, ließ Chirac ein vergleichbar verlässliches Engagement von Anfang an vermissen. Insbesondere versäumte er es, die europapolitische Spaltung Frankreichs zu überwinden, die mit der Maastricht-Debatte ausgelöst worden war und die angesichts des Endes des Ost-West-Konflikts und der neuen weltpolitischen Lage, angesichts von Globalisierung und Entgrenzung, angesichts der veränderten Bedeutung des Nationalstaates und seiner Gestaltungsmöglichkeiten vielschichtiger Ausdruck der abgrundtiefen französischen Verunsicherung über die eigene Rolle und Bedeutung im künftigen Europa war.

Dieses Versäumnis lag zum einen an Chiracs persönlichem Zugang zum europäischen Integrationsprozess, zum anderen daran, dass er seine Europapolitik oft der Innenpolitik unterordnete, sie also in die Geiselhaft häufig wechselnder innen- und parteipolitischer Konstellationen nahm. Hinzu kam seine "predilection for rapid policy and identity changes", die Edouard Balladur zu dem Bonmot veranlasste: "Jacques ist wie der Beaujolais. Jedes Jahr wird uns ein neuer verkauft". Andere meinten: "Wenn ihm auch Überzeugungen fehlen, so hat er doch Instinkt".

So prägten denn auch weniger Prinzipien und Grundüberzeugungen als vielmehr politischer Instinkt seine Europapolitik, die er außerdem abrupten Politik- und Kurswechseln aussetzte. Während Chirac im so genannten Appell von Cochin (1978) deutlich antieuropäische Töne angeschlagen hatte, reihte er sich in den dramatischen innerfranzösischen Auseinandersetzungen um den Maastrichter Vertrag recht unvermittelt ins Lager der Europabefürworter ein. Seit diesem Positionswechsel galt Chirac mehr als Europäer aus Kalkül bzw. aus Vernunft denn aus Überzeugung. So sah der Staatspräsident sich selbst: "Ich war nie ein militanter Europabefürworter, ich bin ein Euro-Pragmatiker; ich stelle fest, dass Europa unvermeidlich ist, aber ich theoretisiere nicht über Europa".

Nimmt man Chiracs Amtszeiten in der gebotenen Kürze und Distanz in den Blick, so fällt ein wahres Paradoxon auf: Obwohl Chirac wenig europapolitische Erfolge aufzuweisen hat, war Europa dennoch insofern sein Schicksal, als seine beiden markanten politischen Fehler einen direkten Europa-Bezug hatten. Hier ist zum einen seine Entscheidung vom 21. April 1997 zu nennen, als er im Vorfeld der Euro-Einführung vorgezogene Neuwahlen zur Nationalversammlung ankündigte. Die Euro-Einführung erzwinge einen strikten Sparkurs der öffentlichen Haushalte und dafür strebe man ein erneutes Mandat des Souveräns an. In Wahrheit aber verfolgte Chirac mit dem Neuwahlbeschluss das Ziel, die seit dem Maastricht-Referendum in der neogaullistischen RPR gärende innerparteiliche Opposition um Charles Pasqua zu beenden. Diese Fehlentscheidung brachte Chirac den Verlust der Parlamentsmehrheit und die langwährende, ungeliebte Kohabitation mit dem Sozialisten Lionel Jospin ein.

Auch Chiracs Entscheidung vom 14. Juli 2004, den VVE nicht - wie ursprünglich geplant - auf parlamentarischem, sondern plebiszitärem Wege ratifizieren zu lassen, hatte letztlich vorrangig innen- und parteipolitische Gründe. Im Vorfeld des Wahljahrs 2007 und angesichts erneut aufkommender innerparteilicher Opposition, diesmal zum EU-Beitritt der Türkei und angeführt von Alain Juppé und Nicolas Sarkozy, wollte Chirac sich seine Legitimation im eigenen Lager erneut bestätigen lassen und zugleich den sozialistischen Gegner substanziell schwächen. Letzteres gelang ihm perfekt, denn in der Tat spaltete sich die Parti socialiste (PS) bald nach der Referendumsankündigung in ein Lager der Nein-Sager zum VVE um Laurent Fabius und in eines der Verfassungsbefürworter und belastete damit ihre Erfolgsaussichten für die Wahlen 2007. Doch der Preis war extrem hoch für Chirac: Das "Non" vom 29. Mai 2005 setzte nicht nur seinen oft ventilierten Ambitionen, ein drittes Mandat anzustreben, faktisch ein Ende. Es markierte auch seine endgültige (europa-)politische Bedeutungslosigkeit. "Am 29. Mai 2005 ist Chirac politisch gestorben, und diesmal für immer".

Chiracs geringe Erfolge in Europa

Wenn das europäische Paradox zur "Niederlage eines Vernunfteuropäers" geführt hat, so ist doch zu fragen, inwieweit der Staatspräsident seinerseits die Entwicklung der EU zu prägen vermochte. In der kurzen Zeitspanne der neogaullistischen Alleinherrschaft seiner ersten Amtszeit, also 1995 bis 1997, entwickelten Chirac und seine Getreuen eine Blaupause für das Institutionengefüge der EU, die einerseits den angesichts der bevorstehenden Osterweiterung nötigen Reformbedarfen der Union gerecht werden, andererseits aber auch französische Interessen wahren sollte. So entstand eine Chirac'sche Europa-Orthodoxie, der er bis zum Konventsprozess treu blieb. Diese Orthodoxie bestand in dem Ansinnen, das intergouvernementale Element des Europäischen Rats aufzuwerten bis hin zur Wahl eines Präsidenten dieser Versammlung, der die EU nach außen vertreten sollte. Den Ministerrat betreffend verfolgte Chirac - wie zuvor schon Mitterrand - eine äußerst pragmatische Position: Um die EU handlungsfähiger und effizienter zu machen, unterstützte er die Ausweitung des qualifizierten Mehrheitsentscheids im Rat. Da die Osterweiterung in Kombination mit dem mittlere und kleine Mitgliedstaaten begünstigenden Stimmverteilungsschlüssel aber das relative Gewicht Frankreichs empfindlich schmälern würde, verlangte er nach einer Neuwägung der Ratsstimmen - ohne jedoch die deutsch-französische Stimmenparität aufgeben zu wollen. Den Einfluss des Europäischen Parlaments suchte er durch eine Aufwertung der nationalen Parlamente zu begrenzen. Nachdem Chirac sich mit diesen Positionen in Amsterdam nicht durchsetzen konnte, verfocht er sie in Nizza unbeirrt ein letztes Mal und trug somit entscheidend zur unglückseligen Stimmneuwägung des Vertrags bei. Auch in der Gemeinsamen Agrarpolitik und bei der Besetzung der Europäischen Zentralbank (EZB) verfolgte Chirac einen konfrontativen und allein an den eigenen Interessen orientierten Kurs.

Chiracs Positionswechsel

Im Verlauf der Konventsverhandlungen (2002 bis 2003) hat Jacques Chirac einen spektakulären Positionswechsel in seiner Europa-Orthodoxie vorgenommen. Er, der lange Jahre so verbissen die deutsch-französische Parität bei der Stimmverteilung im Rat verfochten hatte, trug nun entschieden das Prinzip der doppelten Mehrheit mit und akzeptierte, "dass Deutschland um 40 % mehr zähle als Frankreich". Mit der Akzeptanz dieser Regel (und aller anderen Innovationen des VVE) hat sich Frankreich "klar auf die Seite der Integrationsbefürworter gestellt".

Dieser beachtliche Politikwechsel ist einem komplexen Bündel von Gründen geschuldet; dazu zählt, dass Frankreich in der EU-25 bzw. -27 sein relatives Gewicht im System der doppelten Mehrheit besser wahren kann als mit der Nizza-Regel. Vorrangig aber sind hier die Folgewirkungen der europäischen Spaltung in der Irak-Frage zu nennen, die ab 2002 zu einer Relance der zuvor krisenhaften deutsch-französischen Beziehungen führten. Durch engen Schulterschluss vereint, konnten die Kriegsgegner Schröder und Chirac die Konventsberatungen durch gemeinsame Vorschläge weitgehend prägen.

Die folgenschwere Unterlassungssünde Chiracs bestand darin, dass er diesen wahrlich revolutionären Politikwechsel seinem Volk nicht angemessen erläuterte. Sein Kommentar zur doppelten Mehrheit: "Der Kompromiss (von Nizza) stützte sich auf Kriterien der Vergangenheit [...] Die Demokratie verlangt, dass der Bevölkerungszahl Rechnung getragen wird" war da zu wenig, und auch in der Referendumskampagne ließ er die erforderliche Aufklärungsarbeit vermissen. Dies führte geradewegs zum "Non".

Als Chirac sich anlässlich des Frühjahrsgipfels vom 8./9. März 2007 von seinen EU-Partnern verabschiedete, kam nur wenig Nostalgie auf. "Die europäische Presse zog fast einstimmig eine negative Bilanz seiner zwölfjährigen Amtszeit". Chirac selbst nannte als wichtigste Elemente, die sein europapolitisches Engagement geprägt hatten, die Einführung des Euro, das Europa der Sicherheit und Verteidigung sowie die Ökologie. Da es ihm nicht gelungen war, seinem Volk die Gründe seiner Europapolitik verständlich zu machen, endete seine Präsidentschaft im Fiasko des 29. Mai 2005. So hinterließ er seinem Nachfolger ein europapolitisch weiterhin gespaltenes Frankreich.

Aussöhnung Frankreichs mit Europa

Nicolas Sarkozy, Jahrgang 1955, hat verinnerlicht, dass Frankreich in der heutigen globalisierten Welt nur im europäischen Verbund seinen Wohlstand und Einfluss wahren oder gar mehren kann. So teilt er die klassisch-französische Scheu vor Souveränitätsabgaben nur mehr bedingt. Er selbst bezeichnet sich als "Europäer des Herzens, des Verstands und der Überzeugung", und will damit wohl ein generationenübergreifendes Engagement für Europa signalisieren, ein Europa, das er weiter stärken und ausbauen will.

Es ist evident, dass das französische Nein ein immenses Hindernis für seine europapolitischen Ambitionen darstellte. Daher haben er und die Union pour un mouvement populaire (UMP) in ihrem Wahlkampfprogramm eine Europa-Strategie erarbeitet, die nicht nur vordergründig die Gegner des VVE einbinden sollte. Vielmehr ging es Sarkozy darum, ein neues Leitbild zu entwickeln, das eine Synthese zwischen dem Ja und dem Nein zu Europa herstellen könnte. "Mit Synthese meine ich nicht die Suche nach dem juste milieu zwischen dem Ja und dem Nein [...] Diese Synthese besteht in der Vision eines Europas, das sich die Mittel gibt zu handeln und sich zu schützen".

Und so hat Sarkozy teilweise noch vor dem 29. Mai 2005, im Wesentlichen aber danach und in seiner Funktion als Präsidentschaftskandidat der UMP ein Leitbild für Europa entworfen, das durchaus geeignet ist, das weit verbreitete - keineswegs nur französische - Unbehagen an den jüngeren Entwicklungen der EU zu überwinden. Mit der ihm eigenen Offenheit kritisierte er die "politische Leere der EU seit Maastricht". Er geißelte ein Europa des unloyalen Wettbewerbs, das "von nichts anderem mehr reden möchte als von Konkurrenz, freiem Warenverkehr und der Stärke seines Geldes"; indem man "Europa erweitert hat, ohne es zu reformieren, hat man es verwässert und entpolitisiert. Diese Entpolitisierung ist zu weit gegangen". Schließlich kritisierte er den Widerspruch, dass man "Europa eine Verfassung geben, gleichzeitig aber seine Identität und Kohärenz auflösen will, indem man unablässig die Zahl seiner Mitgliedstaaten erhöht." Diesem Europa, das er für die tiefe Krise ab 2005 verantwortlich macht - womit er zugleich Frankreich entlastet -, stellt er seine Vision eines politischen, starken Europas entgegen, das Grenzen kennt und somit eine Identität entwickeln kann, eines Europas, das den Menschen in den Zeiten der Globalisierung Schutz bieten und die Interessen des Kontinents wirksam verteidigen kann. Nicht ohne populistische Untertöne rief er nach seinem Wahlsieg seine europäischen Partner dazu auf, "eine Antwort zu finden auf die Wut der Völker, die die EU nicht als Schutz, sondern als trojanisches Pferd all jener Bedrohungen sehen, die die Welt verändern".

Sarkozys europapolitische List

Um dieses neue europapolitische Leitbild, das in der Tat eine Synthese der Erwartungen der verschiedenen politischen Lager darstellt und daher mit großer Zustimmung rechnen kann, Realität werden zu lassen, muss - so die mehrfach wiederholte Wahlkampfbotschaft Sarkozys - zunächst die aktuelle politische Blockade in der EU, sprich die Verfassungskrise überwunden werden. Daher schlug er vor, einen vereinfachten Vertrag (traité simplifié) - den zunächst verwendeten Begriff "Mini-Vertrag" hat er wegen Missverständlichkeit bald wieder aufgegeben - abzuschließen, der diejenigen Bestimmungen des VVE übernehmen sollte, die "notwendig sind, um Europa wieder handlungsfähig zu machen und die während der Referendumskampagne nicht strittig waren". Im Vorfeld des entscheidenden Gipfeltreffens, das unter deutscher Ratspräsidentschaft vom 21. bis 23. Juni 2007 in Brüssel stattfand, wurde nach und nach deutlich, dass Sarkozy im Grunde die gesamte Substanz des VVE meinte. Besonders zu betonen ist, dass Sarkozy somit den revolutionären Wandel der Chirac'schen Europa-Orthodoxie mitträgt: die Einführung der doppelten Mehrheit als Entscheidungsregel im Rat, die die definitive Aufgabe der deutsch-französischen Parität bedeutet, sowie die Aufwertung des Europäischen Parlaments durch die substanzielle Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens. Damit aber lag er auf Linie nicht nur der so genannten Freunde der Verfassung, also jener 18 EU-Staaten, die den VVE bereits ratifiziert haben, sondern insbesondere auch auf der der Ratspräsidentin Angela Merkel, die unmittelbar nach Sarkozys Wahl sein Konzept des vereinfachten Vertrages aufgriff.

Sarkozys List bestand nun darin, geradezu euphemistisch von einem traité simplifié zu sprechen, inhaltlich aber den VVE in seiner Gänze zu meinen; dieser "Vertrag institutioneller Natur" müsste lediglich "dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden." Damit hat er äußerst gekonnt das Ziel einer substanziellen Erneuerung der EU erreicht, ohne das schwer kalkulierbare Risiko eines erneuten Referendums eingehen zu müssen. Außerdem baute er somit für Staaten wie Dänemark und insbesondere Großbritannien eine argumentative Brücke zur Vermeidung einer Volksbefragung.

Während des hoch dramatischen Juni-Gipfels hielt Sarkozy sich strikt an diese Linie; die einzige Forderung, die er nachlegte und die für viel Aufregung sorgte, war sein Verlangen, in den Zielsetzungen des neuen Vertrags den Verweis auf den freien und unverfälschten Wettbewerb zu streichen und dafür die Schutzfunktion der EU ihren Bürgern gegenüber stärker zu betonen. Probleme bereiteten auf diesem Gipfeltreffen bekanntlich andere Mitgliedstaaten. So bleibt ungeklärt, wie Sarkozy agiert hätte, wenn nicht Großbritannien, die Niederlande und Tschechien die Forderung nach einem Verzicht auf alle staatsähnlichen Symbole und Terminologien durchgedrückt hätten. Wäre es ihm dann auch noch möglich gewesen, von einem "Vertrag institutioneller Natur" zu sprechen, der kein Referendum erfordert?

Besonders in Deutschland ist argwöhnisch wahrgenommen worden, dass Sarkozy den Erfolg des Gipfeltreffens mit den Worten kommentierte: "Der Brüsseler Gipfel war zweifelsohne ein großer Erfolg für die deutsche Ratspräsidentschaft. Frau Merkel hat eine bemerkenswerte Arbeit geleistet. Er war ein Erfolg für Frankreich." Zum einen stehen die Selbstdarstellungskünste des neuen Staatspräsidenten außer Zweifel; zum anderen hat er recht: Ohne seine ausgefeilte Strategie zur Überwindung des französischen Vetos wäre eine Lösung der Verfassungskrise nicht möglich gewesen; und viel wichtiger: Ohne seine aktive Mithilfe wäre es wohl kaum gelungen, die Substanz des VVE so weitgehend wie geschehen zu retten - wenngleich die Abstriche wie insbesondere der Verzicht auf die Symbole der Union, der Etikettenschwindel im Hinblick auf die Bezeichnung des künftigen de facto-EU-Außenministers, der aber weiterhin Hoher Vertreter heißen muss, und die komplizierten, sperrigen und blockadeträchtigen Regeln zur Einführung der doppelten Mehrheit nicht zu unterschätzen sind. Auch das britische opting-out bei der Grundrechtscharta ist bedauerlich.

Sarkozy - ein sperriger Partner

Seit seiner Wahl hat Sarkozy ein wahres Trommelfeuer an Aktivitäten und Vorstößen entfacht, das viel Aufmerksamkeit, vor allem aber Kritik geerntet hat. Der "hyperaktive" Präsident, dieses "Erdbeben namens Sarkozy", der einen "coup d'éclat permanent" veranstalte, wird beschuldigt, allzu offensichtlich und rücksichtslos nationale Interessen zu vertreten. Hier ist zu differenzieren: Manche seiner Positionen, die aufhorchen lassen, fügen sich durchaus in den europäischen mainstream ein. Wenn er auf dem Brüsseler Gipfeltreffen darauf bestand, dass bei weiteren Beitritten das Kriterium der "Aufnahmefähigkeit" der EU erfüllt sein müsste, so liegt er hier ganz auf der EU-Linie, wie sie von Kommission und Europäischem Rat Ende 2006 beschlossen und von Ratspräsidentin Angela Merkel am 17. Januar 2007 vor dem EP bestätigt wurde. Auch sein Ansinnen, nationale und europäische "champions" (Marktführer) vor ausländischen Übernahmen zu schützen, stößt inzwischen gar bei Handelskommissar Mandelson ansatzweise auf Gehör.

Eine zweite Kategorie seiner Vorstöße verstört zwar die Gralshüter der europäischen währungspolitischen Orthodoxie, steht aber gleichwohl in einer langjährigen französischen Tradition. So steht Sarkozy mit seinen Angriffen auf die EZB und den (zu) starken Euro sowie mit seiner Forderung nach einem "gouvernement économique", das - beispielsweise in Gestalt der Eurogruppe - auch konjunkturpolitische Aspekte in die Wechselkurspolitik einbringen sollte, in Kontinuität zu seinen Vorgängern, die eben dies immer wieder gefordert hatten. Auch Sarkozys Ansinnen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt (erneut) zu verletzen, um die heimische Wirtschaft anzukurbeln, ist für Frankreich nicht neu; und den Gedanken, verteidigungspolitische Ausgaben aus dem Defizitkalkül herauszunehmen, hatte schon Chirac lanciert, um die Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) voranzubringen.

Zweifelsohne schockiert Sarkozy jedoch auch mit allzu nationalegoistischem Verhalten. So rücksichtslos, wie er als Wirtschafts- und Industrieminister 2004 eine Zerschlagung von Alstom verhindert und die Aventis-Sanofi-Affäre gemanagt hatte, so brachial geht er als Präsident in Sache EADS/Airbus vor; neuer Ärger steht an, weil er nun den Nuklearkonzern Areva NP wieder ganz in französische Hand überführen und mithin Siemens hinausdrängen will. Dies passt zu dem Nuklear-Deal, den er - ohne vorhergehende Absprachen mit seinen EU-Partnern und "gegen alle Gepflogenheiten" - Ende Juli mit Libyens Staatsoberhaupt Gaddafi abgeschlossen hat. Für deutliche Kritik sorgte das Waffengeschäft Frankreichs mit Libyen. Auch in der Europäischen Agrarpolitik, die 2008 überprüft werden soll, will Sarkozy französische Interessen offensiv verteidigen. Kurz: Sarkozys "patriotisme économique" kommt durchaus aggressiv daher und wird kaum hilfreich sein, wenn er in Europa Unterstützung für sein Projekt, die Globalisierung zu zähmen, sucht. Auch bei der Kandidatenauswahl für den Posten des Chefs des Internationalen Währungsfonds IWF hat der Präsident eine gute Gelegenheit verpasst, sich im europäischen Politikstil zu üben, der auf Konsultation, Absprachen und gegenseitiger Rücksichtnahme besteht.

Sarkozy - ohne Mehrwert für Europa?

Dass Frankreich nach Europa zurückgekehrt ist, muss nach der Analyse von Joachim Schild "nicht notwendigerweise einen europäischen Mehrwert" bedeuten. Das mag im Hinblick auf seine zahlreichen sperrigen Positionen, seinen Nationalegoismus und seinen unverhohlenen europapolitischen Führungsanspruch durchaus einleuchtend sein. Es ist jedoch zu bedenken, dass die größte Gefahr für Europas Zukunft von einem Frankreich ausgeht, das - wie im Referendum vom 29. Mai 2005 geschehen - die Integration mehr als Bedrohung denn als Chance versteht und sich von ihr abwendet, weil sie der "certaine idée" von Europa nicht mehr entspricht, die man linksrheinisch seit jeher gepflegt und die man tatkräftig unterstützt hatte. Wenn es Sarkozy gelingt, mittels seines neuen Leitbilds einer politischen EU, die Schutz und Identität gewährt und die ihr internationales Gewicht weiter ausbaut, die Franzosen wieder mit dem Integrationsunterfangen zu versöhnen, dann wird der europapolitische Mehrwert seiner Politik immens sein. Dies fordert zum einen die französische Politik heraus. Denn die Zukunftsängste, die die Franzosen seit Jahren auf die EU übertragen, müssen durch weitreichende wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitische Reformen überwunden werden. Bessere Wirtschaftsdaten und geringere Arbeitslosigkeit schlagen sich regelmäßig auch in größerer Zustimmung zur Integration nieder, wie der jüngste Eurobarometer unter dem Stichwort "Wohlfühlfaktor" für alle prosperierenden EU-Staaten belegt. Es kann und darf aber nicht sein, dass Sarkozy seine innenpolitische Agenda durch aggressiven Protektionismus und überbordenden Nationalegoismus abzuarbeiten versucht.

Die Aussöhnung Frankreichs mit der europäischen Integration erfordert zum anderen auch gewisse Veränderungen seitens der EU. Denn mit vielen seiner Kritikpunkte am aktuellen Zustand der Union legt Sarkozy die Finger in offene Wunden bzw. deckt Widersprüche und Halbherzigkeiten der EU auf. In der Tat muss die EU mehr wollen als nur über Wettbewerb, Freihandel und Geld zu reden. Auch mit seiner Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei könnte er der Union einen wichtigen Dienst leisten. So ist schwer nachvollziehbar, warum die EU und ihre Mitgliedstaaten, die angesichts der jüngsten Krise so viel darüber nachgedacht haben, wie Europa den Bürgerinnen und Bürgern wieder näher zu bringen sei, sich unbeirrt über die öffentliche Meinung hinwegsetzen, die einen Türkei-Beitritt zu 78 Prozent ablehnt. Indem Sarkozy die EU dazu zwingt, gemäß ihrer neuen Erweiterungsstrategie über die "Fähigkeit der Union zur Integration neuer Mitglieder" nachzusinnen, werden mutmaßlich zahlreiche Mitgliedstaaten ihre pharisäische bzw. ambivalente Haltung in der Türkei- Frage überdenken müssen. Derzeit wird erwartet, dass Sarkozy diesen Stein im Dezember 2007 ins Rollen bringt.

Wenn er für dieses (und andere) wichtige Anliegen Unterstützung seitens der EU-Partner erhalten will, wird er in den kommenden Monaten allzu brachiale nationale Interessensvertretung tunlichst vermeiden müssen. Schließlich muss Sarkozy noch offene Fragen seiner künftigen Europapolitik klären, so insbesondere seine Position zu den deutsch-französischen Beziehungen als Motor der Integration. Denn nach seinen früheren Attacken auf dieses Sonderbündnis, das er sich "weniger exklusiv" wünschte, reicht sein Berliner Bekenntnis zur "heiligen" (sacré) deutsch-französischen Freundschaft und ihre Qualifizierung als "immerwährender Zement" der EU nicht aus. Erst wenn auch dies geklärt ist, kann Frankreich seine Rolle in der neuen EU-27 definitiv finden - hoffentlich auf konstruktivem Kurs.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Ce soir, la France est de retour en Europe", so der neue Staatspräsident am Abend des 6.5. 2007, in: Le Monde vom 8. 5. 2007.

  2. Vgl. Joachim Schild, Sarkozys Europapolitik. Das zunehmende Gewicht der Innenpolitik, in: Integration, (2007) 3, S. 221.

  3. Laurent Cohen-Tanugi, La Politique européenne de la France à l'heure des choix, in: Politique étrangère, (1995/96) 60, S. 857.

  4. Vgl. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Frankreichs Europapolitik, Wiesbaden 2004, S. 123 ff u. S. 164ff.

  5. George Ross, Chirac's first steps and the 1995 French Presidency of the European Union, in: French Politics & Society, (1995) 3, S. 26.

  6. Le Monde vom 23./24.6. 2002 (alle französischen Zitate im Text sind eigene Übersetzungen).

  7. Albert Du Roy, Domaine réservé. Les coulisses de la diplomatie française, Paris 2000, S. 109.

  8. Wichard Woyke, Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem fasst wieder Tritt, Wiesbaden 2004, S. 61.

  9. Chirac zit. in: G. Müller-Brandeck-Bocquet (Anm.4), S. 167.

  10. Vgl. Marie-Bénédicte Allaire/Philippe Goulliaud, L'incroyable Septennat. Jacques Chirac à l'Elysée 1995 - 2002, Paris 2002, S. 226ff.

  11. Dennoch hielt sich Chirac die Option einer weiteren Präsidentschaftskandidatur bis in den März 2007 hinein offen; dies diente vor allem dem Ziel, Sarkozy nicht allzu früh als alleinigem konservativen Amtsanwärter die Bühne zu überlassen.

  12. So die Quintessenz von Franz-Olivier Giesbert, La Tragédie du Président, Paris 2006.

  13. Vgl. Henri de Bresson und Arnaud Leparmentier in: Le Monde vom 13. 3. 2007.

  14. Während seiner 12 Amtsjahre hat Chirac nur von 1995 bis 1997 und erneut von 2002 bis 2007, also 7 Jahre lang, über die geballte Machtfülle eines Staatspräsidenten der V. Französischen Republik verfügt. Folgt man F.-O. Giesbert (Anm. 12), dann waren es lediglich 5 Jahre.

  15. Vgl. G. Müller-Brandeck-Bocquet (Anm. 4), S. 170ff.

  16. Diese führte ab Ende 2003 in Polens Kampf um "Nizza oder der Tod"; ihre negativen Schleifspuren finden sich selbst noch in den Gipfelbeschlüssen vom 21.-23.6. 2007 zur verzögerten Einführung der doppelten Mehrheit.

  17. Arnaud Leparmentier in: Le Monde vom 27. 11. 2003.

  18. Ulrike Guérot, (Ver)fassungslose EU, in: Internationale Politik, (2004), S. 72 f.

  19. Vgl. Martin Koopmann, Brückenbauer gesucht, in: Internationale Politik, (2007) 4, S. 35.

  20. Chirac zit. in: G. Müller-Brandeck-Bocquet (Anm. 4), S. 266.

  21. Le Monde vom 14.3. 2007.

  22. Vgl. Le Monde vom 11./12.3. 2007; zu Chiracs ESVP-Bilanz, die in der Tat recht positiv ausfällt, vgl. G. Müller-Brandeck-Bocquet, The big Member States' influence on the shaping of the European Union's Foreign, Security and Defence Policy, in: dies. (Ed.), The future of the European Foreign, Security and Defence Policy after Enlargement, Baden-Baden 2006, S. 31ff.

  23. J. Schild (Anm. 2), S. 230.

  24. Rede von Sarkozy am 21.2. 2007 in Straßburg.

  25. Vgl. Punkt 2 "Retrouver l'Europe" des Wahlprogramms der UMP. Von der Forderung nach einer Wirtschaftsregierung und einer "préference communautaire" über die Ablehnung eines Türkei-Beitritts bis zum Vorschlag eines "traité simplifié" finden sich hier alle Topoi der Sarkozyschen Europa-Agenda.

  26. Rede von Sarkozy (Anm.24).

  27. Rede von Sarkozy am 6.3. 2005 vor dem Conseil National der UMP.

  28. Rede von Sarkozy (Anm.24).

  29. Le Monde vom 8. 5. 2007.

  30. Vgl. Le Monde vom 14. 4. 2007 und Joachim Schild, Europa als Sündenbock, in: Dokumente, (2007) 2, S. 17 - 21.

  31. Rede von Sarkozy (Anm.24), so auch schon die Formulierung im UMP-Wahlprogramm.

  32. Rede von Sarkozy (Anm.24).

  33. Vgl. den neu formulierten Artikel 3 des Reformvertrags in: Schlussfolgerungen des Vorsitzes 11177/07 vom 23. 6. 2007.

  34. Für eine erste Analyse und Bewertung der Gipfelergebnisse vgl. Carolin Rüger, Mission erfüllt? Zur Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft, in: Ansichten und Perspektiven, (2007) 2, S. 106 - 121.

  35. Rede von Sarkozy (Anm.24).

  36. Eine weitere Kostprobe hiervon gaben Sarkozy und seine Frau Cécilia Mitte Juli 2007 bei der Befreiung der bulgarischen Krankenschwestern aus libyscher Haft.

  37. Zu den Einzelheiten der so genannte Ioannina-Klausel vgl. C. Rüger (Anm. 34), S. 120.

  38. Jeanne Rubner in: Süddeutsche Zeitung vom 27. 7. 2007.

  39. Alexander Hagelüken in: Süddeutsche Zeitung vom 10. 7. 2007.

  40. Sozialistenführer Hollande in: Le Monde vom 24. 7. 2007.

  41. Vgl. G. Müller-Brandeck-Bocquet, Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Erweiterungen und Finalität, in: Wirtschaftsdienst, Februar 2007, S. 123 - 125.

  42. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25. 7. 2007; Le Monde vom 9. 3. und vom 20.4. 2007.

  43. Vgl. Le Monde vom 24. 7. 2007; seit längerem wird eine Zunahme deutsch-französischer Streitpunkte diagnostiziert. EADS = European Aeronautic Defence and Space Company.

  44. Nico Fried in: Süddeutsche Zeitung vom 28./29. 7. 2007.

  45. Vgl. Le Monde vom 23. 5. 2007.

  46. Ohne große Rückkoppelung mit den EU-Partner setzte Sarkozy den früheren Finanzminister der PS, Dominique Strauss-Kahn, als neuen IWF-Präsidenten durch.

  47. Vgl. J. Schild (Anm. 2), S. 221.

  48. Vgl. Eurobarometer Nr. 67, Sommer 2007, S. 4.

  49. Vgl. Eurobarometer Nr. 66, National Report Turkey, Herbst 2006, S. 4.

  50. So der Titel des Sonderberichts, den die Kommission im Auftrag des Europäischen Rats erarbeitet hat, vgl. KOM (2006) 649 endgültig, 8. 11. 2006.

  51. Vgl. Le Monde vom 30. 5. 2007 und Süddeutsche Zeitung vom 26. 6. 2007.

  52. So Sarkozy noch im Februar 2007; vgl. Le Monde vom 10.5. 2007.

  53. Rede von Sarkozy (Anm.24).

Dr. rer. pol.; geb. 1956; Professorin für Internationale Beziehungen und Europaforschung an der Universität Würzburg, Wittelsbacherplatz 1, 97074 Würzburg.
E-Mail: E-Mail Link: mbb@mail.uni-wuerzburg.de