Einleitung
Die zunehmenden Kämpfe zwischen den Taliban und der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan haben in den vergangenen Monaten zunehmend den Blick auf die Situation in Pakistan gerichtet. Viele Berichte weisen darauf hin, dass die Taliban ihre Rückzugsgebiete im unzugänglichen pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet haben, in dem sich auch das Al Qaida-Netzwerk reorganisiert haben soll.
Zugleich haben die Spannungen den außenpolitischen Fokus Pakistans, der traditionell auf Indien liegt, auf Afghanistan verschoben. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das pakistanische Interesse an Afghanistan seit den 1990er Jahren durch die Dominanz des Militärs in Pakistan und den indisch-pakistanischen Konflikt verständlich wird. Dabei bestand zwischen den Konflikten Pakistans mit Indien um Kaschmir sowie mit Afghanistan bis Ende der 1980er Jahre kaum eine Verbindung. Erst ab dieser Zeit begann die pakistanische Armeeführung, beide Konfliktfelder miteinander zu vernetzen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der Einbeziehung Pakistans in den Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist diese Strategie aber zunehmend unter Druck geraten. Um die Verbindung deutlich zu machen, sollen im Folgenden zunächst die Rolle der Armee in Pakistan und anschließend die trilateralen Beziehungen zwischen Pakistan, Indien und Afghanistan erörtert werden.
Außenpolitik in Pakistan: Die Dominanz des Militärs
Pakistan hatte von Beginn an schwierige Beziehungen zu seinen beiden Nachbarn Indien und Afghanistan. Ungelöste Territorialkonflikte, wie der Streit mit Indien um die Zugehörigkeit Kaschmirs, oder die Forderungen Afghanistans nach einem eigenen Staat für die Paschtunen, der Teile Pakistans umfassen sollte, belasteten das bilaterale Verhältnis. Diese außenpolitischen Konflikte sowie der schwierige Prozess des Nation-Building in Pakistan machten die Armee seit den 1950er Jahren zu einem zentralen Machtfaktor. Mit dem Putsch von General Ayub Khan 1958 begann die Entwicklung Pakistans zum "Garnisonsstaat".
Der anhaltende Konflikt mit Indien um Kaschmir beförderte die Dominanz des Militärs in der Außen- und Sicherheitspolitik. Selbst die vernichtende militärische Niederlage im Krieg 1971 gegen Indien konnte die innenpolitische Macht der Streitkräfte nicht brechen. 1977 putschte General Zia-ul Haq gegen Premierminister Sulfikar Ali Bhutto und setzte auf eine Islamisierung Pakistans, um die Legitimität seines Regimes zu vergrößern. In Folge des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan 1979 und der umfangreichen Militärhilfe der USA bildete der pakistanische Geheimdienst Inter-Service Intelligence (ISI) islamische Mujahedin zur Bekämpfung der Sowjetunion aus, was den Islamisierungsbemühungen Zia-ul Haqs weiteren Vorschub leistete.
Die außen- und sicherheitspolitische Dominanz und die innenpolitische Autonomie des Militärs zeigen sich an vielen Stellen. Als Reaktion auf die Niederlage gegen Indien 1971 entwickelte Pakistan ein eigenes Nuklearprogramm, das jedoch eine exklusive Domäne des Militärs blieb. So soll Premierministerin Benazir Bhutto nach ihrer Regierungsübernahme 1988 die Kenntnisse über das Nuklearprogramm ihres Landes nicht von ihren Generälen, sondern von amerikanischen Stellen erhalten haben. Der Konflikt mit Indien und Kaschmir war lange Zeit das wohl wichtigste identitätsstiftende Band für die pakistanische Gesellschaft, die in eine Vielzahl von ethnischen und religiösen Gruppen zerfällt. Damit wurden auch die hohen Rüstungsausgaben gerechtfertigt, die 2002 noch 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betrugen.
Das Militär hat auch eine Annäherung an Indien verhindert. Im Frühjahr 1999 unterzeichneten der pakistanische Premierminister Nawaz Sharif und der indische Premierminister A.B. Vajpayee die Lahore-Erklärung, mit der sie nach den Atomtests 1998 eine neue Phase der Annäherung einleiten wollten. Die Armeeführung unter General Pervez Musharraf hatte aber im Winter 1999 eine groß angelegte Infiltration in Kaschmir begonnen, die im Mai/Juni des Jahres zum Kargilkrieg führte, der die kurz zuvor begonnene Annäherung abrupt beendete. Im Juli 1999 zog Nawaz Sharif auf Druck der USA die pakistanischen Einheiten zurück. Im Oktober des Jahres putschte sich General Musharraf an die Macht.
Das Militär hat seitdem seine politische und wirtschaftliche Machtposition noch weiter ausgebaut und besetzt heute nahezu alle Seiten des gesellschaftlichen Spektrums. Während Sicherheit zu den Grundaufgaben der Streitkräfte zählt, haben diese ihre politische Mitsprache durch den 2004 geschaffenen nationalen Sicherheitsrat institutionalisiert. Wirtschaftlich hat sich die Armee zu einem "Staat im Staat" entwickelt. Die Armee ist u.a. der größte Transportunternehmer und der größte Landbesitzer, eine Reihe von Offizieren sind in führenden Positionen von öffentlichen Unternehmen beschäftigt.
Ein besonderes Merkmal der pakistanischen Außenpolitik gegenüber Indien und Afghanistan ist der Einsatz nichtstaatlicher Gewaltakteure, d.h. militanter Gruppen, durch das Militär. Bereits im Vorfeld des ersten Krieges mit Indien um Kaschmir 1947/48 beteiligten sich Offiziere der pakistanischen Armee an der Invasion der Stammeskrieger in Kaschmir. Beim zweiten Krieg 1965 setzte Pakistan bewaffnete Freischärler ein, die einen Aufstand im indischen Teil Kaschmirs entfachen sollten. Seit der Islamisierung unter Zia-ul Haq und der Unterstützung der Mujahedin in Afghanistan setzen das Militär und der ISI vor allem islamistische Gruppen, um außenpolitische Ziele zu erreichen, wie der Aufstand in Kaschmir ab Ende der 1980er Jahre sowie beim Siegeszug der Taliban in Afghanistan in den 1990er Jahren zeigte. Zwar haben auch Indien und Afghanistan in ihren Konflikten mit Pakistan nichtstaatliche Gewaltakteure eingesetzt, doch hat diese Strategie in Pakistan, bedingt durch die Dominanz des Militärs, eine längere Tradition und größere Perfektion erreicht. Das Militär nutzte die Religion innenpolitisch dazu, um die Legitimation seiner Herrschaft zu erhöhen, und außenpolitisch als Gegenmodell zu konkurrierenden nationalistischen Vorstellungen seitens der Paschtunen und Kaschmiris.
Die Beziehungen zwischen Pakistan, Indien und Afghanistan bis 1989
Die Gründung Pakistans als Staat für die Muslime des britisch-indischen Kolonialreiches war heftig umstritten. Der indische Nationalkongress hatte unter der Führung von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru die Unabhängigkeit von Großbritannien für alle Gruppen der indischen Gesellschaft erkämpft und sich einem eigenen Staat für die Muslime, wie ihn Muhammed Ali Jinnah und die Muslimliga forderten, widersetzt. Mit der Unabhängigkeit Britisch-Indiens entstanden im August 1947 Indien und Pakistan, das aufgrund der Bevölkerungsverteilung der Muslime aus einem westlichen und östlichen Landesteil bestand, die mehr als 1 600 Kilometer durch Indien voneinander getrennt waren. Aber auch Afghanistan tat sich mit der Unabhängigkeit Pakistans schwer. Mit seiner mehrheitlich paschtunischen Bevölkerung erhob es territoriale Ansprüche auf Teile der North West Frontier Province (NWFP), deren Anschluss an Pakistan durch das Referendum vom Juli 1947 von den Regierungen in Kabul nicht akzeptiert wurde. Zudem erkannte Afghanistan die von den Briten gezogene Durand-Line, welche die paschtunischen Gebiete durchtrennte, als Grenze zu Pakistan nicht an und stimmte als einziges Land gegen die Aufnahme Pakistans in die VN.
Die pakistanische Außenpolitik kreiste nach 1947 vornehmlich um ein Thema: Kaschmir und die Beziehungen zu Indien. Bei der Unabhängigkeit Britisch-Indiens konnten Fürstenstaaten wie Kaschmir ihren eigenständigen Status behalten. Kaschmir symbolisierte für Pakistan die Vollendung seiner Staatsidee als Land für die Muslime Südasiens. Für Indien wiederum galt ein mehrheitlich muslimischer Bundesstaat Kaschmir als Symbol des säkularen Staates.
Der Konflikt mit Indien bewegte die pakistanische Führung Mitte der 1950er Jahre, westlichen Verteidigungsbündnissen wie der Southeast Asia Treaty Organization (SEATO 1954) und 1956 der Central Treaty Organisation (CENTO) beizutreten. Parallel dazu baute Pakistan seine militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA aus. Während für die USA allerdings die Eindämmung des Kommunismus im Vordergrund stand, blieb für Pakistan die Kaschmirfrage und ein möglicher weiterer Konflikt mit Indien von Interesse. Nach dem Tode des indischen Premierministers Nehru 1964 glaubte die pakistanische Führung, die vermeintliche Schwächephase Indiens für eine Lösung der Kaschmirfrage nutzen zu können. Mit der Infiltration von Aufständischen in den indischen Teil Kaschmirs im August 1965 sollte ein Aufstand entfacht werden, der dann durch die Intervention der pakistanischen Armee unterstützt werden sollte. Die Strategie schlug allerdings fehl, da die Aufständischen kaum Rückhalt bei den Kaschmiris fanden. Der zweite indisch-pakistanische Krieg endete im September 1965 nach einem Waffenembargo der USA gegen die Kriegsparteien und einer Resolution der VN.
Der dritte Krieg entzündete sich 1971 an dem Bürgerkrieg in Ostpakistan. Der Konflikt löste eine Flüchtlingswelle nach Indien aus, das die ostpakistanischen Rebellen unterstützte. Im Dezember 1971 intervenierte die indische Armee und besiegte die pakistanische Armee nach kurzen Kämpfen. Die Niederlage war auch politisch ein Desaster für Pakistan. Die Idee der Gründungsväter war durch den Bürgerkrieg und die nachfolgende Unabhängigkeit Bangladeschs zerstört worden. Dennoch erzielte der pakistanische Premierminister Bhutto einen Erfolg, denn er konnte bei den Friedensverhandlungen mit Indien eine endgültige Beilegung der Kaschmirfrage verhindern. Der Vertrag von Simla 1972 legte zwar die Kontrolllinie in Kaschmir neu fest, allerdings verzichtete die indische Premierministerin Indira Gandhi darauf, die Kontrolllinie zur endgültigen Grenze zu machen.
Die indisch-pakistanischen Beziehungen blieben auch in der Folge unterkühlt. Indien beschuldigte Pakistan Anfang der 1980er Jahre, militante Sikhs zu unterstützen, die im Punjab für einen eigenen Staat kämpften. Mitte der 1980er Jahre besetzten indische und pakistanische Einheiten Teile des Siachen-Gletschers in Kaschmir, wo der Grenzverlauf aufgrund der unwirtlichen Bedingungen im Vertrag von Simla nicht festgelegt worden war.
Die pakistanisch-afghanischen Beziehungen wurden anfangs von der Paschtunenfrage geprägt. Vor allem während der Regierungen von Mohammed Daoud, der als Vertreter des paschtunischen Nationalismus galt, verschlechterten sich die bilateralen Beziehungen in den 1950er Jahren und nach dem Putsch 1973. Der pakistanische Premierminister Sulfikar Ali Bhutto setzte in den 1970er Jahren auf die religiöse Karte, um dem paschtunischen Nationalismus zu begegnen, und er unterstützte kleinere Aufstände im Osten Afghanistans.
Die trilateralen Beziehungen zwischen 1989 und 2001
Ende der 1980er Jahre veränderten sich die Beziehungen zwischen Pakistan, Indien und Afghanistan grundlegend. Die Sowjetunion hatte sich 1989 endgültig aus Afghanistan zurückgezogen. Pakistan fürchtete eine nationalistische Regierung der Paschtunen, deren traditionell gute Beziehungen mit Indien die Gefahr einer Einkreisung Pakistans heraufbeschworen. Aslam Beg, der nach dem Tod Zia-ul Haqs 1988 das Amt des Armeeoberbefehlshaber übernommen hatte, skizzierte die Grundzüge einer neuen Strategie, in der Afghanistan als Hinterland Pakistans fungieren solle. Durch eine "freundliche", d.h. von Pakistan kontrollierte Regierung in Kabul, sollte Pakistan angesichts eines möglichen Konflikts mit Indien an strategischer Tiefe gewinnen. Zudem sollte Afghanistan als Ausbildungslager und Rückzugsgebiet für militante kaschmirische Gruppen dienen.
Die pakistanische Strategie, militante islamistische Gruppen zur Durchsetzung der außenpolitischen Interessen gegenüber Indien und Afghanistan einzusetzen, funktionierte in den 1990er Jahren. Pakistan unterstützte seit Anfang der 1990er Jahre die Taliban, deren religiöse Ausrichtung ein Gegengewicht zum paschtunischen Nationalismus sein sollte. Als die Taliban 1996 schließlich die Macht in Kabul errangen, war Pakistan eines der wenigen Länder, das die neue Regierung Afghanistans anerkannte. Im indischen Teil Kaschmirs war nach den gefälschten Landtagswahlen 1987 eine muslimische Protestbewegung entstanden. Der ISI nutzte die Revolte und unterstützte islamistische Gruppen, wie die Hizb-ul-Mujahideen (HM), die einen Anschluss an Pakistan sowie eine Islamisierung Kaschmirs forderte. Zudem ging der ISI dazu über, ehemalige Mujahedin aus Afghanistan nach Kaschmir einzuschleusen. Indien setzte auf eine militärische Niederschlagung des Aufstands in Kaschmir, was in den 1990er Jahren zu einer bis dahin nicht gekannten Eskalation der Gewalt führte.
Mit den Atomtests Indiens und Pakistans im Mai 1998 schien sich die Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung zwischen beiden Staaten über Kaschmir zu erhöhen. Im Februar 1999 kam es jedoch mit der Erklärung von Lahore zu einer kurzfristigen Annäherung, die durch die pakistanische Infiltration in Kargil und den anschließenden Krieg zwischen Indien und Pakistan nach wenigen Monaten abrupt endete. Das nukleare Gleichgewicht brachte somit keine wirkliche Abschreckung, da der Einsatz nichtstaatlicher Akteure weiterhin kriegerische Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten ermöglichte. Politisch zielte Pakistan mit dieser Strategie auf eine Internationalisierung des Kaschmirkonflikts ab, die von Indien strikt abgelehnt wurde.
Der 11. September und die Folgen
Die pakistanische Strategie gegenüber Indien und Afghanistan erfuhr mit den Anschlägen vom 11. September 2001 einen empfindlichen Rückschlag. Innerhalb weniger Tage nach den Anschlägen entschied sich Pakistan auf Druck der USA für eine Teilnahme am Kampf gegen den Terrorismus. Pakistan wurde in der Folge einer der wichtigsten Verbündeten der USA, setzte aber zunächst seine Unterstützung militanter Gruppen in Kaschmir fort. General Musharraf erklärte im November 2001, dass durch die Aufgabe der Taliban die Kerninteressen Pakistans, die Nuklearwaffen und Kaschmir, gerettet worden waren.
Pakistan versuchte in der neu entstandenen Diskussion über den internationalen Terrorismus, die Menschenrechtsverletzungen der indischen Streitkräfte in Kaschmir als "Staatsterrorismus" zu brandmarken. Indien wiederum verwies auf die Unterstützung islamistischer Gruppen durch den ISI und kritisierte die Einbindung Pakistans in die Allianz der USA. Als Reaktion auf die gescheiterte Erstürmung des Parlaments in Neu-Delhi im Dezember 2001 drohte die indische Regierung mit Militärschlägen, um die Infrastruktur der militanten Gruppen in Kaschmir zu zerstören und die Infiltration über die Kontrolllinie zu beenden. Die indisch-pakistanische Krise vom Sommer 2002 und die Gefahr einer möglichen nuklearen Eskalation konnten erst durch diplomatische Interventionen der USA und Großbritanniens entschärft werden.
Die Regierung Musharraf hatte durch Wahlmanipulationen 2002 die Macht der religiösen Parteien gestärkt, die ideologisch den Taliban in Afghanistan nahe standen. Obwohl diese den Krieg in Afghanistan und die USA heftig kritisierten, benötigte Musharraf die religiösen Parteien für seine innenpolitischen Reformvorhaben, mit denen 2003 seine Macht als Präsident und die Rolle des Militärs weiter gestärkt wurden. Zugleich konnte sich Musharraf dadurch gegenüber dem Westen als Beschützer vor einer islamistischen Machtübernahme Pakistans präsentieren.
Die Diskussionen im Kontext des Irakkriegs 2003, in denen die USA ein militärisches Vorgehen gegen Staaten rechtfertigten, die den Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen unterstützen, wurde in Islamabad aufmerksam verfolgt, vor allem, da 2003 das nukleare Netzwerk von A.Q. Khan, dem Vater der pakistanischen Atombombe, aufgedeckt wurde, der nukleare Technologie u.a. an Iran und Libyen geliefert hatte. Vor dem Hintergrund der veränderten internationalen Konstellationen vollzog Musharraf 2003 einen grundlegenden Kurswechsel in der Kaschmirfrage. Im April 2003 hatte der indische Premierminister Vajpayee Pakistan erneut Verhandlungen angeboten, um das bilaterale Verhältnis zu entspannen. Im Herbst 2003 verständigten sich beide Seiten auf einen Waffenstillstand und begannen im Februar 2004 einen umfassenden Dialog (composite dialogue), in dessen Rahmen Pakistan die Kaschmirfrage, Indien die Frage des Terrorismus erörterten. Eine Reihe von Anschlägen islamistischer Gruppen haben zwar den Prozess der Annäherung kurzfristig unterbrochen, jedoch nicht beendet. Im April 2005 erklärten der indische Premierminister Manmohan Singh und Präsident Musharraf den Friedensprozess als "irreversibel" und verständigten sich auf Grundzüge für eine mögliche Beilegung der Kaschmirfrage. So lehnte Pakistan die von Indien immer wieder ins Spiel gebrachte Umwandlung der Kontrolllinie in eine internationale Grenze ab. Indien wiederum wies Vorschläge Pakistans für eine Neuaufteilung Kaschmirs mit dem Hinweis auf die Unveränderbarkeit der bestehenden Grenzen zurück. Durch Verfassungsregelungen könnte die interne Autonomie des indischen und pakistanischen Teils Kaschmirs ausgeweitet werden, so dass die Kaschmiris eine größere Selbstverwaltung erhielten. Nach dem Erdbeben in Kaschmir im Oktober 2005 verständigten sich Indien und Pakistan auf die Einrichtung von Übergangsstellen für die Zivilbevölkerung an der Kontrolllinie, die damit erstmals durchlässig wurde.
Bis Mitte 2007 gab es insgesamt vier Verhandlungsrunden des composite dialogue, in denen vertrauensbildende Maßnahmen wie Reiseerleichterungen, neue Verkehrsverbindungen u.a. in Kaschmir und im Punjab sowie bessere wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit vereinbart wurden. Zwar gab es bislang keinen Durchbruch in der Kaschmirfrage, doch haben beide Seiten durch Verhandlungen im Hintergrund ihre konträren Standpunkte zu Kaschmir weiter angenähert.
Mit seinen Initiativen seit 2003 vollzog Musharraf eine für die pakistanische Außenpolitik grundsätzliche Kehrtwende in der Kaschmirfrage, die innenpolitisch aber nicht unumstritten ist. Er verlagerte Pakistans ursprüngliche Position, die auf der Durchführung eines Referendums im Kontext der VN-Resolutionen beharrte, auf die bilaterale Ebene, in der nun eine Einigung mit Indien unter Einbeziehung der Kaschmiris in greifbare Nähe gerückt ist. Die Infiltration an der Kontrolllinie ist deutlich zurückgegangen, wenngleich es weiterhin zu Anschlägen islamistischer Gruppen in Kaschmir kommt.
Die Annäherung an Indien wurde offensichtlich notwendig, da der Druck der internationalen Gemeinschaft auf Pakistan in Bezug auf Afghanistan wuchs. Pakistan hatte zwar seit 2001 eine Reihe von Al Qaida-Führern festgenommen, doch nur wenige Erfolge gegen die Taliban erzielt. Im Zuge ihres Wiedererstarkens in Afghanistan zeigte sich, dass deren Rückzugs- und Nachschubgebiete in den selbst verwalteten Stammesgebieten der FATA lagen. Im Frühjahr 2004 begannen die pakistanischen Streitkräfte militärische Aktionen gegen die militanten Gruppen in den FATA. Dabei wurde deutlich, dass sich die alten Stammesstrukturen durch den jahrzehntelangen Einfluss religiöser Gruppen zunehmend islamisiert hatten. Gemäßigte Stammesführer, die mit der Regierung zusammengearbeitet hatten, wurden getötet, und islamistische Gruppen trieben in den Stammesgebieten von Nord- und Südwaziristan sowie den angrenzenden Distrikten der NWFP eine Politik der "Talibanisierung" voran, die auch in Pakistan zunehmend als Bedrohung gesehen wird. Da die Streitkräfte die Stämme militärisch nicht besiegen konnten, ging die Regierung dazu über, Friedensabkommen mit einzelnen Stammesgruppen zu schließen, z.B. im September 2006 mit den Stämmen in Nord-Waziristan, um die Infiltration nach Afghanistan zu beenden. Ziel der pakistanischen Strategie war es offensichtlich, die paschtunischen Teile der militanten Gruppen zu befrieden und diese für den Kampf gegen die ausländischen Kämpfer zu gewinnen. So kam es im Frühjahr 2007 zu heftigen Gefechten zwischen den Stämmen, die von der Armee unterstützt wurden, gegen usbekischen Kämpfer in der Region.
Nicht nur die afghanische Regierung, sondern auch die NATO in Afghanistan kritisierten die offensichtlich weiter andauernde Unterstützung der Taliban in Pakistan, obwohl die pakistanischen Streitkräfte über 80 000 Soldaten in den FATA stationiert und bislang über 700 Tote zu beklagen haben. Hier zeigte sich ein grundlegendes Dilemma für die pakistanische Führung. Aus geostrategischer Perspektive bleibt die Präsenz der USA und der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan für das pakistanische Militär von größter Bedeutung. Bei einem Abzug, sei es aufgrund einer weiteren Eskalation des Bürgerkriegs oder aufgrund der Befriedung des Landes, befürchtet das pakistanische Militär, dass Afghanistan seine traditionell guten Beziehungen zu Indien wieder aufnimmt, so dass eine "Einkreisung" durch Indien droht.
Deshalb kritisiert Pakistan das indische Engagement in Afghanistan und beschuldigt Indien, durch Konsulate nahe der pakistanischen Grenze die Aufstandsbewegung in Belutschistan zu unterstützen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Teile der paschtunischen Taliban in Pakistan weiterhin einen Freiraum haben, wohingegen die ausländischen, der Al Qaida nahestehenden Kämpfer bekämpft werden. Damit versucht das pakistanische Militär, sich weiterhin seinen Einfluss in Afghanistan zu sichern und gleichzeitig den Anforderungen der USA, Erfolge im Anti-Terrorkampf vorzuweisen, Genüge zu leisten. Hinzu kommt, dass vor allem die paschtunische Zivilbevölkerung unter den Kämpfen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet zu leiden hat, was den Unmut in der pakistanischen Armee schüren könnte, in der Paschtunen die zweitgrößte Gruppe bilden.
Ausblick
Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass eine Befriedung Afghanistans ohne die Einbeziehung Pakistans kaum zu erreichen ist. Aus pakistanischer Perspektive wiederum ist Afghanistan aber nur eine abhängige Variable im geostrategischen Kontext, der vom Verhältnis zu Indien bestimmt wird. Problematisch ist, dass das außenpolitische Denken fast ausschließlich von der geostrategischen Perspektive des Militärs bestimmt wird. Eine Alternative wäre z.B. eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Afghanistan, Pakistan und Indien, die Mitglieder der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC) sind. Das 2006 in Kraft getretene Freihandelsabkommen SAFTA bietet hierfür eine Grundlage. Pakistan hat jedoch das Abkommen bislang nur teilweise umgesetzt und beharrt weiterhin zuerst auf einer Lösung der Kaschmirfrage, bevor der Handel mit Indien ausweitet wird.
Innenpolitisch bildet die Rückkehr zur Demokratie in Pakistan eine weitere Option. Freie und faire Wahlen würden nicht nur eine demokratische Regierung ins Amt bringen, sondern auch die politische Schwäche der religiösen Parteien aufzeigen. Der Rückzug des Militärs aus der Politik würde dessen außenpolitische Bedeutung nur wenig schmälern. Die Zusammenarbeit mit einer gewählten Regierung böte der Armee aber die Möglichkeit, politisch gestärkt gegen die militanten Gruppen vorzugehen. Auch die Nachbarn können ihren Teil dazu beitragen, den Sicherheitsbedenken des pakistanischen Militärs Rechnung zu tragen. Eine dauerhafte und gesichtswahrende Regelung der Kaschmirfrage mit Indien und eine Anerkennung der Durand-Linie, also der pakistanischen Westgrenze, durch Afghanistan würden dabei einen wichtigen Beitrag für den Erfolg des internationalen Engagements in Afghanistan und für eine Stabilisierung der Region leisten.