Einleitung
Von den 60 Jahren seit der Staatsgründung 1947 hat Pakistan 37 Jahre lang unter direkter oder indirekter Herrschaft des Militärs gestanden. Die aktuelle Phase begann mit dem Staatsstreich von General Pervez Musharraf vom 12. Oktober 1999 und steht jetzt möglicherweise kurz vor dem Ende. Musharraf, der seit Ende 1999 die politische Szene des Landes fast unangefochten dominiert, steht im Herbst 2007 erstmals vor einer ernsthaften Kraftprobe, deren Ausgang noch ungewiss ist. Seine Entscheidung vom 9. März 2007, den politisch unbequemen Obersten Richter Iftikhar Muhammad Chaudhry von seinem Amt zu suspendieren, hat eine Massenbewegung für die Unabhängigkeit der Justiz in Pakistan provoziert, die mit der Wiedereinsetzung Chaudhrys am 20. Juli einen historischen Sieg erkämpft hat. Während Musharraf keinen Versuch unternommen hat, dieses Urteil des Obersten Gerichts anzufechten, hat dasselbe Gericht am 23. August mit der Anordnung, die Wiedereinreise des 1999 gestürzten Nawaz Sharif nach Pakistan in keiner Weise zu behindern, Musharraf weiter geschwächt.
Weitere beim Obersten Gericht eingeleitete Verfahren betreffen direkt Musharrafs eigene politische Zukunft. Sein Plan, sich noch vor den Ende 2007 anstehenden Parlamentswahlen von den 2002 gewählten Parlamentariern für weitere fünf Jahre als Staatspräsident im Amt bestätigen zu lassen, ohne zuvor seine zusätzliche Funktion als Oberbefehlshaber der Streitkräfte niederzulegen, könnte an Verfassungsklagen der oppositionellen Parteien scheitern. Im Übrigen haben Musharrafs seit Ende Juli forcierten Versuche eines politischen Arrangements mit Benazir Bhutto und ihrer Pakistan People's Party (PPP)
Während die genannten Herausforderungen für Musharrafs Regime durchaus als Anzeichen einer demokratischen Evolution angesehen werden können, haben andere innenpolitische Konflikte in den vergangenen Jahren bedrohliche Ausmaße angenommen. Ein expansiver, in hohem Maße gewaltbereiter Islamismus, der sich am Vorbild der afghanischen Taliban orientiert, hat - ausgehend von einigen Tribal Areas im Grenzgebiet zu Afghanistan - inzwischen in weiten Teilen der von Paschtunen besiedelten North-West Frontier Province (NWFP) Fuß gefasst. Diese gemeinhin als "Talibanisierung" bezeichnete Tendenz hat über die zahllosen religiösen Schulen (Madrasas) längst auch in den Großstädten Pakistans eine erhebliche Anhängerschaft gefunden, wie die monatelange Auseinandersetzung um die Rote Moschee im Herzen der Hauptstadt Islamabad gezeigt hat. Dem Sturm auf die Rote Moschee vom 3.bis 11. Juli 2007 folgte eine Serie von Anschlägen radikaler Islamisten, vor allem in der NWFP, von denen sich viele direkt gegen die pakistanische Armee und andere Sicherheitskräfte gerichtet haben.
Unabhängig vom Ausgang der Machtprobe zwischen dem Musharraf-Lager und den Mainstream-Oppositionsparteien dürfte die Auseinandersetzung zwischen säkularen und islamistischen Kräften in Pakistan in den kommenden Jahren noch schärfer werden. Dabei sind die in der MMA zusammengeschlossenen Parteien durchaus dem islamistischen Lager zuzurechnen, auch wenn sich ihre Aktivitäten ganz im Rahmen der Legalität bewegen und sie sich selbst von jeder Gewaltanwendung distanzieren. Parteien wie die Jam'iyat al-Ulama-i Islam (JUI) und Jama'at-i Islami teilen jedoch viele Ziele der radikalen Islamisten, einschließlich der Sympathie für den "Widerstand" der Taliban in Afghanistan, und sie verurteilen fast reflexhaft jedes gewaltsame Vorgehen staatlicher Kräfte gegen islamistische Gruppen.
Musharraf, der wegen seiner pro-amerikanischen Politik seit 2003 wiederholt selbst Ziel von Mordanschlägen radikaler Islamisten gewesen ist, hat die Auseinandersetzung mit dem religiösen Extremismus seit Jahren zu einem zentralen Thema seiner politischen Reden und wichtigen Element der Rechtfertigung seiner Machtfülle gemacht. Seine Gegner werfen ihm jedoch vor, den Islamisten absichtlich übermäßige Freiräume geschaffen zu haben, um sich im In- und Ausland umso besser als "Schutzschild gegen die islamistische Gefahr" profilieren zu können, angefangen mit der Bevorzugung der MMA im Vorfeld der Parlamentswahlen von 2002 bis hin zur monatelangen Duldung von Rechtsbrüchen durch Madrasa-Studenten im Umfeld der Roten Moschee in Islamabad 2007. Tatsächlich haben Musharraf und die Regierungen unter seiner Ägide eine Art Zickzackkurs gegenüber den radikalen Islamisten verfolgt, bei dem sich energische repressive Maßnahmen mit Laisser faire abgewechselt haben. Der gleiche Vorwurf muss jedoch auch den Regierungen von Benazir Bhutto und mehr noch denen von Nawaz Sharif während der 1990er Jahre gemacht werden. Musharrafs persönliche Identifikation mit der von ihm propagierten Enlightened Moderation
Das Herrschaftssystem von Musharraf
Musharraf hat sich zur Rechtfertigung seiner Herrschaft von Anfang an formal legaler Konstrukte und der Allianz mit kooperationsbereiten politischen Kräften bedient. Sein System kann als militärisch-zivile Hybrid-Herrschaft charakterisiert werden, bei der er selbst alle wichtigen innen- und außenpolitischen Entscheidungen trifft, während den zivilen Kabinetten die Führung der laufenden Regierungsgeschäfte überlassen bleibt. Wie Musharraf selbst wiederholt eingeräumt hat, steht und fällt seine Machtfülle mit seinem Oberbefehl über die Streitkräfte, die bisher loyal und diszipliniert zu ihm gestanden haben. Bemerkenswert ist jedoch, dass Kritik am Militär (und an der Person Musharrafs) seit dem Putsch von 1999 in den Medien und der Öffentlichkeit expliziter geäußert werden darf als zuvor. Die traditionell sehr freien Printmedien Pakistans sind in den vergangenen Jahren durch mehrere politisch sehr engagierte private Fernsehsender ergänzt worden, die sich als wirksame "vierte Gewalt" etabliert haben.
Die dritte Gewalt, die Justiz, verhielt sich hingegen bis zur Ernennung Iftikhar Muhammad Chaudhrys zum Obersten Richter im Mai 2005 weitgehend fügsam und konform zu den Interessen Musharrafs. Am 26. Januar 2000 ließen sich 89 hoch rangige Richter (darunter auch Chaudhry) auf eine von Musharraf erlassene Provisional Constitutional Order vereidigen; nur 15 Richter entschieden sich zum Rücktritt. Eine Klage der PML vor dem Obersten Gericht auf Wiedereinsetzung der Regierung von Nawaz Sharif wurde am 12.Mai 2000 abgewiesen und Musharrafs Selbsternennung zum Chief Exekutive formell legalisiert, mit der Auflage, bis Oktober 2002 Neuwahlen für die suspendierten Parlamente durchzuführen. Nawaz Sharif selbst war zuvor (am 6. April 2000) von einem Sondergericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er am Tag des Putsches versucht hatte, ein Passagierflugzeug mit Musharraf an Bord an der Landung in Pakistan zu hindern.
Schon seit Ende 1999 artikulierten sich Dissidentengruppen innerhalb der PML, die sich am 20. November 2000 in einen Pro-Musharraf-Flügel (PML-Q) und einen weiterhin zu Nawaz Sharif haltenden Flügel (PML-N) spaltete. Die PML-N verbündete sich am 3. Dezember 2000 mit der PPP und einigen kleineren Parteien zur Alliance for the Restoration of Democracy (ARD). Um der ARD den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurde Sharif am 9. Dezember 2000 begnadigt und samt seiner Familie nach Saudi-Arabien abgeschoben, mit der Auflage, zehn Jahre lang nicht nach Pakistan zurückzukehren und sich im Exil jeglicher politischen Aktivitäten zu enthalten. Die PPP-Vorsitzende Bhutto befand sich bereits seit 1998 außer Landes, während ihr Ehemann Asif Ali Zardari Ende 1996 verhaftet worden war und erst Ende 2004 auf Kaution freikam. Mehrere noch unter der Regierung Sharif eingeleitete Verfahren gegen Bhutto und Zardari wegen Korruptionsverdachts wurden unter Musharraf fortgesetzt, ohne dass es je zu Verurteilungen kam, und erst 2007 eingestellt. Ein von Musharraf kurz nach seiner Machtübernahme eingerichtetes National Accountability Bureau (NAB) führte in den ersten Jahren erfolgreiche Ermittlungen gegen Dutzende korrupter Politiker und erzwang die Rückzahlung zahlreicher nicht bedienter Kredite bei staatlichen Banken. Seit 2002 wurde das NAB jedoch vor allem als Drohmittel eingesetzt, um Politiker auf Regierungskurs zu bringen, und trug so wesentlich zum starken Anwachsen der PML-Q bei.
In Vorbereitung auf die Parlamentswahlen, deren vom Obersten Gericht gesetzten Termin Musharraf akzeptiert hatte, ernannte er sich am 20. Juni 2001 selbst zum Staatspräsidenten und organisierte am 30. April 2002 ein Referendum, das ihn in diesem Amt bestätigte. Mit einem Paket von Verfassungsänderungen, die er am 21.August 2002 als Legal Framework Order (LFO) dekretierte, wurden die Befugnisse des Staatspräsidenten gegenüber dem vom Parlament zu wählenden Ministerpräsidenten erweitert. Schon vorher hatte Musharraf per Dekret bestimmt, dass Personen, die - wie Nawaz Sharif und Benazir Bhutto - bereits zweimal das Amt des Ministerpräsidenten ausgeübt haben, von einer dritten Kandidatur ausgeschlossen werden.
Bei den Wahlen vom 10. Oktober 2002 gewann die PML-Q die absolute Mehrheit im Punjab, musste aber in Sindh und Belutschistan Koalitionen mit der Muttahida Qaumi Movement (MQM)
Nachdem andauernde Proteste gegen Musharrafs LFO und seine Doppelfunktion als Staatspräsident und Armeechef ein Jahr lang die Arbeit der Parlamente fast paralysiert hatten, war es schließlich die MMA, die Musharraf Anfang 2004 zu der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für die meisten Bestimmungen der LFO als "17. Verfassungsänderung" verhalf. Im Gegenzug versprach Musharraf, bis spätestens Ende 2004 das Amt des Armeechefs niederzulegen. Da die MMA jedoch wenig später alles daransetzte, sich erneut als Oppositionspartei zu profilieren, fühlte Musharraf sich nicht mehr an die Vereinbarungen mit der MMA gebunden und ließ am 14. Oktober 2004 die National Assembly mit einfacher Mehrheit ein Gesetz beschließen, das ihm die "Uniform" bis zum Ablauf seiner regulären Amtszeit als Staatspräsident am 15. November 2007 erlaubte. Von der Opposition angekündigte "Massenagitation" gegen Musharraf wegen des Bruchs seiner Versprechen blieb harmlos, da sich ARD und MMA nicht auf eine gemeinsame politische Linie einigen konnten und die jeweils stärksten Parteien innerhalb der ARD (die PPP) und der MMA (die JUI) nicht an einer ernsthaften Konfrontation interessiert waren.
Auch in der Folgezeit bis zum Frühjahr 2007 kam es nie zu den wiederholt angedrohten Massenprotesten gegen Musharraf. Die JUI blieb stets auf die Konsolidierung ihrer Position in der NWFP, in Belutschistan und in der National Assembly bedacht und zwang auch der Jama'at al-Islami ihren eigenen pragmatischen Kurs auf. Die PPP stand ihrerseits ideologisch Musharrafs Konzept der Enlightened Moderation weit näher als der Islamisierungsagenda der MMA und intensivierte seit der Freilassung von Asif Ali Zardari diskrete Verhandlungen mit Emissären Musharrafs. Zwar verpflichtete sich die PPP in einer im Mai 2005 mit der PML-N und anderen Mitgliedern der ARD unterzeichneten "Demokratie-Charta" zu einem gemeinsamen Verhaltenskodex gegenüber der "Militärdiktatur", der u.a. separate Vereinbarungen mit Musharraf ausschloss, aber wenig später trennten sich auch die Wege von PPP und PML-N wieder. Tatsächlich gelang es Musharraf mit weiteren gezielten Avancen an die PPP, die ARD zu spalten, und sie existiert seit der Gründung der neuen Oppositionsfront APDM im Juli 2007 nur noch dem Namen nach.
Entwicklungen in der islamistischen Szene
Die Anfang 2002 im Kontext der Proteste gegen die amerikanische Afghanistan-Invasion und deren Unterstützung durch Pakistans Regierung gegründete MMA verdankte ihren Wahlerfolg im selben Jahr vor allem den Stimmen von Paschtunen, die mit dem Ende 2001 gestürzten Regime der Taliban sympathisiert hatten. Zudem waren die islamistischen Parteien erstmals als geschlossene Wahlallianz aufgetreten und hatten so in vielen Wahlkreisen die Hürden des pakistanischen Mehrheitswahlrechts nehmen können. Die meisten Mandate gewann der von Maulana Fazlur-Rahman geführte Mehrheitsflügel der JUI, gefolgt von der Jama'at-i Islami von Qazi Hussain Ahmad, während die übrigen vier Komponentenparteien der MMA stets nur Juniorpartner blieben.
Während der Proteste gegen die Afghanistan-Politik Musharrafs Ende 2001 wurden auch Fazlur-Rahman und Qazi Hussain Ahmad unter Hausarrest gestellt; sie wurden jedoch nach einigen Monaten wieder freigelassen und blieben seitdem unbehelligt. Hingegen verbot Musharraf im Januar 2002 die radikal-islamistischen Organisationen Lashkar-i Taiba und Jaish-i Muhammad, die zuvor jahrelang als Hauptprotagonisten des "Kaschmir-Jihads" vom ISI gefördert worden waren. Ebenfalls verboten wurde die radikal antischiitische Gruppe Sipah-i Sahaba und - aus Gründen der "konfessionellen Symmetrie" - die TJP.
Erwartungsgemäß wurden diese Maßnahmen nur halbherzig verfolgt. Innerhalb weniger Monate befanden sich fast alle im Januar 2002 verhafteten Islamisten wieder auf freiem Fuß, die verbotenen Organisationen nahmen unter neuen Namen ihre Aktivitäten wieder auf, und auch das Madrasa-Reformprojekt wurde in zähen Verhandlungen mit den Dachverbänden der religiösen Schulen immer mehr verwässert. Einen zweiten Anlauf unternahm die Regierung im November 2003 mit dem Verbot der Nachfolgeorganisationen von Sipah-i Sahaba, Jaish-i Muhammad und TJP sowie der Hizb ul-Tahrir. Der dritte Anlauf mit landesweiten Razzien gegen radikal-islamistische Organisationen und Hunderten von Verhaftungen fand kurz nach den Anschlägen in London vom 7. Juli 2005 statt, da Verbindungen der Attentäter zu Madrasas in Pakistan vermutet wurden. Im gleichen Monat versucht die MMA, eine Art parallele islamische Gerichtsbarkeit in der NWFP einzuführen, was an einer Verfassungsbeschwerde im Auftrag Musharrafs scheiterte.
Zu einem größeren Problem als die verbotenen Gruppen und die MMA entwickelte sich schon ab Ende 2003 die Situation im afghanischen Grenzgebiet, besonders in den Federal Administered Tribal Areas (FATA) der NWFP.
Pakistans Armee führte bereits im Herbst 2003 und im Frühjahr 2004 größere Operationen in Süd-Waziristan durch, die sich in erster Linie gegen dort versteckte ausländische Terroristen und deren örtliche Helfer richteten. Sie wurden erstmals im April 2004 durch ein ungeschriebenes "Friedensabkommen" unterbrochen, das jedoch nur wenige Wochen Bestand hatte. Nach monatelangen Kämpfen mit hohen Verlusten auf beiden Seiten kam es im Februar 2005 zu einem neuen Abkommen in Süd-Waziristan, aber wenig später wurde Nord-Waziristan zum neuen Hauptschauplatz von Angriffen gegen Einheiten der pakistanischen Armee und des Frontier Corps und zur Basis örtlicher Taliban, die ihre Aktivitäten schrittweise auf an die FATA angrenzende Distrikte der NWFP ausweiteten. Schließlich unterzeichneten am 5. September 2006 der Gouverneur der NWFP und der Führer der "Militants" in Nord-Waziristan ein umfassendes Abkommen, das von der Regierung als "politischer Lösungsansatz" angepriesen, aber von Afghanistan, den USA und vielen westlichen Staaten als Beschwichtigungspolitik gegenüber Extremisten mit zweifelhaftem Nutzen kritisiert wurde.
In den vergangenen zwölf Monaten haben sich die Trends von Waziristan auch in anderen Gebieten der NWFP, wie der Bajaur Tribal Agency und dem Swat-Tal, fortgesetzt, in denen örtliche Taliban immer dreister die Staatsmacht herausgefordert und der Bevölkerung ihre Version eines rigiden Fundamentalismus aufgezwungen haben. Dazu gehören massive Behinderung der Schulausbildung von Mädchen und selbst von Kampagnen zur Polio-Impfung, Anschläge gegen Friseur- und Musikläden und zahlreiche Morde bzw. Mordversuche an Personen, die der "Spionage" bzw. "Kollaboration" mit den Sicherheitskräften bezichtigt werden. Während die afghanische Regierung und Vertreter der NATO-Staaten seit 2003 kontinuierlich ein energischeres Vorgehen gegen die Basen der Taliban im pakistanischen Grenzgebiet angemahnt haben und die USA seit einigen Monaten mit eigenen militärischen Aktionen gegen mutmaßliche neue "sichere Häfen" der Al-Qa'ida ebendort drohen, verweist Pakistan auf die Stationierung von mehr als 80 000 Soldaten in den bis 2003 nur durch örtliche paramilitärische Truppen kontrollierten Tribal Areas und auf hohe eigene Verluste, und fordert seinerseits ein größeres Engagement Afghanistans zur Sicherung seiner Grenze vor Infiltranten.
Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren schon zahlreiche Grenzverletzungen durch in Afghanistan operierende US-Truppen in den Tribal Areas gegeben, darunter Angriffe mit ferngelenkten Flugkörpern. So kamen am 13. Januar 2006 bei dem Versuch, Ayman al-Zawahiri, den Vize-Chef der Al-Qa'ida, mit solchen "Drohnen" zu töten, im Dorf Damadola der Bajaur Agency 18 Personen ums Leben, darunter mindestens 14 Zivilisten. Ein Luftangriff auf eine Madrasa am selben Ort am 30. Oktober 2006 forderte sogar 82 Todesopfer, überwiegend junge Madrasa-Studenten. Während die pakistanische Armee die Verantwortung für das Blutbad auf sich nahm, blieb die lokale Bevölkerung überzeugt, dass es sich erneut um amerikanische "Drohnen" gehandelt habe. Insgesamt haben die seit vier Jahren andauernden militärischen Operationen in den Tribal Areas den Hass auf die USA und die eigene Armee erheblich geschürt, während die Regierung von einer Kontrolle dieser Gebiete noch weit entfernt ist. Zwar hat man erkannt, dass der Schlüssel zur Befriedung der Tribal Areas deren wirtschaftliche Entwicklung und politische Integration ist, aber die Implementierung entsprechender Förderprogramme steckt erst in den Anfängen und wird durch die akute Unsicherheit behindert.
In der ersten Jahreshälfte 2007 griff die "Talibanisierung" in spektakulärer Weise auf die Hauptstadt über, wo zunächst weibliche Studenten der Jami'at Hafsa, einer der Roten Moschee angegliederten Madrasa, eine angrenzende Bibliothek besetzten. Ihre Hauptforderung war der Wiederaufbau von einigen Moscheen in Islamabad, die ohne Lizenz auf öffentlichem Land gebaut und von der Stadtverwaltung abgerissen worden waren. Nachgiebigkeit der Regierung, die sich auf monatelange Verhandlungen einließ, ermunterte die Verwaltung der Roten Moschee zu immer umfangreicheren Aktivitäten und ultimativen Forderungen nach Einführung der Scharia. Studenten der Jami'at Hafsa spielten sich als Sittenpolizei auf und entführten wiederholt Polizisten und Zivilpersonen wegen "moralischer Verstöße", während ein "Scharia-Gericht" ab April seine Arbeit in der Madrasa aufnahm. Bis Anfang Juli hatten sich Tausende von männlichen und weiblichen Studenten in dem Komplex um die Rote Moschee verschanzt und drohten im Falle des Eingreifens der aufmarschierten Sicherheitskräfte mit einer Welle von Selbstmordanschlägen. Bewaffnete Studenten eröffneten am 3. Juli schließlich selbst das Feuer. Während der nachfolgenden Operation, die erst am 11. Juli abgeschlossen wurde, gelang es zwar, Tausende von Studenten zur friedlichen Aufgabe zu überreden, aber insgesamt kam es zu über 100 Todesopfern, darunter elf auf Seiten der Sicherheitskräfte.
Während der monatelangen Krise enthielt sich die MMA einer Solidarisierung mit den Wortführern der Roten Moschee, warf der Regierung bzw. den Geheimdiensten jedoch vor, ein "Drama" zu inszenieren, um von anderen innenpolitischen Krisen abzulenken. Auch in den Medien wurde die Frage gestellt, warum Hunderte bewaffneter Extremisten sich im Herzen der Hauptstadt ungehindert verschanzen und mit den Sicherheitskräften Katz und Maus spielen konnten. Musharraf und die zuständigen Minister verwiesen ihrerseits auf die zeitweilig mehreren Tausend weiblicher Studenten in der Jami'at Hafsa, deren Leben man nicht mit einer Stürmung des Komplexes riskieren wollte. Tatsächlich zahlte sich das lange Zuwarten der Regierung insofern aus, als nach den immer dreisteren Eskapaden der "Roten-Moschee-Brigade" schließlich eine große Mehrheit der Öffentlichkeit die gewaltsame Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung befürwortete. Mit den Studenten der Jami'at Hafsa und ihrem am 10. Juli getöteten Anführer Maulana Abdul Rashid Ghazi sympathisierende Extremisten reagierten jedoch sofort mit einer Serie von terroristischen Anschlägen, die derzeit noch andauert.
Der Konflikt um den Obersten Richter Pakistans
Bis Anfang März 2007 wurden Musharrafs Chancen, im Herbst dieses Jahres für weitere fünf Jahre als "uniformierter" Staatspräsident bestätigt zu werden und sich nach Neuwahlen der Parlamente weiterhin auf eine Regierungsmehrheit der PML-Q und MQM (oder alternativ unter Einbeziehung der PPP) stützen zu können, allgemein noch als gut eingeschätzt. Dann unterlief ihm mit der Suspendierung des Obersten Richters Iftikhar Muhammad Chaudhry ein Fehler, dessen Tragweite anfangs niemand ahnen konnte, der sich jedoch als Wendepunkt von Musharrafs bis dahin nie ernstlich gefährdeter Herrschaft erwiesen hat.
Chaudhry hatte sich seit seiner Ernennung zum Chief Justice im Mai 2005 durch einen ungewöhnlichen Aktivismus bemerkbar gemacht. Es gelang ihm, die offenen Verfahren am Obersten Gericht innerhalb von 20 Monaten von über 38 000 auf etwa 10 000 zu reduzieren, obwohl er selbst in vielen neuen Fällen die Initiative zur Aufnahme von suo motu (eigenständigen) Untersuchungen durch das Gericht ergriffen hatte. Die Entscheidungen in solchen Verfahren waren oft lästig oder kompromittierend für die Regierung, wie etwa eine Anordnung vom 10. November 2006, innerhalb von 20 Tagen Informationen über den Verbleib von Hunderten vermisster Personen zu liefern, die von den Angehörigen großenteils im Gewahrsam der Geheimdienste vermutet wurden, oder ein Stopp der Privatisierung von Pakistan Steel wegen Unregelmäßigkeiten im diesbezüglichen Vertragswerk. Daher wurde vermutet, dass Chaudhry auch im Falle von bereits angekündigten Klagen gegen Musharrafs Wiederwahl als "uniformierter" Staatspräsident nach dem Gesetz entscheiden würde, anstatt sich, wie unter den höchsten Richtern des Landes seit Jahrzehnten üblich, den Wünschen des Militärmachthabers zu beugen.
Am 9. März 2007 wurde Chaudhry von Musharraf im Armeehauptquartier empfangen und mit einer Reihe von Vorwürfen von Amtsmissbrauch konfrontiert, die er jedoch zurückwies. Chaudhry ließ sich weder von Musharraf selbst noch von den ebenfalls anwesenden Spitzen der drei Geheimdienste überreden, freiwillig zurückzutreten, und wurde daher mit sofortiger Wirkung bis zur Klärung der Vorwürfe durch einen "Obersten Justizrat" von seinem Amt suspendiert. Einige Tage lang blieb er unter Hausarrest und durfte keinen Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen. Die Aktion wurde sofort von den Medien und den Oppositionsparteien scharf verurteilt, während sich selbst in der PML-Q nur wenige Stimmen fanden, die die Suspendierung Chaudhrys öffentlich rechtfertigten. Als entscheidender, unerwarteter Faktor erwies sich jedoch die spontane Solidarität einer Mehrheit der in Verbänden organisierten pakistanischen Rechtsanwälte, die den Fall Chaudhry zu einer Prinzipienfrage der Unabhängigkeit der Justiz und der Respektierung von deren Entscheidungen erhoben. Die Anwälte boykottierten landesweit Gerichtsverfahren und organisierten zahllose Protestkundgebungen, die zu regelrechten Massenveranstaltungen wurden, seit Chaudhry ab Ende März mit öffentlichen Auftritten in verschiedenen Städten begann. Seine jeweiligen Anreisen im offenen Wagen wurden zu viele Stunden langen Prozessionen durch begeisterte Menschenmengen. Mit seiner erwiesenen Fähigkeit, selbst einem Militärmachthaber wie Musharraf die Stirn zu bieten, wurde Chaudhry zum Hoffnungsträger der "kleinen Leute", die unter seiner Amtsführung erstmals seit Jahrzehnten wieder Vertrauen in das Justizwesen Pakistans gefasst hatten. Alle Großveranstaltungen mit dem Obersten Richter verliefen friedlich, mit Ausnahme eines am 12. Mai geplanten Seminars in der Innenstadt von Karachi, das durch Gegendemonstrationen der MQM auf den Hauptzufahrtsstraßen vom Flughafen vereitelt wurde. An diesem Tag kam es zu Schießereien zwischen Anhängern der MQM und der Oppositionsparteien, die 43 Todesopfer forderten. Während die Opposition - wohl zu Unrecht - der MQM die Alleinschuld an dem Desaster in Karachi zuschrieb, verweigerte die Regierung eine gerichtliche Untersuchung der Vorfälle.
Bereits am 7. Mai entzog das Oberste Gericht dem "Obersten Justizrat" die Zuständigkeit für den Fall Chaudhry und führte selbst die monatelangen Anhörungen in voller Besetzung durch. Musharraf machte einerseits keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über mangelnde Solidarität der PML-Q in Sachen Chaudhry und unternahm am 4. Juni einen kurzlebigen Versuch, die Berichterstattung der privaten Fernsehsender über die Kundgebungen der Anhänger Chaudhrys einzuschränken. Andererseits erklärte Musharraf zur Schadensbegrenzung frühzeitig, dass er jede Entscheidung der zuständigen Richter respektieren werde. Diese fiel am 20. Juli überraschend klar und vorbehaltlos aus und führtezur sofortigen Wiedereinsetzung von Chaudhry als Oberstem Richter und zu seiner vollen Rehabilitierung. Lediglich drei der dreizehn beteiligten Richter hatten dagegen gestimmt. Das Verdikt des Obersten Gerichts wurde allgemein als das wichtigste in der pakistanischen Justizgeschichte gewertet. Seine Bedeutung liegt nicht nur in der Niederlage, die einem amtierenden Militärmachthaber bereitet wurde, sondern in dem dadurch geschaffenen neuen Vertrauen in das Primat von Recht und Gesetz, das in Pakistan schon seit Jahrzehnten verloren gegangen war.
Fazit und Ausblick
Musharraf scheint derzeit noch entschlossen, seine ihm aus den Händen gleitende Macht zu verteidigen, aber seine Chancen auf Bewahrung der Machtfülle von Staatspräsident und Armeechef sind seit dem 20. Juli fast kontinuierlich weiter gesunken. Etwaige drastische Schritte wie die Verhängung des Ausnahmezustandes, die Verhaftung von Nawaz Sharif nach dessen Einreise oder die Entmachtung des Obersten Gerichts durch neue Verfassungsänderungen würden Musharrafs Fall wohl eher noch beschleunigen. Es ist daher angemessen, schon jetzt eine Bilanz seiner achtjährigen Nahezu-Alleinherrschaft zu ziehen.
Musharraf führte als "aufgeklärter Autokrat" ein mildes, liberales Regiment, mit Respekt vor der Freiheit der Presse und mit vielen Ansätzen guter Regierungsführung, die vor allem im wirtschaftlichen Bereich Früchte getragen haben. Außenpolitisch hat er wichtige Kurswechsel vollzogen, sowohl gegenüber Afghanistan - mit einer glaubwürdigen Politik der Nichteinmischung und des Respekts vor der Souveränität des schwächeren Nachbarlandes (ungeachtet aller bis heute fortdauernden Vorwürfe der Kabuler Regierung an die Adresse Pakistans) - als auch gegenüber Indien, mit dem 2004 ein ernsthafter und tragfähiger Friedensprozess eingeleitet wurde. Unter Musharraf hat Pakistan die "Jihad-Option" zur Lösung des Kaschmirkonflikts langsam, aber unwiderruflich zu den Akten gelegt und stattdessen eine Reihe konstruktiver Initiativen vorgebracht, die zum Teil auf Resonanz in Indien gestoßen sind.
Dank seiner Position als Armeechef konnte Musharraf auch Pakistans mächtigen Militär- und Geheimdienstapparat auf diese neue außenpolitische Linie umorientieren. Bekämpft wird sie lediglich noch von radikalen Islamisten, die wiederholt Mordversuche gegen Musharraf unternommen haben und seit einigen Jahren im Aufwind zu sein scheinen. Die Gefahr einer "Talibanisierung" ganz Pakistans besteht jedoch nicht, weil besonders in den Kernprovinzen Punjab und Sindh die säkularen Gegenkräfte stark genug sind, um die Extremisten im Zaum zu halten. Die gemäßigten Islamisten der MMA streben ihrerseits vor allem die Fortsetzung ihres "Marsches durch die Institutionen" an und haben ebenfalls dem "Jihad" als Mittel der Außenpolitik abgeschworen. Sie haben nach den kommenden Wahlen eine gute Chance auf Regierungsbeteiligung, ob unter Führung der Musharraf-treuen PML-Q oder unter Nawaz Sharif, und könnten eine größere Rolle als bisher bei der notwendigen Befriedung der von der Talibanisierungswelle erfassten paschtunischen Randgebiete spielen.
Musharraf wird selbst bei einer Wiederwahl als Staatspräsident ohne Uniform Mehrheiten benötigen, die ihm die Regierungskoalition von PML-Q und MQM nicht bieten kann. Ob dies mit Hilfe der PPP oder der MMA geschehen wird, ist derzeit noch offen, wird aber - zusammen mit dem Ausgang der Ende 2007 anstehenden Parlamentswahlen - wesentlich den innen- und außenpolitischen Kurs der kommenden Jahre bestimmen. Dieser könnte durchaus stärker "islamisch" orientiert sein, aber der ausgeprägte politische Pluralismus in Pakistan, dem auch Jahrzehnte von Militärherrschaft nichts anhaben konnten, wird ein Abgleiten in den islamistischen Extremismus wirksam verhindern.