Warum wirkt "Le Deuxième Sexe" (1949, "Das andere Geschlecht") so erfrischend, ja geradezu erschreckend aktuell? Oft wird behauptet, wir lebten heute in einer postfeministischen Welt, und die Tatsache, dass Frauen berufstätig sind und öffentliche Ämter bekleiden, scheint Simone de Beauvoirs Behauptung, sie seien gegenüber Männern die "Anderen", zu widerlegen. Rechtfertigungen für und Erscheinungsformen von Sexismus haben sich verändert, da Frauen in zahlreichen Ländern Grundrechte erlangt haben, zumindest formal. Dennoch sind die Errungenschaften des Feminismus sehr ungleichmäßig verteilt, und in vielen Ländern mit starken rechtspopulistischen Bewegungen können zurzeit ein Backlash gegen "Gender" beziehungsweise Diskurse wahrgenommen werden, in denen infrage gestellt wird, was Unterschiede im sozialen und biologischen Geschlecht mit sich bringen.
In ihren Memoiren kritisiert Beauvoir "Das andere Geschlecht" und ihre anderen frühen philosophischen Werke dafür, dass diese nicht hinreichend materialistisch seien.
Beauvoir war eine Sozialistin, die an liberale Grundrechte und demokratische Selbstbestimmung glaubte. In ihrem Essay "Pour une Morale de l’Ambiguïté" (1947, "Für eine Moral der Doppelsinnigkeit") protestiert sie gegen die utilitaristische Logik politischer Disziplinierung und lehnt Argumente ab, nach denen sich die Ungleichstellung von Frauen im Namen ihres größeren "Glücks" oder des größeren Glücks der Gesellschaft rechtfertigen ließe.
Diese bekämpften in den 1960er und 1970er Jahren alle gesellschaftlichen Prozesse und Machtverhältnisse, die die Entwicklung menschlicher Individualität aufgrund einer Kategorisierung als "Andere" behinderten. Der Staat solle allen Bürgerinnen und Bürgern "Mindestvoraussetzungen der Individuation" zur Verfügung stellen",
Was verstehen wir unter "Individuation"? Nach dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung bedeutet sie: "[z]um Einzelwesen werden und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichliche Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ‚Individuation‘ darum auch als ‚Verselbstung‘ oder ‚Selbstverwirklichung‘ übersetzen."
Kampf um Anerkennung
Im Rückblick auf die sozialen Bewegungen des späten 20. Jahrhunderts nach Ende des Kalten Kriegs argumentiert der Philosoph Axel Honneth, jede gesellschaftliche Entwicklung sei vom "Kampf um Anerkennung" angetrieben.
Zwar zitiert Honneth Beauvoir nicht, er greift aber in ähnlicher Weise wie Beauvoir auf Hegels frühe Vorlesungen zu.
Beauvoirs Ontologie ist weniger robust als die von Honneth, erfasst die unvollendete Natur menschlicher Existenz jedoch besser. Was unvollendet ist, ist letztendlich nicht weniger konkret als das, was vollendet ist. Beauvoir beginnt mit dem phänomenologischen Begriff der Intentionalität – sich bewusst zu sein, "etwas im Sinn zu haben" als sogar körperlichem Gefühl. Es gibt keine menschliche Natur ohne die Fähigkeit und das Begehren, das Sein zu erschließen, schreibt sie, die menschliche Existenz ist gleichzeitig unbestimmt, singulär und zutiefst relational.
Für Frauen bedeutet, das ganz Andere zu sein, dass sie ihre Individualität nicht kontinuierlich auf eine relationale Art und Weise entwickeln können; sie sind durch Beziehungen, die eigentlich befreiend sein sollten, an einem bestimmten Punkt erstarrt (oder können jederzeit an einem solchen Punkt erstarren). "Jedes Individuum, dem daran liegt, seine Existenz zu rechtfertigen, empfindet sie als ein unendliches Bedürfnis, sich zu transzendieren. Was nun die Situation der Frau in einzigartiger Weise definiert, ist, dass sie sich – obwohl wie jeder Mensch eine autonome Freiheit – in einer Welt entdeckt und wählt, in der die Männer ihr vorschreiben, die Rolle des Anderen zu übernehmen".
Das Problem besteht daher nicht nur darin, dass Frauen missachtet oder nicht als Mitglieder einer Gruppe wahrgenommen werden (obwohl sie genau das sind, arme, minorisierte oder kolonisierte Frauen umso mehr). Das sexistische othering mindert zudem die Bedeutung der Individualität von Frauen und hemmt aktiv deren Entwicklung. Frauen werden davon abgehalten, mit Bedürfnissen zu experimentieren, die dazu führen könnten, dass sie sich anderen widersetzen. Mädchen werden etwa von Lehrern seltener aufgerufen; erwachsene Frauen bekommen weniger Möglichkeiten, sich in Führungsrollen zu erproben und werden, wenn sie es tun, dafür bestraft, falls sie daran scheitern, unmögliche Erwartungen zu erfüllen.
Hegel wies immer wieder auf die entscheidende Macht der Familie hin, ihre Mitglieder anzuerkennen. Doch wie Honneth einräumt, beschränkte Hegel selbst in seinen frühen Schriften das Potenzial für Individualisierung entsprechend der geschlechtlichen Zugehörigkeit.
Honneths Interpretation von Hegel unterscheidet implizit zwischen Anerkennung eines "Typs" (wie im Recht) und Anerkennung eines Individuums (wie in der Liebe). Wenn ich jemanden anerkenne oder sein oder ihr Narrativ anerkenne, wohnt der Anerkennung ein emotionaler Aspekt inne, der in einer rein kognitiven Beurteilung oder Klassifizierung nicht existiert. Anerkennung hängt auch mit Selbsterkenntnis zusammen: Beauvoir stellt fest, dass Männer verunsichernde Aspekte ihrer Persönlichkeit oder ungeklärte Grenzen ihrer Individualität auf Frauen projizieren: "Statt die Ambiguität der eigenen Existenzbedingungen zu leben, versucht jeder, alles Niedrige auf den anderen abzuwälzen und sich selbst das Ehrenwerte vorzubehalten."
Der eigentliche Vorgang der Anerkennung bezieht sich in der Hauptsache nicht auf die Person oder das Narrativ, sondern auf die gängige Praxis oder den Kontext, innerhalb dessen dieser Rhythmus oder dieses Gleichgewicht erprobt wird, wozu jede produktive, Verbraucher- und Kommunikationstechnologie gehört, mittels derer sie vermittelt werden kann. Damit Anerkennung stattfinden kann, müssen sich beide Seiten bewusst sein, dass ihre Tätigkeiten und Haltungen koordiniert sind. Aus diesem Grund ist es geradezu irreführend, von "reziproker Anerkennung" zu sprechen, wie Beauvoir es zuweilen tut; in Ermangelung von Reziprozität kann man überhaupt nicht von "echter" Anerkennung sprechen. Es wäre wohl falsch zu behaupten, Missachtung wäre mit einem "Mangel" oder einer "Unterlassung" von Anerkennung verbunden. Respektlosigkeit ist vielmehr eine gewaltsame, destruktive Nutzung des gleichen Musters nachhallender Gesten und Aktivitäten, der gleichen Medien- und Zeichensysteme, die Erschlossenheit und Individuation ermöglichen.
Der neoliberale Andere
In den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von "Das andere Geschlecht" forderten gesellschaftliche Gruppen nicht bloß Anerkennung vom Staat und voneinander, sondern formulierten auch Widerstand gegenüber einer neuartigen Kombination aus Individualisierung und Totalisierung. "Vielleicht ist das Ziel heute nicht, zu entdecken, was wir sind," schrieb der Philosoph Michel Foucault 1982, "sondern abzulehnen, was wir sind."
Im ökonomischen Umfeld des "Neoliberalismus" werden Individuen heute dazu ermutigt, Selbstabgrenzung von anderen Mitgliedern ihrer Gruppe durch Arbeits- und Konsumverhalten als eine Frage von Investition in die Ressourcen einer globalen Zukunft zu betrachten, die sowohl totalisiert ist (durch den Aktienmarkt und Kommunikationssysteme) als auch explizit dezentralisiert und zeitlich unbegrenzt. Aufgrund dieser Veränderungen verwandeln sich die Grundformen von Individualität und die "Substanz" von Individuation in eine Kultur, die nicht länger westlich, sondern global ist; in dieser wird Herrschaft zunehmend von Konzernen ausgeübt (oder unterlassen) statt von gemeinnützigen zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Staaten, und in ihr wird Individuation selbst als Element der Generierung von Profit herangezogen, da jede Arbeitskraft bemüht ist, ihre Einzigartigkeit zu vermarkten. Anerkennung ist jetzt eine von vielen Machtbeziehungen, die geprägt sind von der Verteilung leiblicher Sorge, Medien und Aufmerksamkeit.
Frauen leisten seit jeher unbezahlte Arbeit und kümmern sich fürsorglich um die Wünsche oder Wertvorstellungen derer, von denen ihr ökonomisches und emotionales Überleben abhängt.
In späteren Werken, etwa "La Vieillesse" (1970, "Das Alter"), und dem Roman "Les Belles Images" (1966, "Die Welt der schönen Bilder") erkannte auch Beauvoir einige dieser Veränderungen und auch die Art und Weise an, wie eingeschränkte Individuation unsere Erfahrung des Alterns prägt. Wie Karen Vintges gezeigt hat, beleuchtet "Die Welt der schönen Bilder" das moralische Dilemma einer Frau, deren bezahlte Tätigkeit – in der Werbung – ihre Individualität und ihre Beziehungsfähigkeit weder in Hinblick auf ihre Familie noch auf die politischen Krisen ihrer Zeit gestärkt hat.
Streben nach Individuation
Die von Beauvoir beschriebenen widersprüchlichen "Mythen" der Frau wurden praktisch seit Beginn der modernen kommerziellen Gesellschaft von Werbetreibenden ausgebeutet, und weibliche Konsumenten waren womöglich die erste "Ziel"-Gruppe.
In den 1980er Jahren sprach sich Beauvoir gegen die kommerzielle Ausbeutung von Abbildungen von Frauen in der Werbung aus. Doch zu diesem Zeitpunkt unterschied sich Werbung schon nicht mehr eindeutig von kulturellen Produktionen, für die Beauvoir sich starkmachte, etwa Literatur, Film und politische Ausdrucksformen.
Die Politik der Anerkennung des späten 20. Jahrhunderts wurde durch die Erfahrung der Unsichtbarkeit gespeist, die mit einer herabgesetzten Gruppenzugehörigkeit einherging. Der Spätkapitalismus verallgemeinert die psychische Erfahrung von Verpflichtung nach Maßgabe unbekannter Regeln, die Beauvoir mit der blockierten Transzendenz von Frauen und Hannah Arendt mit dem Gefühl der ökonomischen und existenziellen Überflüssigkeit in Verbindung brachte.
Frauen stehen daher nach wie vor an vorderster Front beim Kampf um Individuation in vermeintlich demokratischen Gesellschaften, ob sich diese Kämpfe nun auf Anerkennung beziehen oder nicht. Dies liegt daran, dass der Andere nicht bloß eine Vorstellung ist, wie Beauvoir es im Nachhinein zu beurteilen schien; es ist vielmehr eine ganze Serie von Aktivitäten und ein Muster des Energieflusses, der geschlechtliche Körper materialisiert. Die Politik der Anerkennung versuchte, durch Gruppenzugehörigkeit in vom Staat totalisierten Gesellschaften, die Muster zu ändern, nach denen Menschen von sich selbst und ihrer Einzigartigkeit getrennt waren. Heute sind die Verhältnisse, gegen die wir kämpfen, jene, die uns in Bezug auf unbestimmte Gewinn- und Verschuldungsmöglichkeiten individualisieren. In unseren Online-Aktivitäten, bei unserer Arbeit und im Familienleben ebenso wie beim Konsum kämpfen wir um Anerkennung als Gruppenmitglieder und darum, nicht in dieser Gruppe zu erstarren, aber wir kämpfen auch dagegen, uns schneller oder aus Gründen zu individualisieren, die nicht unsere sind (etwa wenn sich Werbetreibende von uns wünschen, sich zu "differenzieren", um ihre Produkte zu kaufen). Frauen erfahren diese Spannung zwischen Anerkennung und Individuation und repräsentieren diese in der männlichen Imagination. Dieser Aspekt ihrer Situation hat sich nicht geändert, seit Beauvoir ihr Opus Magnum schrieb.
Übersetzung aus dem Englischen: Peter Beyer, Bonn.