Wenn man fragt, was "Le Deuxième Sexe" ("Das andere Geschlecht") uns 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch zu sagen hat, kann man diese Frage auf zwei verschiedene Arten verstehen. Man kann erstens damit meinen, wie man die einzelnen Thesen und Beobachtungen von Simone de Beauvoir aus heutiger Sicht bewerten sollte: ob man dies oder jenes heute noch mal genau so schreiben würde oder anders. Das wäre berechtigt. Man kann aber auch – und das scheint mir interessanter – fragen, was man aus dem Werk an sich heute noch lernen kann: nicht nur bezüglich der inhaltlichen Antworten, die Simone de Beauvoir auf bestimmte Fragen gibt, sondern auch bezüglich der Entstehung, der Struktur und Grundidee des Buchs – und auch aus den Reaktionen auf das Buch.
Denn "Das andere Geschlecht" ist nicht irgendein Werk, das zufällig gerade 70 Jahre im Umlauf ist, sondern es ist einer der feministischen Klassiker, wenn nicht sogar das feministische Standardwerk schlechthin, zumindest für die europäische Frauenbewegung. Ähnlich einflussreich war vermutlich nur "A Room of One’s Own" von Virginia Woolf (1929, "Ein Zimmer für sich allein").
"Das andere Geschlecht" gilt außerdem als Standardwerk der feministischen Philosophie, für einige auch als das Buch, das sämtliche nachfolgende feministische Philosophie beeinflusste.
Erst gegen Ende der 1960er Jahre wechselte Beauvoir zum "Wir", wenn sie über Frauen sprach, bezeichnete sich selbst als Feministin und wurde in der zweiten Welle der Frauenbewegung aktiv. 1972 schrieb sie: "Heute verstehe ich unter Feminismus, dass man für die speziellen Forderungen der Frau kämpft – parallel zum Klassenkampf – und bezeichne mich selbst als Feministin. Nein, wir haben diese Partie nicht gewonnen, in Wirklichkeit haben wir seit 1950 so gut wie nichts erreicht. Die soziale Revolution wird nicht genügen, um unsere Probleme zu lösen."
Keine Angst vor unüblichem Werkzeug
Während Beauvoirs Haltung zum Feminismus sich im Laufe ihres Lebens änderte, blieb ihre Haltung zur Philosophie eindeutig: Sie sah weder sich selbst – ähnlich wie Hannah Arendt – als Philosophin noch "Das andere Geschlecht" als philosophische Schrift. In einem Interview sagte sie einmal, Philosoph_in zu sein, bedeute "ein großes System zu errichten", und das habe sie nicht getan.
Barbara Andrew schreibt dazu, Beauvoir habe einfach genau das getan, was Philosoph_innen immer tun, nur eben nicht in Bezug auf den Menschen im Allgemeinen, sondern in Bezug auf den Menschen als ein Wesen, das einem Geschlecht angehört: "Philosophie ist das Projekt, das betrachtet, was es heißt, ein Mensch zu sein (…). Beauvoir betrachtet in ihrer Arbeit, was es heißt, ein Mensch zu sein, der von einem sozialen Geschlecht geprägt ist" ("what it means to be a gendered human").
Der Hinweis auf Beauvoirs Methode führt zur ersten Antwort auf die Frage, was wir heute noch aus "Das andere Geschlecht" lernen können: Die Eigenständigkeit, mit der Beauvoir sich aufmacht, die Situation der Frau zu ergründen, lässt sie genau die Werkzeuge dafür auswählen, die sie braucht – ohne sich von irgendwelchen vermeintlich allgemeingültigen Standards für philosophische Werke ablenken zu lassen. Sie versucht herauszufinden, was "das Weibliche" eigentlich ist: Gibt es etwas "Ewigweibliches", das alle Frauen verbindet?
Beauvoirs Ziel ist es, "die ökonomische, soziale und historische Konditionierung des ‚Ewigweiblichen‘ in seiner Gesamtheit zu erfassen".
Es mag vielleicht etwas erstaunlich wirken, dass Beauvoir am Anfang über Spinnen, Lurche und Hühner schreibt, aber all diese Beobachtungen dienen ihrer Untersuchung. Denn sie stellt fest, dass weibliche Wesen längst nicht bei allen Arten die Unterdrückten sind: "Monströs und vollgefressen herrscht die Termitenkönigin über die unterworfenen Männchen."
In einer Kombination aus Phänomenologie, Marxismus und Psychoanalyse entwickelt Beauvoir dann eine materialistisch informierte Existenzphilosophie, die das konkrete Erleben in den Vordergrund stellt und letztlich die Idee verfolgt, "den Mythos der Weiblichkeit außer Kraft zu setzen".
Wenn man bedenkt, dass Beauvoir das Buch in den 1940er Jahren schrieb, dann könnte man sagen, es blieb ihr im Grunde nichts anderes übrig, als diese eigene, sammelnd-kombinierende Methode der Untersuchung zu wählen: Es gab damals nicht so etwas wie einen aktuellen Forschungsstand der Gender Studies, auf den sie sich hätte berufen können, oder einen feministischen Mainstream, den sie hätte aufgreifen können. Beauvoir schrieb, wenn man der Einteilung des Feminismus in "Wellen" folgt, ziemlich genau zwischen der ersten und zweiten Welle des europäischen Feminismus.
Gleichzeitig muss man aber sagen, dass Beauvoir ihr Buch wahrscheinlich auch mit dieser Fülle an Material und Verweisen geschrieben hätte, wenn es damals mehr Debatten zu dem Thema gegeben hätte, denn das ist der zweite Punkt, den wir von Beauvoir lernen können: Sie nimmt nichts von dem, was über Frauen oder "das Weibliche" gesagt wird, als unhinterfragbare Wahrheit hin.
Nichts ist vorgegeben
Wenn Beauvoir untersucht, wie sich Weiblichkeit in einer patriarchalen Gesellschaft konstituiert – und etwas anderes kann sie nicht tun, weil sie keine andere aus eigener Anschauung kennt –, dann nimmt sie nichts als gegeben hin, und zwar ganz grundsätzlich, immer in dem Bewusstsein, dass sie kein ewig gültiges Prinzip finden wird: "Es ist (…) ebenso absurd, von ‚der Frau im allgemeinen‘ wie von ‚dem ewiggleichen Mann‘ zu sprechen."
Eine Grundüberzeugung von Beauvoir ist der existenzialistische Gedanke, dass das Wesen des Menschen nicht vorgegeben ist, sondern er prinzipiell frei ist, sich in verschiedene Richtungen zu entwickeln – allerdings immer nur so weit, wie seine aktuelle Situation es ihm erlaubt.
Das klingt, recht abstrakt, bei ihr so: "Ein Existierendes ist nichts anderes, als das, was es tut: das Mögliche geht nicht über das Wirkliche hinaus, die Essenz geht der Existenz nicht voraus, in seiner reinen Subjektivität ist der Mensch nichts. Er wird an seinen Handlungen gemessen."
Wenn aber der Handlungsspielraum eines Menschen durch die gesellschaftlichen Umstände von vornherein eingeschränkt wird, schrumpfen natürlich auch die Möglichkeiten, sich zu entwickeln: "Für eine große Zahl von Frauen sind die Wege der Transzendenz versperrt: weil sie nichts tun, machen sie sich auch zu nichts, was sie sind."
Dass Frauen "nichts tun", heißt an dieser Stelle nicht, dass sie faul rumliegen, sondern dass sie so viel mit den Tätigkeiten beschäftigt sind, die sie als Haus- und Ehefrauen oder Mütter ausüben müssen, dass ihnen für eigene Pläne so gut wie keine Zeit bleibt. Das heißt: Die Frau könnte alles sein, was ein Mensch zu ihrer Zeit sein kann – aber sie kommt sozusagen nicht dazu.
Es gibt eine Szene in Beauvoirs "Mémoires d‘une Jeune Fille Rangée" (1958, "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause"), die zwar theoretisch nichts mit Beauvoirs Begriff der Frau zu tun hat, in der es aber einen Satz gibt, mit der man ihre Sichtweise auf die Position der Frau veranschaulichen kann. Beauvoir erzählt, wie sie als Dreijährige am Tisch sitzt und ihr eine Pflaume gegeben wird. Als sie beginnt, die Haut der Pflaume abzuziehen, sagt die Mutter, sie solle das nicht machen, und das Mädchen wirft sich in einem Wutanfall schreiend zu Boden.
Darüber schreibt Beauvoir: "Die Willkür der Befehle und Verbote, auf die ich stieß, schien mir ein Beweis für ihre Substanzlosigkeit zu sein; gestern habe ich einen Pfirsich geschält; weshalb nicht heute die Pflaume? Weshalb muss ich mich von meinem Spiel gerade in dieser Minute trennen? Überall traf ich auf Zwang, jedoch nirgends auf Notwendigkeit."
Dieses "überall Zwang – nirgends Notwendigkeit" beschreibt auch ihre Sichtweise auf Menschen, die an gesellschaftlich vorgegebene Grenzen stoßen. Von überall her wirken Zwänge, die die Freiheit der Frau einschränken: Ihre Familie und die Gesellschaft, in der sie lebt, haben Erwartungen an sie. Aber keine dieser Erwartungen, keine der Rollen, die die Frau spielen soll, ist naturgegeben oder unveränderlich. Das ist Beauvoirs Hauptthese, die meist in dem berühmten Satz wiedergegeben wird: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es."
Wenn heute über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft geredet wird, dann würde diese Offenheit des Blicks auf Geschlechter einiges vereinfachen. Nur weil man sieht, dass Frauen sich mehr um Kinder, Kranke und Alte kümmern, heißt es nicht, dass das immer so sein müsste. Nur weil Frauen weniger Geld besitzen als Männer, heißt es nicht, dass sie damit schlechter umgehen können oder es ihnen weniger wichtig wäre. Und so weiter.
Eigentlich keine so komplizierte Einsicht. Nicht auszudenken, wie viel Zeit man sparen würde, wenn Leute aus der Tatsache, dass ihre zwei Töchter beide gerne die Farbe Rosa mögen und mit Puppen spielen, nicht schlussfolgern würden, dass Mädchen "eben so sind" – inklusive all der weiteren Schlussfolgerungen, die bewusst oder unbewusst daraus folgen und sich dann meist darin äußern, dass die Stellung, die Frauen im Patriarchat zugewiesen wird, für etwas Natürliches gehalten wird: das Kümmern um andere, die Neigung zur Sanftheit, die Vorliebe für Schönheit und sorgende Tätigkeiten statt für Macht und Mitspracherecht.
Dass ich eben geschrieben habe, es gebe eine "Stellung, die Frauen im Patriarchat zugewiesen wird", soll nicht heißen, dass Frauen zu dieser Stellung nichts zu sagen haben und nur von außen in sie hineingedrängt werden. Auch das ist ein zentraler Punkt bei Beauvoir: Die Frau ist bei ihr nie bloßes Opfer der Situation. Nicht ohne Grund stellt Beauvoir dem zweiten Band des "Anderen Geschlechts" das Zitat von Jean-Paul Sartre voran: "Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle." Beauvoir hält die Frau generell für mitverantwortlich für ihre Situation – eine Ambivalenz, die nicht nur eine Befreiung vom Unterdrücker erfordert, sondern auch eine Trennung von der eigenen, erlernten Passivität.
Dass einige Frauen stärkeren Zwängen unterworfen sind als andere: Auch das ist eine Einsicht, die man leider nicht als gegeben voraussetzen kann. Mit Beauvoirs Analyse von Freiheiten und Unfreiheiten aller Menschen und insbesondere von Frauen könnte man eigentlich sehr leicht sehen, dass die Möglichkeiten zur freien Entfaltung, zur Verfolgung eigener Ziele, zur Selbstbestimmung sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem zu welchem Zeitpunkt man in welche Situation hinein geboren wurde – ob in einen reichen oder einen armen Haushalt, ob mit Krankheiten oder ohne, und so weiter.
Trotzdem stocken heutige Debatten oft an dem Punkt, an dem einige besonders erfolgreiche Frauen als Beispiele herhalten müssen, die zeigen sollen, dass heutzutage ja wohl alles möglich sei, wenn man nur wolle. Doch selbst das Wollen muss, abgesehen vom Können, überhaupt erstmal entstehen. Selbst die bloße Ahnung, was möglich sein könnte, braucht bestimmte Voraussetzungen, die nicht alle haben, ganz abgesehen davon, dass das Erreichen von Zielen leichter wird, je mehr Privilegien man mitbringt.
Es ist eine interessante Parallele zum eingangs genannten "Ein Zimmer für sich allein" von Virginia Woolf, dass diese beiden Klassiker nicht nur die wohl meistzitierten feministischen Bücher überhaupt sind, sondern dass beide zu weiten Teilen davon handeln, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Frauen sich so frei entfalten können, wie es die längste Zeit nur Männer konnten: dass sie Zeit und Ruhe, Bildung und Beziehungen, Geld und Raum für sich brauchen. Beiden Werken ist außerdem gemeinsam, dass sie mitunter sehr lustig sind.
Unbekannter Klassiker
Es geht oft in der Rezeption philosophischer Werke ein bisschen verloren, wenn sie Humor enthalten, und auch Beauvoir ist nicht als besonders lustige Autorin bekannt, dabei gibt es definitiv Stellen in "Das andere Geschlecht", die sehr witzig sind – wenn man dafür bereit ist. Gegen Ende des Werks schreibt Beauvoir über die Unzufriedenheit von Frauen und Männern miteinander und über die Frage, ob Konflikte zwischen den Geschlechtern vielleicht nur einen "vorübergehenden Moment der Menschheitsgeschichte ausdrücken".
Man kann sich leicht denken, dass "Das andere Geschlecht", als es erschien, nicht als das geniale Buch ankam, als das wir es heute lesen können. In einem Interview von 1976 wurde Simone de Beauvoir gefragt: "Wie waren da eigentlich die Reaktionen, als es 1949 erschien?" – "Sehr heftig! Sehr gegen mich! Sehr, sehr feindselig!" – "Von welcher Seite?" – "Von allen Seiten."
Obwohl man meinen könnte, dass feministische Literatur heute auf einen fruchtbareren Boden fällt als damals, ist das Wissen darum, was in einem Klassiker wie "Das andere Geschlecht" drinsteht, nichts, was sich inzwischen rumgesprochen hätte. Viele kennen heute, wenn überhaupt, nur den bekanntesten Satz "Man kommt nicht als Frau zur Welt …" – oft in der falschen Übersetzung, die endet: "…man wird dazu gemacht", statt "man wird es", weil die Version mit "gemacht" zwar auf Deutsch eingängiger klingt, aber leider Beauvoirs Anerkennung der Ambivalenz von Aktivität und Passivität überhaupt nicht gerecht wird.
Ein anderer Satz, der auch noch vergleichsweise oft zitiert wird, ist dieser: "Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere."
Es gibt noch viel mehr, was man aus Beauvoirs "Das andere Geschlecht" heute noch lernen kann, hier sollen noch zwei sehr praktische Punkte erwähnt werden.
Menstruieren und Putzen
Wie bereits erwähnt, bearbeitet Beauvoir trotz der Tatsache, dass sie ein philosophisches Buch schreibt, auch sehr alltägliche Themen, unter anderem Menstruieren und Putzen, und das, was sie dazu zu sagen hat, ist nicht nur interessant als Kuriosum innerhalb eines geisteswissenschaftlichen Standardwerks, sondern auch direkt auf heutige Diskussionen anwendbar.
Zum Menstruieren: Ein großer Teil von "Das andere Geschlecht" besteht aus der Erzählung verschiedener Lebensphasen, die eine Frau durchläuft, vom Kleinkind bis ins hohe Alter. Dabei beschreibt sie auch die Erfahrung der Menstruation (beziehungsweise auch der Phase davor), unter der Mädchen und Frauen existenziell leiden können: "Gereizt, verstimmt, machen viele Frauen allmonatlich einen Zustand durch, in dem sie nur noch halb sie selbst sind. (…) Dieser leidende und passive Körper lässt das ganze Universum als unerträgliche Bürde erscheinen. Beklommen, bedrängt wird die Frau sich selbst fremd, weil sie dem Rest der Welt fremd ist."
Im heutigen Feminismus wird oft versucht, Menstruation positiver zu besetzen, mit Anleitungen zu Selfcare, Tampons mit lustigen Sprüchen auf der Verpackung oder Kunst, die das allmonatliche Bluten thematisiert. Einerseits ist es ein ehrenwerter Versuch, wenn etwas, das viele Menschen immer noch als "eklig" beschreiben würden, als etwas darzustellen, das für menstruierende Personen eben normal ist. Aber andererseits sollte man ruhig auch mal anerkennen, wie elend sich viele in diesem körperlichen Zustand fühlen: Was Beauvoir als Entfremdung, Fluch und Erschütterung beschreibt, ist eben nicht bloß eingebildetes Leid, sondern es sind tatsächliche, körperliche Zustände, es sind Schmerzen und erhöhte Reizbarkeit und bisweilen auch Depressionen, die man als solche anerkennen sollte. Die Situation ist heute vielleicht insgesamt etwas besser, weil heute weniger junge Menschen von ihrer ersten Periode überrascht werden und sie besser einordnen können als zu Beauvoirs Zeiten, aber das reicht nicht. Wenn man Umfragen dazu sieht, was Männer über Menstruation wissen – warum findet sie statt, wie viel Blut verliert eine Frau dabei, welche körperlichen Symptome gibt es?, – dann ahnt man, dass die historische Phase der Aufklärung noch längst nicht abgeschlossen ist.
Zum Thema Putzen und andere Hausarbeit: Beauvoir schreibt sehr viel über reproduktive Tätigkeiten, die zu ihrer Zeit noch wesentlich mehr Raum im Leben von Frauen einnahmen, heute aber immer noch hauptsächlich von Frauen erledigt werden. "Nur wenige Tätigkeiten haben so sehr den Charakter einer Sisyphusarbeit wie die der Hausfrau", schreibt sie. "Die Hausfrau verschleißt ihre Kräfte, indem sie auf der Stelle tritt. Sie macht nichts: sie verewigt lediglich die Gegenwart."
Viele Frauen, die heute kurz nach der Geburt alleine mit dem Baby zuhause sind, berichten von dieser Leere, die dann eintritt: Sie fühlen sich intellektuell unterfordert, und sind doch permanent ausgelaugt und müde, weil alle Care-Arbeit an ihnen hängenbleibt. Das bedeutet alles nicht, dass es nicht auch Menschen gibt, die gerne putzen und kochen und Babys betreuen. Aber eine Gesellschaft, die diese grundlegend wichtigen Aufgaben üblicherweise Frauen zuschiebt, als wären sie dafür gemacht, kann nicht besonders emanzipiert sein. 1976, in dem bereits erwähnten Interview, erklärte Beauvoir ihre Sympathie für die Idee, Hausarbeit zur "öffentlichen Sache" zu machen und gemeinsam zu bestimmten Zeiten zu erledigen: "Es gibt ja keine Tätigkeit, die an sich erniedrigend ist. Alle Tätigkeiten sind gleichwertig. Es ist die Gesamtheit der Arbeitsbedingungen, die erniedrigend ist. Fenster putzen, warum nicht? (…) Erniedrigend sind die Bedingungen, unter denen man das Fensterputzen verrichtet: in der Einsamkeit, der Langeweile, der Unproduktivität, der Nichtintegration ins Kollektiv."
Obwohl "Das andere Geschlecht" nun also schon 70 Jahre alt ist, gibt es unglaublich viel, was man heute noch daraus lernen kann. Die Fülle an Material, die Beauvoir zusammenträgt, um die Frage zu beantworten, was eine Frau ist – ihre Erkenntnis, dass es eine Antwort darauf nie abschließend geben kann – ihre Anerkennung der Ambivalenzen von unverschuldeter Begrenztheit und selbstverschuldeter Passivität – ihr Humor – ihr Hinweis auf bestimmte Formen des Leids, die hauptsächlich Frauen erleben, all diese Dinge machen "Das andere Geschlecht" zu einem Buch, das man nicht nur gelesen haben sollte, sondern auch immer wieder zur Hand nehmen kann, um zu sehen, wie alt die Kämpfe sind, die wir heute noch führen.