Einleitung
Die Europäische Union (EU) ist seit fast zwei Jahrzehnten damit beschäftigt, die Konsequenzen des dramatischen weltpolitischen Wandels konzeptionell, institutionell und in einzelnen Politikfeldern zu verarbeiten. Die Rahmenbedingungen der Integration haben sich dabei in wichtigen Parametern verändert, die EU ist gezwungen, sich diesen anzupassen. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) sind die europäischen Gründungsverträge bereits drei Mal (Maastricht 1991, Amsterdam 1999, Nizza 2001) reformiert und verändert worden. Jedes Mal war bereits beim Abschluss der Reform fraglich, ob der jeweilige Reformschritt ausreichen würde, um den Herausforderungen des "neuen Europa" zu begegnen.
Der Verfassungsvertrag versuchte 2004 eine vierte, grundlegende Veränderung und wagte - vergeblich - den großen Wurf. Inzwischen ist die Denkpause vorüber, die sich die EU nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden vom Frühjahr 2005 verordnet hatte. Nach dem Gipfeltreffen der 27 Staats- und Regierungschefs der EU im Juni 2007 ist offiziell, was eigentlich seit Langem klar ist: der Verfassungsvertrag, der von 18 Staaten ratifiziert worden war, verschwindet in den Archiven und bleibt allenfalls von akademischem Interesse. Die EU-Staaten haben sich aber immerhin nach langen Auseinandersetzungen darauf verständigt, bis Ende des Jahres 2007 einen "Reformvertrag" auszuarbeiten, der die EU auf eine neue Grundlage stellen soll. Wichtige Elemente aus dem Verfassungsvertrag wie etwa die Einführung der doppelten Mehrheit, die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat und die Aufwertung des Europäischen Parlaments, die Schaffung eines hauptamtlichen Präsidenten des Rates, die Verkleinerung der EU-Kommission und die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente werden in dem neuen Vertrag, der zur Europawahl 2009 in Kraft getreten sein soll, enthalten sein.
Die gegenwärtige Krise der Europäischen Union lässt sich aber mit dem Mittel eines neuen Vertrages bei Beibehaltung des grundsätzlichen Integrationsmodus nicht mehr beheben. Unter den Mitgliedsstaaten differiert nicht mehr nur die Bereitschaft, die Integration weiter voranzutreiben, sondern auch jene, an bereits etablierten bzw. beschlossenen Bereichen mitzuwirken. Beispiele finden sich reichlich: von den dänischen und britischen opt-outs der 1990er Jahre über die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden bis zu Polens Verhalten auf dem jüngsten EU-Gipfel oder dem französischen Flirt mit einer Schwächung der Europäischen Zentralbank.
Hinzu kommt, dass die Frage der geographischen Finalität der EU noch nicht beantwortet ist. Zwar hat Frankreich im März 2005 einen neuen Artikel in seine Verfassung aufgenommen, nach der im Fall neuer Beitritte eine Volksabstimmung obligatorisch ist, und in Brüssel ist eine intensive Debatte über die Absorptionsfähigkeit der EU entbrannt: Die Beitrittsdynamik ist jedoch ungebrochen. Neben den beiden Staaten, mit denen derzeit konkret über einen Beitritt verhandelt wird (Kroatien und die Türkei), stehen Mazedonien - das seit Dezember 2005 den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten hat -, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien auf der Liste der Beitrittskandidaten. Auch Staaten wie Georgien, Moldawien oder die Ukraine (aber auch Island, die Schweiz und Norwegen) könnten eines Tages EU-Mitglieder werden. Gleiches gilt für das Kosovo, das früher oder später unabhängig und womöglich eine Art EU-Protektorat werden wird. Es zeichnet sich also eine EU mit weit über 30 Mitgliedsstaaten ab.
Diese Problemlage wirft die Frage auf, welche Modelle jenseits der klassischen Vollmitgliedschaft denkbar sind, denn die "one-size-fits-all"-Philosophie in Verbindung mit einer "take-it-or-leave-it"-Einstellung mit Blick auf Beitrittskandidaten bzw. Neumitglieder ist kein nachhaltiges Politikkonzept für die künftige EU. Es wird mithin stärker über eine zeitliche, sektorale, funktionale oder geographische Differenzierung der Integration nachgedacht. Damit verabschieden sich denkbare und praktikable Ordnungsmodelle von der Vorstellung einer einheitlichen und gleichzeitigen Integration aller beteiligten Nationalstaaten. Daraus resultiert jedoch ein abermaliger Zuwachs an Komplexität der Entscheidungsprozesse, was zu verstärkten Akzeptanzproblemen in den nationalen Öffentlichkeiten führen dürfte. Die Frage ist aber nicht, ob es differenzierte Integration geben wird, sondern wie diese aussehen wird und aussehen soll. Dabei stellen Formen der differenzierten Integration nicht nur die voraussichtlich einzige realistische Option für einen Weg aus der Integrationskrise dar, sondern sie sind bereits Realität, da auf der einen Seite Mitgliedsstaaten in Teilbereichen abseits stehen (Schengen, GASP, EURO) und auf der anderen Seite Nicht-Mitgliedsstaaten in einer breiten Palette von Politikbereichen an der Integration teilnehmen. Im Falle einer Ausweitung und Institutionalisierung dieses Verfahrens würden sich Mitgliedstaaten, die zahlreiche opt-outs für sich in Anspruch nehmen, denjenigen Nichtmitgliedern, die über eine Reihe von opt-ins am Integrationsprozess teilnehmen, annähern und die Grenzen von Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft bzw. Assoziation und ähnlichen Formen zunehmend verwischt.
Mit Norwegen und der Schweiz praktizieren zwei Länder - die "übriggebliebenen" westeuropäischen Nicht-EU-Staaten - de facto differenzierte Integration, ohne dass dies in der wissenschaftlichen oder politischen Debatte umfassend reflektiert wird: "Since they [Norway and Switzerland] are out of sight they are also out of mind." Angesichts des oben skizzierten Bedarfs nach alternativen Integrationsmodellen ist dieser Sachverhalt ebenso bedauerlich wie unverständlich. Im Folgenden sollen daher die jeweiligen Anbindungsformen Norwegens und der Schweiz an die EU skizziert, einer kritischen Bewertung unterzogen und die Frage aufgeworfen werden, inwiefern sie Modellcharakter für andere interessierte und Kandidatenländer haben könnten, denen seitens der EU realistischerweise keine Perspektive auf eine klassische Vollmitgliedschaft eingeräumt werden wird.
Eine Quasi-Mitgliedschaft ohne Beitritt?
Der negative Ausgang der Referenden zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 in der Schweiz bzw. zum EU-Beitritt 1994 in Norwegen setzte den von den jeweiligen Regierungen anvisierten Integrationspfaden ein vorläufiges Ende. In der Folgezeit bemühten sich beide Länder im Spannungsfeld zwischen direktdemokratischer Ablehnung, parlamentarischer Zustimmung und starken wirtschaftlichen Anreizen um möglichst umfangreiche und institutionalisierte, aber auch selektive Formen der Zusammenarbeit, wobei die Form dieser "Mitgliedschaft ohne Mitgliedschaft" im heutigen, vorläufigen Ergebnis durchaus unterschiedlich ausfiel.
Norwegen ist über das EWR-Abkommen von 1994 in den ersten Pfeiler der EU integriert, hat sich im zweiten Pfeiler über die seit Gründung der Organisation bestehende Mitgliedschaft in der NATO hinaus zunächst durch eine Assoziierung an die Westeuropäischen Union (WEU), dann durch Abkommen zur Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und ein Abkommen mit der Europäischen Verteidigungsagentur angenähert und partizipiert auch im dritten Pfeiler durch die Teilnahme am Schengener Abkommen. Damit lässt sich der norwegische Status als "EWR plus" oder als "halbes Mitglied" klassifizieren, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf dem wirtschaftlichen Bereich liegt, in dem, mit wenigen Ausnahmen vor allem im Bereich der Landwirtschaft, die Konsequenzen der EWR-Mitgliedschaft denen einer Vollmitgliedschaft stark ähneln. Ist die Beteiligung an einer sich dynamisch entwickelnden Außen- und Sicherheitspolitik vor allem Veränderungen im Umfeld in Folge des weltpolitischen Umbruchs 1990 geschuldet, so wurden die Bemühungen um eine Teilnahme am Schengener Abkommen durch die Nordische Passunion geradezu erzwungen: bei Inkrafttreten des Abkommens wäre ansonsten die schwedisch-norwegische Grenze zur EU-Außengrenze geworden, so dass eine 50 Jahre alte Errungenschaft der innernordischen Kooperation auf dem Spiel stand; hier lässt sich folglich eine interessante geographische Variante von spill-over-Effekten konstatieren.
Die Integrationspolitik der Schweiz konzentriert sich einerseits auf die autonome Anpassung des schweizerischen Rechts an EU-Regeln und Standards und andererseits auf den Abschluss bilateraler sektorieller Verträge, die insgesamt ein breites Themenspektrum abdecken und in zwei bilateralen Paketen (in Kraft seit 2000 bzw. ab 2008) gebündelt wurden. Der schweizerische Ansatz lässt sich daher als punktuell-pragmatische Integration klassifizieren. Die ersten Abkommen, unterzeichnet am 21. Juni 1999, umfassten im Einzelnen die folgenden Bereiche: Personenfreizügigkeit, Lufttransport, Landverkehr, Landwirtschaft, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen sowie Forschung. Standen in den BilateralenI Verbesserungen des wechselseitigen Marktzugangs, die Regelung des Alpentransitverkehrs und die Einführung der Personenfreizügigkeit im Mittelpunkt, tritt in den BilateralenII der politisch sensible Bereich der Zusammenarbeit im Innen- und Justizbereich durch die Assoziierung an das Schengener Abkommen und Abkommen zur justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen dazu, während der Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik bisher unter Verweis auf die schweizerische Neutralität weitgehend ein Nicht-Thema geblieben ist. Das zweite Paket, unterzeichnet am 26. Oktober 2004, enthält im Einzelnen Abkommen zu justizieller und polizeilicher Zusammenarbeit, Asyl und Migration, Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung, verarbeiteten Landwirtschaftsprodukten, Umwelt, Statistik, Medienzusammenarbeit und Ruhegehältern.
Versteht man die Fälle Norwegen und Schweiz folglich als "the key test case concerning indirect participation in European integration", ergibt sich zwingend die Frage, welche Erfahrungen mit diesen seit nunmehr gut zehn Jahren praktizierten Integrationsmodi vorliegen. Ohne Zweifel lässt sich auf der Habenseite verbuchen, dass es gelungen ist, "maßgeschneiderte" Lösungen zu finden, die Rücksicht auf die spezifischen wirtschaftlichen (eine hoch subventionierte Landwirtschaft in beiden Ländern und eine ebensolche Fischerei in Norwegen), politischen (direkte Demokratie, Föderalismus und Neutralität in der Schweiz, der ausgeprägte Wohlfahrtsstaat in Norwegen) und identitätsrelevanten (späte Unabhängigkeit Norwegens, Selbstwahrnehmung als positiver Sonderfall im Sinne eines "Mustersozialstaats" bzw. einer "Musterdemokratie" in beiden Staaten) Rahmenbedingungen nehmen. Damit werden zugleich das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität zumindest auf den ersten Blick befriedigt und das zentrale Anliegen eines gesicherten Marktzugangs realisiert; die in den Referenden zum Ausdruck gekommenen Präferenzen der Bevölkerung werden also zum einen ernst genommen und zum anderen mit - vor allem wirtschaftlich - notwendigen Anpassungsmaßnahmen verbunden. Zwar mangelt es, wie im Folgenden noch zu zeigen ist, an echten Mitbestimmungsmöglichkeiten, gewisse Einflussmöglichkeiten sind durch die Teilnahme an Beratungen im Vorfeld des eigentlichen Beschlusses aber gegeben. Weiterhin lassen beide Integrationswege, anders als eine Vollmitgliedschaft, Übergangsregelungen und permanente Ausnahmen in kritischen Fällen zu.
Auf den zweiten Blick allerdings - das spiegeln auch die nationalen EU-Debatten zunehmend wider - weisen beide Formen gravierende Defizite auf, von denen das problematischste die asymmetrische Struktur der Zusammenarbeit ist: sie beinhalten "semi-colonial features". Dass im EWR eine quasi-automatische Übertragung des EU-Regelwerks in den vom Abkommen abgedeckten Bereichen erfolgt - die Möglichkeit eines Vetos ist nur theoretisch gegeben, da es zur Suspension von Teilen des Abkommens durch die EU führen würde -, kann weder aus demokratischer Perspektive noch mit Blick auf die tatsächliche nationale Souveränität befriedigen. Aus diesem Blickwinkel weckt die "integration by stealth", die für die eigene Bevölkerung weitgehend unsichtbar und schleichend verläuft, erheblichen Zweifel an der Legitimität des Prozesses. Diese Problematik wird dadurch noch verschärft, dass der passiven Übernahme großer Teile des EU-Regelwerkes keine substanziellen Mitentscheidungsrechte und Einflussmöglichkeiten gegenüberstehen, was Norwegen in den Augen von Beitrittsbefürwortern zu einer "Faxdemokratie" macht, die ihre Gesetze passiv "per Fax" aus Brüssel erhält, und die EWR-Lösung als "worse than membership" erscheinen lässt. Hinter der "weichen" Symbolik und Rhetorik der norwegischen Integrationspolitik wird unter diesem Blickwinkel eine durchaus "harte" Realität sichtbar. Das wesentliche Manko der weniger institutionalisierten und eher punktuellen schweizer Lösung ist, zusätzlich zum Mitentscheidungsdefizit wie im norwegischen Fall, dass die bilateralen Abkommen nicht evolutionär angelegt sind, so dass Änderungen im EU-Vertragswerk neue bilaterale Verhandlungen erforderlich machen und dass in den Bereichen, die formal von den Abkommen nicht abgedeckt sind, dennoch ein beträchtlicher Anpassungsdruck besteht, da man andernfalls den Anschluss an die europäische Wettbewerbsdynamik zu verlieren droht. Für die Schweiz wesentliche Bereiche sind auch nach den Bilateralen II nicht abgedeckt, so mangelt es insbesondere an einem Abkommen im für die schweizer Wirtschaft überaus wichtigen Dienstleistungsbereich. Damit hat sich die Schweiz aus Sicht der Kritiker freiwillig in die Marginalisierung, Scheinsouveränität und den passiven Nachvollzug begeben. In beiden Fällen drängt sich die Frage auf, ob nicht einer integrationsskeptischen Bevölkerung letztendlich "neuer Wein in alten Schläuchen" verkauft wird und die Integration gewissermaßen durch die Hintertür weiter fortgeschritten ist, als offizielle Stellungnahmen und der formale Integrationsstatus vermuten lassen.
Trotz aller Kritik am Mitbestimmungsdefizit können die Lösungen EWR Plus und Bilaterale Sektoralabkommen für sich beanspruchen, ein breites Spektrum an Kooperationsbeziehungen abzudecken und wichtige Interessen der Nichtmitgliedsstaaten zu befriedigen, wenn ein EU-Beitritt zumindest auf mittlere Sicht keine realistische Option darstellt; insofern stellen sie das Optimum des zumindest derzeit Möglichen dar. Inwiefern also taugen Norwegen und die Schweiz als Modellfälle einer (partiellen) Integration ohne Vollmitgliedschaft, und könnten sie der EU einen Weg aus dem Dilemma zwischen Erweiterung und Vertiefung - oder zumindest Bestandserhalt - weisen?
Perspektiven
Die Europäische Union wird sich weiterhin fundamental ändern bzw. ändern müssen, und ein einheitliches Integrationsmodell für alle 30 oder mehr Mitgliedsstaaten wird immer schwieriger zu finden sein. Mit dem Modell der differenzierten Integration steht ein Integrationsszenario auf der politischen Agenda, das die EU nachhaltig verändern wird. Bereits in der so genannten "Flexibilitätsklausel" des Nizza-Vertrags wurde festgelegt, denjenigen Mitgliedsstaaten, die mit der Integration in bestimmten Politikfeldern weiter voranschreiten wollen als andere, dies unter Inanspruchnahme der gemeinschaftlichen Organe, Verfahren und Mechanismen zu gestatten. Im derzeit beratenen Reformvertrag wird dieses Prinzip bekräftigt.
Angesichts der dargestellten Entwicklungen und Problemlagen kann kaum noch ein Zweifel daran bestehen, dass differenzierte Integration sowohl unter den Mitgliedsstaaten in bestehenden und neu hinzukommenden Integrationsbereichen als auch über die Außengrenzen der Union hinaus das Gebot der Stunde ist. Die deutlich abnehmende Unterstützung in der Mehrheit der Mitgliedsstaaten für einen klassischen Vollbeitritt der Türkei zur EU zeigt ebenso wie die enormen Schwierigkeiten im Verhandlungsprozess der EU mit derselben sehr deutlich den Bedarf für innovative Lösungen jenseits der Extreme Beitritt oder Nichtbeitritt. Nachfrage nach solchen Formen besteht auch für die Staaten der so genannten Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), denen voraussichtlich auch auf lange Sicht keine Beitrittsperspektive eingeräumt werden soll oder kann. Neben der offenkundigen Aktualität und Relevanz der Frage, wie eine in absehbarer Zukunft anstehende Anbindung der Türkei gestaltet werden soll, stellen sich ähnliche Fragen etwa hinsichtlich der Ukraine, Israels oder auch derjenigen Mittelmeeranrainer, die bereits Teilnehmer des so genannten Barcelona-Prozesses sind.
Ohne an dieser Stelle die "Passgenauigkeit" der norwegischen und/oder schweizerischen Lösung für diese Staaten im Einzelfall überprüfen zu können, kann die These vertreten werden, dass die Erfahrungen dieser beiden Länder einerseits einen wertvollen Denkanstoß für die Weiterentwicklung und verstärkte Nutzung flexibler Integrationsmuster leisten und andererseits Einsichten in die Defizite und Grenzen dieses Integrationsmodus bieten können. Die Betrachtung der Integrationslösungen Norwegens und der Schweiz hat Vorteile und Defizite offenbart, die sich auf die Formel "Marktzugang gegen Mitbestimmung" bringen lassen. Vor allem deswegen sind diese Wege zumindest aus Sicht hoch entwickelter, westlicher Staaten, denen die Option Beitritt jederzeit zur Verfügung steht, möglicherweise als (auch langfristige) Zwischenlösung attraktiver denn als anzustrebender Endzustand - nicht zuletzt wird diese Annahme durch den Wechsel von Finnland, Schweden und Österreich aus dem EFTA/EWR-Kreis in den der EU-Mitgliedsstaaten belegt.
Zudem ist die Frage der Übertragbarkeit an eine Reihe von Voraussetzungen geknüpft, deren Betrachtung substanzielle Unterschiede zwischen den EFTA- und beispielsweise den ENP-Staaten offenbart. Bereits die Motivation, eine engere Anbindung an die EU zu suchen, differiert beträchtlich, und nicht für alle Interessenten liegt sie allein oder auch nur in erster Linie im wirtschaftlichen Bereich. Stehen aber beispielsweise Sicherheitserwägungen im Vordergrund, dann ist fraglich, ob eine EWR Plus-Lösung befriedigende Kooperationsmechanismen bereitstellen kann. Weiterhin bringen die genannten Staaten und Staatengruppen eine extrem unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit; eine weitgehend vollständige Marktöffnung könnte für nicht wettbewerbsfähige Sektoren in den einzelnen Staaten gravierende Konsequenzen haben, wenngleich in anderen Bereichen aufgrund niedriger Produktionskosten durchaus Wettbewerbsvorteile gegeben sein dürften.
Trotz dieser Einschränkungen gilt es aber, Ansätze differenzierter Integration nutzbar zu machen und zu einem kohärenten Gesamtkonzept einer künftigen Integrationsstrategie zusammenzufügen. Die politische und politikwissenschaftliche Debatte steht hier noch am Anfang, und Lösungsansätze sind allenfalls in Umrissen erkennbar. So regen Andreas Wohlgemut und Clara Brandi die Einrichtung verschiedener kleinerer und unterschiedlich besetzter "sub-clubs" innerhalb der EU an, die - geknüpft an deren politischen Willen und Leistungsfähigkeit - auch Nichtmitgliedsstaaten einbeziehen könnten. Barbara Lippert spricht von einer "gesamteuropäischen Aufgabenföderation". Andreas Maurer und Max Haerder benennen drei Optionen für eine weitere Integrations- und Erweiterungsstrategie: Erstens eine erweiterte assoziierte Mitgliedschaft, bestehend aus dem Europäischen Wirtschaftsraum, außen- und sicherheitspolitischer Kooperation sowie einem konsultativen Gremium für wirtschaftliche und soziale Fragen. Diese Option weist mit Ausnahme des Bereichs "Schengen" große Ähnlichkeiten mit dem "Modell Norwegen" auf; Erkenntnisse über Einflussmöglichkeiten und Defizite ließen sich folglich - mit aller gebotenen Vorsicht - übertragen. Zweitens eine graduelle Integration, bei der eine konditionelle Bindung jedes weiteren Integrationsschrittes an vorher zu leistende Reformen erfolgt. Für diesen Vorschlag können die wirtschaftlich zu den leistungsfähigsten und politisch zu den Staaten mit der längsten demokratischen Tradition zählenden Länder Norwegen und Schweiz keine Einsichten bieten; er erscheint aber im Hinblick auf eine Demokratisierung durch Konditionalität durchaus viel versprechend und wahrscheinlich. Drittens ein Modell modularer Integration, basierend auf einer Mitgliedschaft im EWR, zu der weitere Teilmitgliedschaften mit permanenten opt-ins treten. Wiederum zeigen sich deutliche Parallelen zum norwegischen, aber mit Ausnahme der EWR-Grundlage auch zum schweizerischen Modell. Demgegenüber hebt Janis Emmanouilidis die Vorzüge eines funktional-pragmatischen Vorgehens von Fall zu Fall ohne vorherige Festlegung des anzustrebenden Ergebnisses hervor. Hinsichtlich einer Flexibilisierung durch Erweiterung schlägt er vor, neue und potenzielle Mitgliedsstaaten für eine gewisse Übergangszeit oder auf Dauer einerseits nicht für die Teilnahme an bestimmten Politikfeldern zuzulassen und ihnen andererseits Ausnahmen für die Umsetzung von Teilen des acquis zu gewähren. Durch eine derart begrenzte Mitgliedschaft könnte gleichzeitig den Bedenken integrationsskeptischer Kandidaten Rechnung getragen und Vorbehalten in den alten Mitgliedsstaaten gegenüber einer erneuten Erweiterung begegnet werden.
Die Relevanz des Themas differenzierte Integration insgesamt und der beiden hier betrachteten Fälle im Besonderen ist damit offensichtlich: Neue und stärker formalisierte Formen der Anbindung von Nicht-Mitgliedsstaaten bzw. die Debatte über eine Art "Teilmitgliedschaft" oder Beitritte jenseits der klassischen Vollmitgliedschaft sind für die Zukunft des Integrationsprozesses eine Notwendigkeit. Spätestens wenn die Debatte um einen Beitritt der Türkei in eine Phase kommt, in der Entscheidungen im Sinne eines klaren "Ja" oder "Nein" gefällt werden müssen, sollte die Politik Pläne aus der Schublade holen können, die für den Fall eine schwere Krise abwenden, wenn absehbar ist, dass es für einen klassischen Vollbeitritt keine Mehrheit gibt. Denn es wird immer deutlicher, "dass mit den Beitritten zur EU nach gewohntem Muster nur die Frage der formalen, nicht aber der realen Mitgliedschaft beantwortet wird". Norwegen und die Schweiz können - sowohl jeder Fall für sich als auch in der Zusammenschau - wertvolle Denkanstöße für die "Brückenbildung" zur EU auf verschiedenen Politikfeldern und mit unterschiedlicher Tiefe/Intensität bieten, wenngleich einer Übertragung ihres Integrationsmusters aufgrund der grundlegend unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen enge Grenzen gesetzt sind.