Einleitung
Mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union (EU) im Januar 2007 hat sich deren östliche Außengrenze endgültig an ausschließlich ex-sowjetische Republiken herangeschoben. Eine äußerst energiereiche Region, jedoch mit einem mehr als zweifelhaften demokratischen Leumundszeugnis, schwacher Staatlichkeit sowie einer Vielzahl transnationaler Sicherheitsrisiken. Vor diesem Hintergrund überrascht das wachsende Interesse der EU an der Region nicht.
Unter Federführung der deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 hat die EU drei "Ostinitiativen" ins Auge gefasst: eine Europäische Nachbarschaftspolitik Plus (ENP Plus), die Neuverhandlung des im November 2007 auslaufenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russland sowie die Ausarbeitung einer EU-Zentralasienstrategie. Da sich das Auswärtige Amt verbal mit dem Titel einer "Neuen Ostpolitik" explizit auf die bedeutungsschwere Vorlage der sozialliberalen Koalition bezog, waren die Erwartungen in der Öffentlichkeit, insbesondere aber in der Region, entsprechend hoch.
ENP Plus
Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) wurde 2003 eingeführt mit dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen und umfassenden Rahmens für die Beziehungen der EU zu ihrer unmittelbaren Peripherie - von Belarus über den Kaukasus und Vorderasien bis nach Nordafrika. Damit sollen politische und wirtschaftliche Gräben an den Rändern der Union abgeflacht und der europäische Raum der Stabilität und des Wohlstandes über die EU-Grenzen hinaus ausgedehnt werden. Die ENP versteht sich dabei als Angebot zur Teilnahme an der europäischen Integration, ist aber ausdrücklich kein Beitrittsinstrument. EU-Anrainerstaaten ohne aktuelle Beitrittsperspektive sollen mit Hilfe der ENP an die EU gebunden und als Partner für wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Kooperationsprojekte gewonnen werden. Damit folgt die Nachbarschaftspolitik den Vorgaben der Europäischen Sicherheitsstrategie, die der Union die Aufgabe zuweist, auf die Entstehung eines Rings verantwortungsvoll regierter Staaten östlich der Europäischen Union und an deren Mittelmeergrenzen hinzuarbeiten.
Die Europäische Kommission definiert in ihrem ENP-Strategiepapier folgende Handlungsprioritäten: Erstens Handel, vor allem eine Marktöffnung auf Grundlage der Bestimmungen der Welthandelsorganisation sowie die Übernahme geltender EU-Normen; zweitens wirtschaftliche und soziale Entwicklung, insbesondere eine Teilnahme am EU-Binnenmarkt sowie eine bessere infrastrukturelle Vernetzung mit der EU; drittens verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres, vor allem bei den Themen Migration, Grenzverwaltung und bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität; sowie viertens ein politischer Dialog zu aktuell wichtigen Fragen.
Warum nun der Vorstoß einer ENP Plus? Vor allem verbirgt sich dahinter die Unzufriedenheit mit einer Politik, die gelegentlich lustlos und ohne strategische Tiefe betrieben und in den östlichen Adressatenländern als unbefriedigend empfunden wurde, vor allem da sich diese Staaten auf eine Stufe mit den nordafrikanischen und nahöstlichen EU-Partnerländern gesetzt sahen, bisweilen sogar darunter. Während die ENP-Zielländer in Nordafrika und der Levante in der fehlenden Beitrittsperspektive keine unmittelbare Zurückweisung durch die EU sehen, ist dies in Osteuropa sehr wohl der Fall. Insbesondere die Ukraine und Moldawien begreifen ihren Status als ENP-Land als Etappe auf dem Weg zu einer späteren EU-Mitgliedschaft. Der Eindruck der Zurückweisung wird durch die Ungleichverteilung der Finanzmittel der Nachbarschaftspolitik noch verstärkt. Derzeit fließen 65 Prozent der Gelder Richtung Süden, dagegen nur 35 Prozent an die osteuropäischen Nachbarstaaten.
Dass die Korrektur dieser Mängel nun ausgerechnet während der deutschen Ratspräsidentschaft angegangen wurde, ist nicht zuletzt Deutschlands Geschichte und Geographie geschuldet. Beides resultiert in einem traditionell ausgeprägten Interesse an Osteuropa. Unter dem Motto "Annäherung durch Verflechtung" hat Berlin im Vorfeld seiner Ratspräsidentschaft eine Modernisierungspartnerschaft mit der Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbaidschan sowie Weißrussland - sobald dort die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind - vorgeschlagen. Dahinter verbarg sich vor allem der Versuch, durch eine substanziellere Annäherung an die Partnerländer endgültig den Ausbruch aus der binären Logik und der falsch verstandenen Alternative EU-Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft zu vollziehen. Berlins Überlegungen umfassten die folgenden Punkte: Erstens, die verbesserte Übertragung eines Teil des Acquis Communautaire auf die ENP-Staaten und damit die Ausdehnung des EU-Rechtsraums. Instrumente wären hier Sektorenabkommen nach dem Vorbild der Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz. Zweitens, eine Ausweitung der institutionellen Kooperation, vor allem durch die Einführung eines Beobachterstatus in jenen Politikfeldern, auf denen die ENP-Länder den EU-Rechtsstand bereits übernommen haben. Auch eine Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU wurde angestrebt, etwa in Form der Verabschiedung gemeinsamer Erklärungen und Aktionen. Drittens sollte die Modernisierungspartnerschaft mit Osteuropa auch einen regionalen Ansatz schaffen, der für die Mittelmeer-Anrainer mit dem Barcelona-Prozess bereits existiert.
Die EU-Kommission präsentierte im Dezember 2006, also unmittelbar vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft, ihrerseits einen Entwurf zur Reform der Nachbarschaftspolitik.
Russland
Ein weiterer Schwerpunkt der Ostpolitik während der deutschen Ratspräsidentschaft war Russland. Die aktuelle rechtliche Grundlage in den EU-Russland-Beziehungen bildet ein im Dezember 1997 auf zehn Jahre angelegtes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. In den vergangenen Jahren jedoch wurden die beiderseitigen Beziehungen durch eine ganze Reihe zusätzlicher bi- und unilateraler Strategien, Positionspapiere und Vereinbarungen ergänzt. Im Mai 2003 kamen beide Seiten überein, auf vier Feldern gemeinsame Gesamteuropäische Räume zu schaffen: Erstens Wirtschaft; zweitens Freiheit, Sicherheit und Justiz; drittens äußere Sicherheit sowie viertens Wissenschaft, Bildung und Kultur. Das Vier-Räume Dokument wurde schließlich auf dem Moskauer Gipfel vom Mai 2005 in Form der vier "Wegekarten" (road maps) unterzeichnet und ist als kurz- und mittelfristiges Instrument zur Umsetzung des Partnerschaftsabkommens konzipiert, trat de facto jedoch an dessen Stelle.
Daneben werden die EU-Russland-Beziehungen durch regionale Kooperationsformate wie etwa die Ostseekooperation oder die Nördliche Dimension der EU geprägt. Als Antwort auf das auslaufende Partnerschaftsabkommen mit Russland Ende November 2007 stehen eine Reihe von Optionen zur Verfügung. Wird es nicht gekündigt, verlängert es sich automatisch um ein Jahr. Es kann aber auch durch ein ergänztes Dokument oder einen völlig neuen Vertrag ersetzt werden. Auf dem Moskauer Gipfel im Mai 2006 verständigten sich die EU und Russland auf die Aushandlung eines völlig neuen Rahmenabkommens, das die Qualität einer strategischen Partnerschaft zum Ausdruck bringen soll.
Die Vorbereitung dieses Grundlagenvertrags, die der deutschen Ratspräsidentschaft oblag, wurde jedoch durch eine Reihe grundlegender Differenzen erschwert, die wiederum die Hintergrundfolie für die jüngsten politischen Auseinandersetzungen in den Beziehungen zwischen der EU und Russland bilden. Erstens hat sich im postsowjetischen Raum seit Anfang dieses Jahrzehnts eine Integrationskonkurrenz zwischen Russland und der EU herauskristallisiert. Russland plant mit dem so genannten "Einheitlichen Wirtschaftsraum" eine eigene Ost-EU aufzubauen. Diesem sollen Russland, Kasachstan, Belarus und die Ukraine angehören. Gleichzeitig aber wächst mit der ENP auch der ordnungspolitische Einfluss der EU in der Region. Zweitens erlebt Russland als Folge seines neuen Selbstverständnisses als Energiesupermacht eine Renaissance des Konzepts der Souveränität. In der Logik weiter Teile des Moskauer politischen Establishments kann Russland allein durch eine Abschirmung gegen störende Einflüsse von außen nach innen stabil und international konkurrenzfähig gemacht werden.
Die Beziehungen der EU zu Russland deshalb als strukturell spannungsgeladen zu bezeichnen, gilt in Regierungskreisen als wenig opportun, weil dies allzu starke Assoziationen an den Kalten Krieg heraufbeschwört, an den Präsident Putin mit seiner harschen Rede auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz erinnerte.
In den Monaten vor dem EU-Russland-Gipfel Mitte Mai 2007 im russischen Samara verschlechterte sich die Stimmung noch einmal deutlich. Als Reaktion auf ein russisches Embargo gegen polnische Fleischexporte blockiert Warschau seit November 2006 jegliche Änderungen in den Vertragsbeziehungen der EU zu Russland. Aber auch andere Konflikte wie etwa um die Umsetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals in der estnischen Hauptstadt Tallinn oder um die Ermordung von Aleksander Litwinjenko, einem Vertrauten des Putin-Kritikers Boris Beresowskij, in London ließen das Misstrauen auf beiden Seiten wachsen. Vor diesem Hintergrund war der größte Erfolg des Gipfeltreffens, dass es überhaupt stattfand. Medien berichteten von einem offenen Streit zwischen dem russischen Präsidenten und Bundeskanzlerin Merkel, heftigen Turbulenzen und einen Schlagabtausch, der sich bis in die abschließende Pressekonferenz hineinzog.
Es steht außer Frage: Russland ist für die EU gegenwärtig ein schwieriger, da von nullsummenspielartigen Denkschemata und Argwohn geprägter Verhandlungspartner. Für die sich derzeit wohl auf dem tiefsten Stand seit der Kosovo-Krise 1999 befindenden bilateralen Beziehungen allein den Kreml verantwortlich zu machen, wird der Sachlage jedoch nicht gerecht. Man betrachte beispielsweise die Wahrnehmung der jüngsten Energiekonflikte Russlands mit seinen Nachbarn: Der Vorwurf der EU, Moskau setze seine Energie als politische Waffe ein,
Zentralasien
Die Verabschiedung einer EU-Zentralasienstrategie ist wohl der größte ostpolitische Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft. Die EU agierte in Zentralasien bislang im Schatten Russlands, der Vereinigten Staaten oder Chinas. Hierfür können sowohl endogene als auch exogene Faktoren verantwortlich gemacht werden. Zum einen mangelte es Zentralasien an einer EU-internen Lobby, ähnlich den nördlichen Mittelmeeranrainern für den Barcelona-Prozess oder den skandinavischen Ländern für die Nördliche Dimension der EU, die eine Verdichtung des Beziehungsgeflechts und damit einen verstärkten Mittelfluss in die Region befürwortet. Entsprechend war die EU-Zentralasienpolitik in den vergangenen Jahren im Vergleich zu anderen Regionen unterfinanziert. Zum anderen ringt die EU mit einem generellen Attraktivitätsdefizit. Ihr ziviler Ansatz ist den zentralasiatischen Eliten fremd, die Konzepten zur Befriedung, Aussöhnung und politischer Kooperation weitgehend unbeholfen gegenüberstehen. Auch ist die Union nicht willens und aufgrund ihres defizitären sicherheits- und verteidigungspolitischen Instrumentariums auch nicht in der Lage, Militärhilfe zu offerieren. Gerade diese Art von Hilfe ist es aber, welche die EU nach Meinung der zentralasiatischen Regierungen zur Abwehr islamistischer Terrorstrukturen aus dem benachbarten Afghanistan leisten sollte. Der europäische Weg, den Islam zu zivilisieren, wird in der Region dagegen eher belächelt. Die EU ist deshalb in Fragen der "high-politics" ein weitgehend ignorierter Gesprächspartner. Auf zentralasiatischer Seite wird das Engagement der EU vor allem durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Republiken untereinander behindert. Die Förderung regionaler Kooperation nimmt aber einen hohen Stellenwert in der EU-Zentralasienpolitik ein. Durch ein möglichst enges Geflecht von wirtschaftlichen und politischen Interdependenzen sollen Vertrauen generiert und zwischenstaatliche Konflikte eingedämmt bzw. verhindert werden. In der Region dominieren jedoch von gegenseitiger Konkurrenz geprägte Denkkategorien, die jede tiefergehende Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit obstruieren.
Da die neu beschlossene Zentralasienstrategie am funktionalistischen Ansatz der EU festhält, also auf die normative Kraft und die sozialisierende Wirkung der kleinen Verflechtungs- und Harmonisierungsschritte und dabei auf eine liberale Wertebasis aufzubauen sucht, wird sich kurz- und mittelfristig an der EU-Skepsis der zentralasiatischen Regime wenig ändern. Jedoch enthält die Strategie einige Elemente, die sich positiv auf die interregionale Zusammenarbeit auswirken dürften. So beabsichtigt die EU beispielsweise, ihre Finanzmittel für die Region um knapp 50 Prozent auf rund 750 Millionen Euro für den Zeitraum 2007 bis 2013 aufzustocken - dies entspricht immerhin der Hälfte der Sach- und Finanzhilfen der Vereinigten Staaten.
Resümierend kann festgestellt werden, dass die hohen Erwartungen, die mit der Initiative für eine neue Ostpolitik der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geweckt wurden, unerfüllt geblieben sind. Es gelang nicht, die Nachbarschaftspolitik stärker nach Osteuropa auszurichten und die Verhandlungsblockade mit Russland zu überwinden. Kleinere Erfolge wie die Verabschiedung einer EU-Zentralasienstrategie können diese Defizite nicht wettmachen. Dreh- und Angelpunkt für eine erfolgreiche EU-Ostpolitik sind die Beziehungen zu Russland. Hinter der häufig aufscheinenden Leerformel der Strategischen Partnerschaft verbirgt sich das Wissen um eine Vielzahl gemeinsamer Interessen. Deren gemeinschaftliche Wahrnehmung ist jedoch aufgrund zunehmender Wertedifferenzen und nationalstaatlicher Egoismen einzelner EU-Mitgliedstaaten in weite Ferne gerückt. Vorrangiges Ziel der EU-Russlandpolitik muss es deshalb sein, die eigene interne Spaltung zu überwinden und das gegenseitige Vertrauen in den bilateralen Beziehungen wiederherzustellen. Dies schließt insbesondere einen offenen Dialog über die Harmonisierung europäischer und russischer Kooperations- und Integrationsinitiativen im postsowjetischen Raum ein.