Einleitung
Vor 90 Jahren beseitigten die Bolschewiki in Russland ein System, das Lenin noch einige Monate zuvor in seinen April-Thesen als "das freiheitlichste der Welt"
Das damalige Scheitern der russischen Demokratie wird oft auf die Eigenart der russischen Mentalität oder auf einen geschichtlichen "Sonderweg" zurückgeführt, der sich vom Weg des Westens grundlegend unterscheide. So zeichnet sich die russische Geschichte in den meisten Epochen durch die Allmacht des Staates und eine Ohnmacht der Gesellschaft aus. Die Autonomie der Stände oder der Städte, die im Westen ein Gegengewicht zur Machtzentrale darstellte, hat sich in Russland kaum entwickelt. Der russische Historiker Pavel Miljukov sagt in diesem Zusammenhang: Im Westen hätten die Stände den Staat, in Russland hingegen habe der Staat die Stände erschaffen.
Lässt sich der Zusammenbruch der "ersten" russischen Demokratie darauf zurückführen, dass die Gesellschaft, die sich nach dem Sturz der Romanow-Dynastie vom zarischen Obrigkeitsstaat befreite, nicht imstande war, sich selbst zu organisieren, und an ihrer politischen Unerfahrenheit zugrunde ging? All das spielte 1917 eine wichtige Rolle, allerdings keine ausschließliche. Denn das Scheitern des nach der Februarrevolution errichteten Systems hatte auch Ursachen, die weit über das spezifisch Russische hinausgingen. So fand in Russland die erste Konfrontation eines demokratischen Gemeinwesens mit einer totalitären Partei statt, die skrupellos alle Freiheiten der Demokratie ausnutzte, um diese zu zerstören. Etwa fünf Jahre später sollte die italienische und 15 Jahre später die Weimarer Demokratie an ähnlichen Herausforderungen scheitern, und zwar mitten im Frieden und nicht im vierten Kriegsjahr, wie dies in Russland der Fall war. So hat das Scheitern der "ersten" russischen Demokratie die tiefe Krise der demokratischen Systeme in Europa vorweggenommen.
War die Niederlage der russischen Demokraten unvermeidlich? Haben historische Deterministen, nicht zuletzt marxistischer Provenienz, Recht, wenn sie den Sieg der Bolschewiki als den einzig möglichen Ausgang der russischen Krise bezeichnen? Dieses Erklärungsmodell möchte ich zumindest partiell in Frage stellen. Denn die russischen Demokraten verfügten im Jahre 1917, ungeachtet der Skrupellosigkeit und der demagogischen Virtuosität der Bolschewiki, durchaus über politisches Potenzial, das sie jedoch, aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreichend nutzten. So gab es im Lager der gemäßigten Sozialisten, die das Rückgrat des nach der Februarrevolution errichteten Systems, vor allem des Petrograder Sowjets, bildeten, Politiker, die das Wesen der bolschewistischen Gefahr frühzeitig erkannten. Zu ihnen gehörte einer der Führer der Menschewiki, Irakli Cereteli, der die Meinung vertrat, dass die größte Gefahr, welche die russische Revolution bedrohe, nicht von rechts komme, wie die Mehrheit im Sowjet annehme, sondern von links: "Die Konterrevolution kann nur durch ein einziges Tor einfallen, das der Bolschewiki."
Die Thesen Ceretelis bedürfen indes der Korrektur. Im Verlauf des Jahres 1917 gab es durchaus Situationen, in denen die russische Demokratie sich gegen die linksextreme Herausforderung zu wehren suchte, und zwar mit Erfolg - vor allem während eines Putschversuchs Anfang Juli, der mit einem Debakel der Bolschewiki endete.
Diese Milde des demokratischen Staates gegenüber seinen extremen Gegnern wurde von den Bolschewiki als Schwäche interpretiert. Später sagte Lenin, die Bolschewiki hätten im Juli 1917 eine Reihe von Fehlern gemacht. Ihre Gegner hätten dies im Kampfe gegen sie durchaus ausnutzen können: "Zum Glück besaßen unsere Feinde damals weder die Konsequenz noch die Entschlossenheit zu solchem Vorgehen."
Dies war die verhängnisvollste Folge der Kornilow-Affäre. Danach verloren die Provisorische Regierung und die gemäßigten Sozialisten die politische Initiative. Wie gelähmt beobachteten sie das entschlossene Vorgehen der Bolschewiki, die nun meisterhaft zeigten, wie man demokratische Freiheiten dazu ausnutzt, die Demokratie zu beseitigen. Das infolge der Februarrevolution errichtete System der Doppelherrschaft (die bürgerliche Provisorische Regierung und die Sowjets) offenbarte sein Wesen - es bestand in der Zerstörung des Gewaltmonopols des Staates, in der Schaffung zweier unterschiedlicher Militär- und Verwaltungsstrukturen, die sich gegenseitig lähmten. Dies kam den Bolschewiki zugute. Nur deshalb konnten sie gegen den Willen der wichtigsten politischen Gruppierungen die Alleinherrschaft in Russland erobern.
Zu den prekärsten Problemen des nach dem Staatsstreich vom Oktober 1917 errichteten bolschewistischen Regimes gehörte seine unzureichende Legitimität. Doch was sicherte dem bolschewistischen Regime für etwa siebzig Jahre eine relative Stabilität? Der Glaube der Bolschewiki an ihren geschichtlichen Auftrag. Sie fühlten sich nicht "wankelmütigen" Mehrheiten, sondern der Geschichte und ihrer "alleingültigen" marxistischen Interpretation verpflichtet. Den Kräften, die diesen "Auftrag" zu gefährden drohten, auch wenn dies die "werktätigen Massen" waren, in deren Namen sie regierten, sagten sie einen unversöhnlichen Kampf an. Nikita Chruschtschow war der letzte sowjetische Machthaber, der in unerschütterlicher Weise dieses "Credo" vertrat. Seine Nachfolger imitierten nur noch den Glauben an die "lichte kommunistische Zukunft". Diese Erosion des Glaubens höhlte die ideokratische Legitimierung des Regimes aus. Es entstand ein gefährliches ideologisches Vakuum. Nur die Rückkehr der demokratisch legitimierten Institutionen auf die politische Bühne hätte Russland helfen können, die legitimatorische Krise zu überwinden, also die Rückkehr von Institutionen, die von den Bolschewiki im Oktober 1917/Januar 1918 so leichtfertig auf den "Kehrichthaufen der Geschichte" (Trotzki) geworfen wurden.
Als Michail Gorbatschow zu Beginn der Perestroika verkündete: "Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen", läutete er das Ende des Bolschewismus ein. Denn das demokratische Prinzip, das die Bolschewiki aus ihren Staatsstrukturen verbannt hatten, musste das auf lückenlose Kontrolle programmierte kommunistische System aus den Angeln heben.
Jede Gesellschaft, die ihren Selbsterhaltungstrieb nicht eingebüßt hat, strebt danach, den Zustand der Doppelherrschaft - wie er sich im Zuge der Perestroika ergab - so schnell wie möglich zu beseitigen. Denn der legitimatorische Wirrwarr macht nicht nur wirksame Reformen unmöglich, sondern auch das Funktionieren des Staatsmechanismus als solchem. So steuerte die Entwicklung in der UdSSR unvermeidlich auf eine Konfrontation zu. Von einem Schiedsrichter verwandelte sich Gorbatschow nun in einen Puffer zwischen den Konfliktparteien. Dabei waren die Demokraten am Fortbestand dieses "Puffers" weit stärker interessiert als die Dogmatiker, denn sie fühlten sich ihren Gegnern hoffnungslos unterlegen. Mit Neid blickten sie auf ihre polnischen Gesinnungsgenossen, denen es gelungen war, eine derart mächtige Organisation wie die Solidarno?c' zu schaffen. Die Erfahrung aller osteuropäischen Länder habe gezeigt, dass nur eine antitotalitäre Massenbewegung imstande sei, den Angriff der Dogmatiker abzuwehren, meinte Ende März 1991 die Politologin Lilia Schewtsowa. Indes zeigte gerade die polnische Erfahrung, dass für den entschlossen und brutal agierenden kommunistischen Apparat selbst eine solche Organisation kein Hindernis darstellt. Am 13. Dezember 1981 genügten den polnischen Militärs einige Stunden, um die Solidarno?c' mit ihren zehn Millionen Mitgliedern zu zerschlagen. Auf die "schwankenden Massen" (Lenin) haben die Kommunisten nur selten Rücksicht genommen.
Die Moskauer Putschisten wollten am 19. August 1991 den Vorgang vom 19. Januar 1918 (Zerschlagung der russischen Konstituante mit ihrer demokratischen Mehrheit) wiederholen. Jedoch handelte es sich bei ihnen nicht mehr um die Schüler Lenins oder Stalins, sondern um Zöglinge Breschnews. Das Ideal, das ihnen vorschwebte, war nicht die Schreckensherrschaft leninistischer oder stalinistischer Manier, sondern es waren die aus ihrer Sicht "goldenen" 1970er Jahre, also die Zeit, in der sie ihre Privilegien genießen konnten. Der bedenkenlose Umgang mit dem Massenterror gegenüber dem innenpolitischen Gegner, die Inkaufnahme von Millionen von Opfern setzen dagegen einen unerschütterlichen Glauben voraus - an die Utopie wie bei Lenin oder an sich selbst wie bei Stalin. Beides hatten die Putschisten vom August 1991 längst verloren. Die Kommunisten wirkten nun ähnlich unbeholfen wie 1917 ihre demokratischen Widersacher. Trotzki zitiert in seiner "Geschichte der russischen Revolution" den französischen Autor Claude Anet, der formuliert hatte, die Provisorische Regierung sei gestürzt worden, "ehe sie noch Uff' sagen" konnte.
Als Boris Jelzin - das erste demokratisch legitimierte Staatsoberhaupt Russlands - seine Landsleute zur Auflehnung gegen die Putschisten aufrief, tat er dies mit leeren Händen. Er besaß so gut wie keine Machtmittel und verfügte lediglich über moralische Argumente. In seiner Anordnung Nr. 59 vom 20. August 1991 beschuldigte er die Mitglieder des Staatskomitees, ein "verfassungswidriges Komplott" geschmiedet und ein "Verbrechen gegen den Staat" verübt zu haben.
Die später ermordete demokratische Politikerin Galina Starowoitowa hielt es für einen unverzeihlichen Fehler der Demokraten, dass sie ihren Sieg vom August 1991 nicht genutzt hätten: Damals habe die einmalige Gelegenheit bestanden, den geschockten Machtapparat abzulösen bzw. radikal zu erneuern. Hätten die Kommunisten gesiegt, fuhr die Politikerin fort, so wären sie gegenüber ihren demokratischen Opponenten wohl nicht so großzügig gewesen. Starowoitowa vertrat eine Minderheitenposition im demokratischen Lager. Die Mehrheit wollte die Ereignisse vom August 1991 nicht als Revolution verstehen, da sie mit diesem Begriff Erscheinungen wie Massenterror und Diktatur verbanden.
Die Milde der russischen Demokraten gegenüber den Besiegten vom August 1991 erinnert an die Einstellung der Weimarer Demokraten zu den Vertretern des bezwungenen alten Regimes. Diese hatten sich sehr schnell vom Schock der Novemberniederlage erholt und kehrten auf die politische Bühne zurück. So waren die Voraussetzungen für die Demontage des 1918/19 errichteten demokratischen Systems gegeben. Auch in Russland findet zur Zeit eine Art Revanche der im August 1991 partiell entmachteten Gruppierungen statt. Die "gelenkte Demokratie" Wladimir Putins versinnbildlicht den Übergang des Landes von einer offenen zu einer autoritären Gesellschaft. Allerdings ist Russland, trotz dieser autoritären Wende, immer noch durch unzählige Kanäle mit den "offenen Gesellschaften" des Westens verbunden, und solange diese Verbindungen bestehen, ist ein erneuter demokratischer Aufbruch im Lande keineswegs ausgeschlossen.