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Schnittstellen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

Michael Klein Ernst-Theodor Rietschel Ernst-Theodor Michael Klein / Rietschel

/ 14 Minuten zu lesen

Geistes- und Naturwissenschaften sind ein Produkt der Kultur. Menschliches Verhalten ist biologisch bedingt, die Ausprägung stellt jedoch eine Kulturleistung dar, so dass sich Schnittstellen, aber auch konfliktträchtige Überschneidungen von Geistes- und Naturwissenschaften ergeben.

Einleitung

Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen lässt." - so Immanuel Kant in seiner Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft aus dem Jahr 1787.

Ganz anders scheint das heute die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in ihren offiziellen Förderrichtlinien zu sehen: "Die globalisierte Wissensgesellschaft von morgen erfordert in zunehmendem Maße Forschungsbemühungen interdisziplinären Zuschnitts. Denn immer deutlicher wird, dass sich der Fortschritt in der Wissenschaft an den Grenzen beziehungsweise an den Schnittstellen zwischen den Disziplinen vollzieht."

Bevor wir dieser Behauptung bzw. Forderung nachgehen, ist zunächst einmal die grundsätzliche Frage zu beantworten: Was ist der eigentliche Sinn und welches das Ziel von Wissenschaft?

Welches Ziel hat Wissenschaft?

Das Ziel wissenschaftlichen Strebens ist Erkenntnisgewinn und -bewahrung, es geht darum, die Antwort auf eine bestimmte Frage zu finden. Soll nun, spezieller formuliert, die Lösung eines auf die menschliche Existenz bezogenen Problems gefunden werden, so müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Dies sind erstens Kenntnisse der Methoden des Faches und deren Anwendung (etwa Analyse- bzw. Messmethoden in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, kritisches Quellenstudium und regelgeleitete Auslegung in den historischen Wissenschaften sowie Quer- und Längsschnittstudien in den Sozialwissenschaften).

Zweitens muss der aktuelle Wissensstand im jeweiligen Fach überblickt und beherrscht bzw. berücksichtigt werden. Auch die genaue Kenntnis grundlegender Dokumente und Quellen ist von entscheidender Bedeutung, um an einer wissenschaftlichen Debatte sinnvoll teilnehmen zu können. In der aktuellen Diskussion um Charles Darwin und seine Forschungen hat man nicht selten den Eindruck, dass nur wenige Darwins Schrift vom Ursprung der Arten durch Mittel der natürlichen Selektion oder die Erhaltung bevorzugter Rassen im Kampf um das Leben gelesen haben, dafür eine Unmenge von Interpretationen seines Werkes.

Hinzu kommt drittens ein Umstand, der in den Natur- und Technikwissenschaften heute oftmals vergessen wird: Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch die Entwicklung von Wissen und Wissenschaft in einem Fach, wenn man Entwicklungsprozesse nachvollziehen und damit Fehler vermeiden will. Auf diese Dimension hatte Blaise Pascal bereits im 17. Jahrhundert hingewiesen, indem er feststellte, dass die Erkenntnisse unserer Väter, selbst wenn wir diese revidieren, deshalb nicht einfach nutzlos sind: "Wir können nur über die Vorfahren hinausschauen, weil wir auf ihren Schultern stehen."

Auf dieser Grundlage, das heißt auf Basis der Kenntnis und Nutzung von Methodik, Forschungsstand und -genese, wird schließlich eine Hypothese oder ein Deutungsvorschlag zur Beantwortung der gestellten Frage entwickelt und in der Fachwelt durch Veröffentlichung zur Diskussion gestellt.

Wissenschaft ist disziplingebunden - insbesondere interdisziplinäre Wissenschaft

Das bedeutet, dass wissenschaftliche Erkenntnis zunächst einmal disziplingebunden ist und sich in einem intersubjektiven Kontext - der Diskussion - vollzieht. Ein Fortschritt ist dann erzielt, wenn die Annäherung an die Beantwortung der Fragestellung gelingt, die nicht zwangsläufig in der direkten Beantwortung der Frage, sondern auch in der Differenzierung der Fragestellung bestehen kann. Nun bedeutet die Disziplingebundenheit von Wissenschaft jedoch keinesfalls, dass es eine - heute laufend geforderte - interdisziplinäre Forschung nicht geben kann. Doch existiert diese nicht eo ipso, sondern immer nur in Bezug auf einen gemeinsamen konkreten Gegenstand und eben disziplinbezogen: methodengebunden und durch Diskussion in einer Community.

Entscheidend ist also, dass diejenige wissenschaftliche Fragestellung oder dasjenige Problem, welche(s) mit den Mitteln einer einzelnen Disziplin nicht zu lösen ist, mithilfe anderer Disziplinen (multidisziplinär oder interdisziplinär) einer Lösung zugeführt werden kann. Bloßer Erkenntnisgewinn oder Befriedigung von Neugier reichen meist als Motivation für interdisziplinäre Wissenschaft nicht aus. Natürlich gilt nach wie vor, dass sich der Erkenntnisgewinn in der Beantwortung einer bestimmten Fragestellung vollzieht, doch beinhaltet die eine Interdisziplinarität erfordernde Fragestellung oft eine konkrete Perspektive hinsichtlich eines auf das menschliche Leben konkret bezogenen Problems.

Ein Beispiel für solch einen inter- oder multidisziplinären Ansatz könnten Projekte sein, mit deren Hilfe versucht wird, mittels einer computergestützten antiken Schlachtsimulation historische und psychologische Fragestellungen zusammenzuführen; oder auch das Miteinander von Lebenswissenschaften, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, der Architektur und natürlich der Sprachwissenschaften und der Philosophie bei der Beschäftigung mit dem Phänomen der alternden Gesellschaft. Nur Meister der eigenen Disziplin sind zur Interdisziplinarität fähig, die nicht, so die Mahnung des Ökonomen Peter Weise, zum unverbindlichen "Stammtisch der Wissenschaftler" herabsinken darf.

Der große Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz hat das vor 300 Jahren mit seinem Anspruch "theoria cum praxi" ausgedrückt. Und so hat Leibniz nicht nur philosophische Studien betrieben und das Dualsystem sowie die Infinitesimalrechnung (eine Technik, um Differential- und Integralrechnung zu betreiben) entwickelt, sondern sich darüber hinaus mit konkreten Problemen wie der Konstruktion von Unterseebooten, der Verbesserung der Technik von Türschlössern sowie der Entwicklung von Geräten zur Messung der Windgeschwindigkeit befasst. Nebenbei hat er Witwen- und Waisenkassen gegründet, nach Beweisen für das Unbewusste des Menschen gesucht und Ärzten den Rat gegeben, ihren Patienten regelmäßig Fieber zu messen. Er hat hierbei seine verschiedenen Problemstellungen verschiedenartig - eben interdisziplinär - beleuchtet, wozu er als Kenner verschiedener Disziplinen in der Lage war.

Zur Entwicklung der Geisteswissenschaften

Die Geisteswissenschaften haben sich, vereinfacht dargestellt, aus den so genannten Artistenfakultäten entwickelt und dort besonders aus den ,artes liberales` wie Literatur, Grammatik, Sprachtheorie, Rhetorik, Geschichte und Logik (Humboldt'sche Neugliederung der Wissenschaften). Aus diesen Fächern hat sich im 19. Jahrhundert zunächst die klassische Philologie (unter dem allgemeinen Namen Philologie) formiert, aus der dann wiederum die anderen Philologien mit dem Gegenstand der unterschiedlichen Volkssprachen entstanden. Geschärft und popularisiert wurde der Begriff Geisteswissenschaften dann Ende des 19. Jahrhunderts durch Wilhelm Dilthey.

Diese Ausdifferenzierung, die alle Fächer betraf, brachte als positiven Aspekt eine fortschreitende Vertiefung im Sinne einer Spezialisierung mit sich, aber zugleich auch eine Vernachlässigung der großen Linien innerhalb eines Faches sowie den Verlust des Bewusstseins für die Verbindungen der Fächer hinsichtlich ihrer methodischen und thematischen Gemeinsamkeiten. Das Wissen um das Ganze und das Verstehen des Ganzen - also unsere Geschichte und unsere Kultur - kann nur als das Resultat der Summe aller Teile erworben werden.

Man kann sich beispielsweise mit der Erinnerungskultur beschäftigen, mit dem Phänomen der Zeit in vormodernen Kulturen, mit Fragen der Identitätenbildung oder dem Kulturtransfer im Mittelmeerraum. Alle diese Themen setzen die Möglichkeit und Notwendigkeit voraus, auf das Wissen zahlreicher Fächer zurückgreifen zu können. Es war die in den vergangenen Jahrzehnten weit verbreitete Geschichts- und Kulturvergessenheit, die dazu geführt hat, die Bedeutung des Gegenstandes der klassischen Philologie, nämlich die klassische Antike als Fundament und den (bewussten oder unbewussten) permanenten Bezugspunkt der westlichen Kulturen, zu vergessen oder gar in Abrede zu stellen.

Insbesondere durch den angelsächsischen Einfluss nach dem Zweiten Weltkrieg erweiterte sich der Bezugshorizont der Geisteswissenschaften in Richtung der so genannten Humanwissenschaften (humanities), und es kam zu einer Verbindung der traditionellen mit den neuen Gesellschaftswissenschaften. Zu dem alten Kern, bestehend vor allem aus der Historie und der Philologie, stießen zum einen nun Philosophie, Ethnologie sowie Literatur-, Kunst- und Rechtswissenschaften, zum anderen aber auch die Soziologie, Pädagogik, Politologie und Psychologie, die sich auch in empirischer Methodik übten. Damit wurde der Begriff der Geisteswissenschaft stark ausgeweitet, vielleicht sogar überdehnt, da die klassische geisteswissenschaftliche Definition der Deutung der vom menschlichen Geist hervorgebrachten Dinge zwar auf einen Teil der neuen Disziplinen zutraf, aber eben nur auf einen Teil. Hier scheint auch eine Doppelgesichtigkeit der Geisteswissenschaften auf (H. Grohmann). So haben die Geisteswissenschaften idiographische Ziele, die charakteristisch sind und die sie verfolgen können (Deutung der vom menschlichen Geist hervorgebrachten Dinge.). Der Versuch, es den Naturwissenschaften mit ihren nomothetischen Zielsetzungen möglichst uneingeschränkt gleichzutun, ist deshalb zum Scheitern verurteilt.

Aktuell ist den Geisteswissenschaften ein eigenes Jahr gewidmet, in dem sich zahlreiche Disziplinen darstellen. Es erscheint für unsere Zeit als symptomatisch, dass es zuvor jeweils ein eigenes Jahr der Physik (2000), der Lebenswissenschaften (2001), der Geowissenschaften (2002), der Chemie (2003), der Technik (2004) sowie das Einsteinjahr (2005) und das Informatikjahr (2006) gegeben hat. Die Geisteswissenschaften kommen also erst an 8. Stelle und dann in toto, nicht differenziert beispielsweise nach Philosophie, Geschichtswissenschaften und Sprachwissenschaften.

Zur Entwicklung der Naturwissenschaften

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich innerhalb der Naturwissenschaften nicht nur neue Wissensgebiete und Disziplinen, sondern es veränderte sich auch das Wissenschaftsverständnis insgesamt. Die Mathematik entwickelte neue Begrifflichkeiten, die nicht mehr durch Anschauung oder das klassische Verständnis von Quantität gedeckt waren.

In der Physik wurde das von Isaak Newton entwickelte mechanische Weltbild durch Albert Einstein und Max Planck abgelöst, und in der Biologie begann man, nach genetischen Grundlagen des Lebens zu fragen. Das Verständnis der kleinsten Teile sollte beantworten, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die großen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts hatten hier ihre Wurzeln mit der Folge einer neuen kulturellen Bedeutung der Naturwissenschaft. Hatte Galileo Galilei gefordert: Messen, was messbar ist, und was noch nicht messbar ist, messbar machen, so ging Max Planck einen Schritt weiter: Wirklich ist, was messbar ist: die Naturwissenschaften als die messenden Wissenschaften. Wirklich sollte nur das sein, was (naturwissenschaftlich-quantitativ) erfassbar ist, ja wahr schien nur das, was messbar und reproduktiv und damit beweisbar ist.

Indem jedoch - wie wir heute wissen - gerade hier die modernen Naturwissenschaften an ihre Grenzen stoßen, wird deutlich, dass der Begriff der Wahrheit problematisch, da vielschichtig ist. Karl Popper hat am Beispiel der Newton'schen Physik gezeigt, dass auch die scheinbar sichersten naturwissenschaftlichen Grundsätze widerlegt werden können. Dies hatte sinnigerweise schon Newton selbst erkannt und geschrieben: Sein und Wissen ist ein uferloses Meer. Je weiter wir vordringen, umso unermesslicher dehnt sich aus, was noch vor uns liegt; jeder Triumph des Wissens schließt hundert Bekenntnisse des Nichtwissens in sich.

Die Naturwissenschaften stellen sich heute als eine riesige Maschinerie zur Wissensgewinnung dar: mit einer gigantischen Armee von Forschern, einem enormen finanziellen Aufwand und einem unvorstellbaren Einsatz von Spitzentechnologie. Durch immer verfeinertere Geräte, Experimente und Techniken dringen sie in Bereiche der Realität vor, die zunächst einmal sehr weit von unserem Alltagsleben entfernt scheinen, für uns jedoch keineswegs unerheblich sind.

Will man die Welt und den Menschen verstehen, so muss man sich zwangsläufig mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften auseinandersetzen. Entscheidend ist dabei jedoch, aus der unendlichen Menge naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns das kulturell relevante und bedeutsame Wissen auszuwählen. Hierbei ist das Problem zu überwinden, dass im allgemeinen Verständnis (auch der meisten Naturwissenschaftler) die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse keine wesentliche kulturelle Bedeutung besitzen. Dieses Dilemma ist nicht neu, aber wenig beachtet, obwohl bereits der Physiker und Direktor der English Electric Company, Charles Percy Snow, 1959 in seinem Artikel Die zwei Kulturen darauf verwies. Dabei wird übersehen, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse zwar keinen eigenständigen Sinn haben mögen, dass ihre sinnvolle Nutzung jedoch eine kulturelle Leistung darstellt, die in unserer heutigen Gesellschaft einen ungeheueren Stellenwert einnimmt.

Zur Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaften

Wo verlief oder wo verläuft die klassische Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaften? Bei der Beantwortung dieser Frage können drei Ansatzpunkte in Betracht gezogen werden: der Gegenstand der Betrachtung, die Methodik im Sinne des Zugangs oder die Konsequenz, die aus der Beschäftigung mit einem Gegenstand gezogen wird.

Während die Betrachtung einzelner Gegenstände von Wissenschaft zur Herausbildung von Fächern bzw. Disziplinen führte, also beispielsweise der Geschichte (Vergangenheit), der Medizin (der kranke oder verletzte Mensch), der Biologie (Tiere und Pflanzen) oder der Theologie (Gott und der Mensch), hat der Ansatz der methodischen Herangehensweise die Einteilung der Wissenschaften in Naturwissenschaften (Außenperspektive, auf Beobachtung beruhend mit Beschreibung, Versuch und Beweis) und Geisteswissenschaften (Innenperspektive, auf Empathie beruhend mit Beschreibung und Interpretation) zur Folge. So galt die Naturwissenschaft als die beschreibende und erklärende Wissenschaft, während die Geisteswissenschaft als die verstehende und interpretierende Wissenschaft (Hermeneutik) definiert wurde. Interessant ist an dieser Stelle zu bemerken, dass im angelsächsischen Kulturkreis nur die Naturwissenschaften als science anerkannt sind, während die - im deutschen Sprachraum so bezeichneten - Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften als humanities firmieren.

Die Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung und Vorstandsvorsitzende der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin, Sigrid Weigel, weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Forderung nach einem Gegenpol zur einseitigen Orientierung an der Verwertbarkeit zwar durchaus berechtigt sei, jedoch werde damit zugleich das Bild der "zwei Kulturen" (Charles Percy Snow) wiederbelebt, das heißt die - falsche - Vorstellung einer Grenze zwischen (materiellem) Fortschritt durch Anwendbarkeit (Naturwissenschaft) und (immaterieller) Kulturpflege als Eigenwert (Geisteswissenschaft). Weigel: "So profitiert jede, auch noch so anwendungsferne Forschung (etwa in der Physik) von der Aura des Nutzens, die alle Naturwissenschaften umgibt. Auf der anderen Seite gerät dadurch das tatsächliche Potenzial geistes- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse aus dem Blick."

Dennoch taugen beide definitorischen Ansätze - Gegenstand und Methodik - letztlich nicht für die Markierung einer Grenze zwischen Geistes- und Naturwissenschaft.

Ein dritter Ansatz jedoch führt an dieser Stelle weiter: die Frage nach den Motiven oder Erkenntnisinteressen, die diese Wissenschaften zuallererst hervorgebracht hatten oder der Konsequenz, die aus der Beschäftigung mit einem Gegenstand gezogen wird. In der aktuellen Diskussion heißt es, dass die Natur- und Technikwissenschaften Verfügungswissen generieren (was mit dem Begriff Verstand markiert wird), während die Geisteswissenschaften danach Orientierungswissen bereitstellen (gekennzeichnet mit dem Begriff Vernunft). Das Ziel müsse es sein, Verstand und Vernunft in ein angemessenes Verhältnis zu bringen.

Während die Ergebnisse der Natur- und Technikwissenschaften (Verfügungswissen) das menschliche Leben zunächst lediglich erleichterten, haben sie es in den vergangenen 150 Jahren zugleich mit einer ungeheueren Geschwindigkeit derart dynamisiert, dass Orientierungs- und Organisationsstrukturen in immer kürzeren Zeitphasen relativiert wurden und werden. Damit haben sich die Naturwissenschaften nicht auseinandergesetzt. Orientierung und Ordnung war und ist nur noch für kleine Gruppen und kürzere Zeiträume organisierbar. Hier liegt die entscheidende Aufgabe der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften.

Vor diesem Hintergrund der rasanten Entwicklungen in den Naturwissenschaften hat der Germanist und ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie heutige Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, Wolfgang Frühwald, 1991 von den Geisteswissenschaften gefordert, "ihre Optik auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff aller menschlichen Arbeit und Lebensformen, auf die kulturelle Form der Welt, die Naturwissenschaften und sie selbst eingeschlossen" zu beziehen. Genau das ist die Aufgabe der Kulturanthropologie und der philosophischen Anthropologie, die in Deutschland Max Weber viel verdankt. Dieser verstand unter Kulturwissenschaften alle Disziplinen, die "die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten" und hat den Kulturwissenschaften so eine Orientierungsfunktion zugewiesen.

Schnittstellen (oder Überschneidungen) von Geistes- und Naturwissenschaften

Im Rahmen der diesjährigen Nobelpreisträgertagung in Lindau diskutierten die Gelehrten über die Beziehungen von Geistes- und Naturwissenschaften, und der Molekularbiologe und Vorsitzende des Europäischen Forschungsrates, Fotis Kafatos, formulierte: "Wir sind alle Entdecker, wir suchen alle nach der Wahrheit." Genau das ist das Problem, möchte man ihm zurufen!

Die Naturwissenschaften stellen - zumindest im eigenen Verständnis - mit ihrer kritisch-empirisch-rationalen Methode die Erkenntnis der natürlichen (im Sinne von Natur) Lebenswelt des Menschen in den Mittelpunkt - nach Aristoteles der Welt, die nicht von Menschen gemacht wurde. Wer demnach keine anderen Quellen von Erkenntnis im Sinn von Wissenschaft gelten lässt, für den gibt es zu den Naturwissenschaften keine Alternative - wahr ist, was beweisbar ist! Diese Deutung wird von dem Mittelalterphilologen und Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Peter Strohschneider, relativiert, indem er feststellt: "Im Gegensatz zur Natur sind die Naturwissenschaften ein Produkt der Kultur", weshalb auch der Abstand von Geistes- und Naturwissenschaften geringer sei als der von Natur und Naturwissenschaft. Da unbestritten ist, dass menschliches Handeln und Verhalten biologische Grundlagen haben, deren Ausprägung jedoch eine Kulturleistung ist, greifen an dieser Stelle Geistes- und Naturwissenschaften ineinander.

Zwar ist die Einteilung in Fächer bzw. Disziplinen weiterhin sinnvoll, doch muss dabei gesehen werden, dass jeder Gegenstand von wissenschaftlicher Betrachtung dynamisch und offen ist und es gerade an den Rändern (z.B. Soziobiologie, Biochemie, Anthropologie, Ökologie) Bewegung gibt. Grenzen sollten daher nicht als trennendes Ende verstanden werden, sondern als die Notwendigkeit der Fortsetzung, als verbindende Berührungspunkte, eben als Schnittstellen, die sich überall da aufdrängen, wo die Herausforderungen der Zukunft nicht mehr mit einem einzigen Modell bzw. einer einzigen Methode innerhalb einer einzelnen Disziplin zu lösen sind. Im "Gegenstand" Mensch werden die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu Überschneidungen, die zwar große Risiken bergen, aber auch enorme Chancen bieten. Einen vorbildlichen Ansatz hat hier das Anfang 2007 an der Universität Tübingen eröffnete Forum Scientiarium, das sich im Rahmen des ersten Studienkollegs mit dem Thema Biologische und kulturelle Grundlagen menschlichen Denkens beschäftigt. Auch die europäische Arbeitsgruppe Philosophische Anthropologie, die in Deutschland an der TU Dresden vertreten ist, leistet hier durch ihre jährlichen Kongresse wertvolle Arbeit.

Fazit

Für eine Gesellschaft ist es von grundlegender Bedeutung, kulturell relevantes Wissen zu erkennen und darüber einen Konsens herzustellen. Das klingt abstrakt, doch sind die Fragen, die Sigrid Weigel in diesem Zusammenhang stellt, mehr als konkret: "Was folgt aus der Entschlüsselung des genetischen Erbguts und wie verhält es sich zum kulturellen Erbe? Welche Folgen hat die Reproduktionsmedizin für Familienstrukturen, Generations- und Geschlechterverhältnisse?"

Es besteht Einigkeit darüber, dass die Biologie die Frage "Was ist der Mensch?" nicht in einem umfassenden Sinn beantworten kann. Sie kann seine Einzelteile (im Sinne von Bauteilen) definieren und deren Zusammenwirken erklären, mehr jedoch nicht. Was ist der Mensch? Das ist die aktuelle Grundfrage unserer Kultur, von deren Beantwortung die Art des künftigen Umfeldes eines jeden Menschen abhängt - und das eben insbesondere vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisexplosion.

Die moderne Wissenschaft erklärt den heutigen Menschen zum homo sapiens sapiens: zum verstandes- und vernunftbegabten Wesen. Auf diese umfassende Begabung wird es ankommen, wenn es gilt, die Lebensumstände der Menschheit - wie auch des einzelnen Menschen - zu bestimmen. Einfacher formuliert: Während die Frage, welche Erkenntnisse helfen, Krankheiten zu heilen, von den Naturwissenschaften beantwortet wird, reicht zur Beantwortung der viel wichtigeren Frage Welche Medizin für wen? die naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht aus. Hier sind kulturwissenschaftliche Leistungen gefordert. Wer also die Frage nach dem Nutzen der Geisteswissenschaften stellt, der stellt zugleich auch die Frage nach dem Nutzen des Menschen. Odo Marquard hat dies Mitte der 1980er Jahre so formuliert: "Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften." Und Detlev Ganten resümierte 2003, dass sich "die Naturwissenschaften aufgrund der Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts immer stärker auf die elementaren Fragen von Leben und Materie und Zeit und Raum fokussieren. Damit kommen wir in Bereiche, in denen die Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Philosophie noch weniger zu trennen sind als in der Vergangenheit."

Das fortschreitende Verständnis neurobiologischer Prozesse des Denkens, Fühlens und Handels fordert so beispielsweise nicht nur die jüdisch-christliche Auffassung heraus, wonach der Mensch als Geschöpf Gottes zur Freiheit gegenüber sich selbst und seinen Mitmenschen geschaffen ist, sondern auch die Grundlagen der Aufklärung.

Bundesforschungsministerin Annette Schavan hat vor diesem Hintergrund Ende 2005 im Deutschen Bundestag festgestellt: "Deshalb werden die ethischen Fragen etwa in den Biowissenschaften uns in den kommenden Jahren immer wieder vor schwierige Abwägungen stellen. Verantwortungsbewusste Güterabwägung in einer solchen Situation geschieht immer in einem kulturellen Kontext, der zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft gehört."

In der modernen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Menschen leuchten daher ebenso die Grenzen wie die Schnittstellen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften auf. Überspitzt formuliert erforschen Naturwissenschaften den Menschen aus der Perspektive von außen als Sache, die Geisteswissenschaften jedoch aus der Perspektive von innen als Person (A. Neschke). Die Trennung von Sache und Person ist für den europäischen Kulturraum fundamental, und bisher wurde diese Trennung von den Natur- und Geisteswissenschaften als konstitutiv respektiert. In jüngerer Zeit dehnen die Naturwissenschaften, animiert etwa durch ihre Erfolge im Rahmen der Hirnforschung, jedoch ihre Grenzen immer weiter auf das traditionelle Gebiet der Geisteswissenschaften aus. Sie tun dies, indem sie die persönliche Form des Menschen zu einer neuronal funktionierenden Sache erklären.

Ob dem Versuch geisteswissenschaftlicher Zweige, auf das Territorium der Naturwissenschaften vorzudringen, in der Absicht, die evolutionsbiologischen Hintergründe der Genese der sächlichen Form des Menschen nicht naturwissenschaftlich erklären zu wollen, ähnliche Bedeutung zukommt, soll hier offen bleiben. In jedem Fall werden die Schnittstellen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zur Überschneidung. Die gleiche Referenz - der Mensch - wird verschieden interpretiert, die Interpretationen kollidieren.

So ist die heutige Situation einerseits dadurch geprägt, dass Schnittstellen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften positiv wahrgenommen, gemeinsam analysiert und für beide Seiten gewinnbringend genutzt werden. Es muss aber andererseits auch konstatiert werden, dass an der bisherigen Koexistenz von Geistes- und Naturwissenschaften in Bereichen, die den Menschen betreffen, Konfliktlagen entstanden sind. Diese erfordern notwendigerweise das interdisziplinäre Gespräch mit der Verpflichtung des gegenseitigen Anhörens, Verstehens und Korrigierens. Dieser notwendige Dialog dient letztendlich dem Urauftrag aller Wissenschaften, nämlich der Befriedigung des fundamentalen Interesses der Menschen an Erkenntnis.

PD, Dr. phil. habil., geb. 1965; Generalsekretär der Leibniz-Gemeinschaft, Eduard-Pflüger-Str. 55, 53113 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: klein@leibniz-gemeinschaft.de

Prof. Dr. rer. nat., Dr. med.h.c., geb. 1941; Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V., Berlin-Büro, Schützenstr. 6, 10117 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: rietschel@leibniz-gemeinschaft.de